Rituale der Finsternis
#1
Mit bleichem Gesicht sah die Gestalt sich um, den Blick über die erstaunlich nahe liegenden Bäume gleiten lassend. Die Nacht hatte bereits vor einigen Stunden ihren Tribut verlangt, und nur die blasse, schmale Silbersichel des Mondes entsandte etwas wie Licht durch die verzweigten Äste der fast kahlen Bäume. Fast windstill war es, und doch schienen die Mysterien der Existenz durch die Pflanzen und selbst durch den Boden zu fliegen auf der Suche nach forschenden Wesen, denen sie sich anvertrauen konnten. Für tausende andere Wesen die die Kontinente bevölkerten war dies sicherlich eine Nacht wie jede andere, kalt, zugig und immer noch durch den Winter gezeichnet, doch die Gestalt verspürte dieses besondere Prickeln, dieses Ziehen im Bauch, das ihr sagte dass etwas besonderes geschehen würde... oder bereits geschah.
Es war wie mit allen Wundern, Rätseln und Mysterien, niemand konnte wissen wann sie eintraten und ob sie eintreten würden, und niemand konnte wirklich sagen ob er jene nun bemerkt hatte oder nicht. Nicht alles, so hatte die Gestalt gelernt, war für das Auge oder für den Verstand sichtbar, aber trotzdem konnte es geschehen. Es war wie mit der Zeit, sie war da, aber konnte jemand sie bewusst verfolgen, spüren, zählen? Eine kurze Zeit lang ja, doch dann würde der Verstand abschweifen, verschwimmen, sich verschätzen. Wie eine Feuerstelle, die selbst dann noch glühte wenn man es nicht mehr sah, schwangen die Strömungen der Mysterien nach, ob sie nun bemerkt wurden oder nicht.

Das Ritual war keine einfache Angelegenheit. Drei Dinge waren dafür nötig - Etwas vom Tod, etwas von der Bedeckung und etwas vom Inneren. Das Innere hatte die Gestalt bereits vor einiger Zeit besorgt, Speichel der nun einem weiteren Zweck zugeführt wurde, und vom Tod und von der Bedeckung hatte sie Gebrauch gemacht, indem sie tagsüber in die Hütte eingebrochen war, und Stücke aus den Bettfellen und Laken geschnitten hatte. Sex, so hieß es, war der kleine Tod, aber Tod war Tod und vor den Göttern das Gleiche.
Dank des Speichels würde es nicht möglich sein, Seine Träume von Ihren Träumen zu trennen, es waren entweder beide oder keiner, aber solch kleine Stolpersteine waren nichts was die Gestalt aufhalten würde.

Mit einem leisen Summen, gemischt mit den Anrufungen der Götter und einer Melodie, die der Energie der Lichtung am ehesten zu entsprechen schien, zog die schwarz gekleidete Gestalt einen Kreis in das frische, junge Erdreich, und strich mit der Hand bedächtig über das Gras in dessen Innerem. Das Summen, die Melodie war unnötig, ein Beiwerk mit dem sie ihre Nerven und Gedanken an die Kandare nehmen konnte, aber nach so vielen Jahren des Magiewebens war es in Fleisch und Blut übergegangen und keine zusätzliche Konzentration wert. Mit leisem, zischelndem Knistern färbten die Halme sich schwarz und zerfielen nach einiger Zeit zu Asche, während an der Hand nur kleine Brandblasen zurück blieben, und geckernde Schatten um die Gestalt zu tanzen begannen. Sie waren nicht erwünscht, jene Kreaturen, aber auch nicht zu entfernen, nicht durch ihren Auslöser, nicht nach soviel verwendeter Kraft.
Statt sich mit den lockenden, tänzelnden Schatten herum zu plagen, legte die Gestalt die notwendigen Waren auf und kniete sich in den Kreis. Ein wenig Feuerholz, eine Schüssel, geschlagen aus Bronze und verziert mit den Einundzwanzig, eine Handvoll feuchter, matschiger Molchaugen, ein gebogener, gravierter Ritualdolch, eine kleine, beschlagene Holzkiste und drei schwarze Bänder fanden Platz in dem Kreis und wurden liebevoll zurecht gerückt.
Der nächste Teil würde einiges an Kraft, Konzentration und Wille benötigen, aber diese Dinge hatte die Gestalt zur Genüge über die Jahre gesammelt. Wichtiger war jedoch die Entscheidung, welchen Traum die zwei Opfer erhalten sollten. Etwas zu Offensichtliches erschien plump und roh, es musste also etwas mit subtiler Bedeutung sein.
Ah.. Ja. Das könnte funktionieren.

