Zwei Leben
#53

Erde, wie du lebest und grünst!
Hast das Grab der Liebe umsponnen
Lustig mit Blumen bunt, mit grünen Gräsern,
Webest Moos um die Steine.

Aber, Tränen, fließet darauf;
Denn den Schläfer drinnen erquicket
Nimmer der Blumen Duft, er hört nicht das Lüftchen,
Das sein Lager umsäuselt.

Weine nicht! es wandelt der Mond
Mit den stillen Sternen vorüber,
Glänzt auf das goldne Moos, die tauenden Gräser,
Die den Hügel begrünen.

Weine laut! die Nachtigall schlägt,
Und die Mücken wimmern so traurig
Totengesang darein, es hüllet die Wolke,
Schon den Mond und die Sterne.

~ Ernst Moritz Arndt, 1801


“Es ist gut, dass Eoghan tot ist.”

Die Stimme des Jungen war leise, dennoch deutlich, zu klar, als dass es nur eine Einbildung hätte sein können. Lionel stand steif am Ende der Grabstätte seines Bruders und hob zögernd den Kopf. Seine blaugrauen Augen, die denen des Vaters so sehr ähnelten, suchten unsicher nach dem Blick der Mutter. Cahira hatte einen ersten Impuls mühsam unterdrückt und ihre schwieligen Hände an ihren Oberschenkeln zu Fäusten geballt, um ihrem Sohn vor Schreck ob dieses Ausspruches nicht grob an die Schultern zu packen und war dann äußerlich wie erstarrt, während in ihrem Inneren die Gedanken nur so umher schwirrten wie Wespen, deren Nest man gerade mit einem Stockhieb traktiert hatte.

Es war ihr zunächst merkwürdig vorgekommen, dass Lionel darum gebeten hatte, sie zu ihrem wöchentlichen Gang zum Grab seines Bruder begleiten zu dürfen. In der Regel ging sie alleine in den heiligen Hain, um dort ihren Gedanken und ihrer Trauer, nur unter den Augen der Götter, ihren Lauf zu lassen. Dennoch sah sie keinen Grund, Lionel die Begleitung zu versagen. Er und auch seine kleine Schwester hatten sehr wohl mitbekommen, was passiert war. Während sich Brynja wohl später nur dunkel an ihren toten Bruder und die Monate der anschließenden Gram erinnern würde können, waren sie für Lionel hingegen ein deutlicher Einschnitt in seinem Leben gewesen obwohl er nicht zum ersten Mal erfahren hatte, was Verlust bedeutete. Es hatte bereits genügend liebgewonnene Gesichter im Laufe seiner wenigen Jahre gegegeben, die er wohl nicht mehr so schnell oder niemals wiedersehen würde; angefangen von seinem geliebten Großvater Séan auf Svesur und der ganzen Sippe, Aidan, Querida oder Cyril …

Cahira ist auch nicht entgangen, dass der Junge sich verändert hatte. Er war ernster, stiller geworden und blieb lieber mit sich, als beispielsweise mit seinen einstigen Kameraden auf den Straßen zu spielen, wenn Cahira ihn nach Rabenstein mitnahm. Sie hatte ihn nach dem Grund gefragt und er hatte ausweichend geantwortet: “Ich kann die nicht mehr leiden.” In ein paar Tagen hätten sich die Freunde sicher wieder zusammen gerauft und dies war nur eine Marotte unter Jugendlichen. Aber Cahira sollte sich geirrt haben. Lionel verzog sich mit einem Buch in eine Ecke der Schreibstube oder spielte mit seinem Wolfshund Madadh, bis er gar nicht mehr in die Ortschaft mitkommen wollte und auf dem Hof blieb.

Im vergangenen Nebelung war ihr erstgeborener Sohn acht Jahre alt geworden und Cahira fragte sich, ob diese Veränderungen damit einherging, dass er nun langsam zum jungen Mann heran wuchs. Auf Svesur zumindest hätten Buben in seinem Alter schon längst mit ihrer Ausbildung begonnen und wären in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten. Im Grunde genommen befand sich auch Lionel in einer Art Ausbildung bei seinem Vater und dass jene nur unter dem vollkommen Mantel der Verschwiegenheit passieren durfte, schien nicht nur Cahira zu quälen. Lionel war nach den Lektionen nicht selten aufgebracht, was er und auch sein Lehrmeister vor ihr zu verbergen versuchten, aber einer Mutter konnte man nichts vormachen. Vielleicht war die ganze Last seiner Gabe und der damit verbundenen Geheimnistuerei einfach zu schwer für seine noch immer schmalen Schultern, aber Kyron hätte kein Verständnis dafür, seine Lehre zu unter - oder gar abzubrechen und Cahira gab ihrem Ehemann in dieser Unterhaltung, die sie nie geführt hatten, Recht. Der Junge musste seine Kräfte zu beherrschen wissen sonst könnte womöglich ein größeres Unglück geschehen als die leidige Schwermut, ein Geheimnis mit sich herumtragen zu müssen.