Blut, das Blut eines Lamms, füllte die Schüssel leise blubbernd, zusammen mit drei Runensteinen, dem Stück Stoff und den Molchaugen. Das Feuerholz wurde entzündet, der Inhalt der Schüssel erhitzt bis er kochte, und durchgehend murmelte die Gestalt mit leisem Grollen die Worte der Anrufung. “Midir, deinen Namen rufe ich! Dich zu rühmen, deinen Segen auf die Irdische zu tragen, für jenes harre ich auf Knien. Herr des Windes, lass mich Anteil nehmen an deiner Macht, und trage auf deinem Wind die Bilder dieser Nacht!”
Dreimal rührte die Gestalt die blutige, finstere Brühe im Uhrzeigersinn, fünfmal jedoch gegen den Uhrzeigersinn, die Anrufung wieder und wieder gegen die platzenden Blasen des kochenden Blutes raunend während ihr Geist sich auf die Bilder des Traumes konzentrierte, den jene Zwei erhalten sollten. Erst als das letzte Molchauge sich in Wohlgefallen - oder eher schleimige, blutige Paste - auflöste, stellte die Gestalt das Murmeln und Rühren ein, und zog die kleine Holzkiste heran.
Den Ritualdolch heran nehmend zog die Gestalt mit narbiger, bleicher Hand die Schneide durch die Blutpaste und klappte mit der anderen Hand die Kiste auf. Wahre Namen. Wahre Namen waren eine schwierige Sache, sie waren erst wahr wenn die Aussprache, der Gedanke, die Betonung korrekt waren. Eine andere Person hätte vermutlich Schwierigkeiten mit der Aussprache gehabt, selbst Galatier anderer Inseln hatten oft Probleme mit den Namen der Ialo’teromer, aber nicht die Gestalt. Sie hatte geübt, lange und viel geübt. “Anouk Ó Muireann” wisperte sie, und ritzte die Keilschriftzeichen in den Boden der Kiste. “Kordian” wisperte die Gestalt dann, aber seinen Namen ritzte sie in Amhraner Schriftzeichen, passend zu seiner Herkunft, passend zu seiner Sprache und dem Klang seines Namens.
Die Oberlippe zuckte, und es war schwer, Zorn von Hass und Freude zu trennen in dieser Miene.
Ein letzter Schritt.
Mit leisem Summen, einmal mehr zu einer Melodie geformt, das zu der veränderten Energie der Lichtung passte, füllte die Gestalt das inzwischen nur noch heiße, nicht mehr kochende Blutgemisch in die Kiste, und verschloss sie. zwei der schwarzen Stoffbänder wurden über die Schmalseite gebunden, links und rechts vom Verschluss, das dritte Band über die Breitseite, einmal rundherum, als Abschluss. Leise summend und singend grub die Gestalt ein Loch in das Erdreich, schob die Kiste in dieses, und bedeckte sie mit äschernem Gras und frischer, junger Frühjahrserde. Es war vollbracht.
Träumt mit mir heut Nacht.
You and I, we may look the same
But we are very far apart
There's bullet holes where my compassion used to be
and there is violence in my heart
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Rituale der Finsternis - von Vertigo - 04.05.2015, 18:24
RE: Rituale der Finsternis - von Vertigo - 23.10.2015, 15:16



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