“Du bist mir doch nicht böse, oder?”
Der Junge biss sich wie reumütig auf die Unterlippe und starrte seiner Mutter entgegen. Ohne nachzudenken, schüttelte Cahira ihren braunen Lockenkopf, doch es war eher eine verwirrte, verzweifelte Geste statt die stumme Antwort auf die bange Frage ihres Sohnes.
“Warum .... warum sagst du so etwas, Lionel? Ich ... verstehe es nicht und ich kann kaum glauben, dass du das ernst meinst.”
Die Worte klangen in ihren Ohren so fern wie von jemand anderen gesprochen und ob sie wollte oder nicht, sie spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Ihr zweiter Sohn war tot und lag unter der Erde und ihr Erstgeborener wühlte mit seinen Worten die längst nicht verheilten Wunden auf, die dieser Verlust bei der Mutter verursacht hatte. Die große, lähmende Trauer war zwar vorüber und Cahira hatte wieder zu einem geregeltem Tagwerk und dank ihrer Familie auch ihrem Lachen gefunden - was vielleicht auch daran lag, dass sie selten über Eoghan und die Nacht seiner Totgeburt sprach, vor allem nie mit Kyron - doch ihr Wesen war seitdem von einem Schleier dauerhafter Melancholie geprägt; ihr Herz unheilbar vernarbt.

Im kommenden Wandelmond jährte sich der Schreckenstag und umso näher dieser rückte, je unwohler wurde Cahira zumute. Es war natürlich vollkommen unsinnig, aber es fühlte sich so an, als ob sich am Horizont die Wolken türmten und ein Unwetter ankündigten - ein eigenartig fröstelndes Gefühl in den Knochen, ein dumpfes Grollen in der Magengegend. Und war das Auftauchen von Tarol nicht ein schlechte Omen, welches diese Vorhersage bestätigte? Tarol, den sie tot und in Guldenach zurück gelassen geglaubt hatte. Tarol, der sich auf seine eigene verzerrte Art und Weise als Ersatzvater Mendozas sah. Tarol, der sich mit brachialer Gewalt nahm, was ihm beliebte.

Lionel wand sich, sein blasses Gesicht nun ebenso verzerrt.  
“Dann wäre er so wie ich und Athair geworden und das hätte ich nicht gewollt!”, brach es schlussendlich aus dem Jungen heraus, die unterdrückte Qual der vergangenen Zeit brach sich stürmend Bahn. Die helle Knabenstimme prallte an der Felswand des Tales ab und wurde dann von den uralten Bäumen der heiligen Stätte verschlungen.
“Ich will keine Ziegen mehr töten, ich will nicht mehr so sein wie ich bin. Ich wünschte, ich wäre so tot wie Eoghan!” Und er brach vollends zusammen, während er in Tränen zerfloss.
Jetzt unterdrückte Cahira ihren Impuls nicht und war nach einem Schritt auf ihren Knien, um den Jungen an sich zu drücken, ihr Umhang rutschte bei diesen jähen Bewegungen zu Boden. Lionel schlang seine Arme um sie wie ein Ertrinkender sein rettendes Stück Holz, die Hände auf ihrem Rücken …

Der Schmerz kam eher überraschend als heftig. Sie biss sich auf die Zunge und presste die Augen zusammen, um vor Schreck nicht aufzuschreien und drückte den zitternden Leib des Jungen fester an sich. Doch es hätte wohl die Welt um sie herum untergehen können, Lionel hätte nichts bemerkt, so wie er auch nicht merkte, dass das Feuer seiner Hände Wams, Hemd, Leibwäsche und schließlich das blanke Fleisch seiner Mutter in ungehemmter Rage verbrannte. Auch um sich selber von dieser zwar verkraftbaren, dennoch flackernden Pein abzulenken, redete sie auf ihn ein, versuchte ihn zu beruhigen: Alles würde gut werden, Vater und Mutter würden sich um ihn kümmern und er bräuchte keine Angst zu haben, ganz gleich, wer oder was er war, sie würden eine Lösung finden, nur solle er nur nie wieder diese Worte gebrauchen, er war ihr Junge, sie würde ihn beschützen …

Es scheinen endlose Stunden vergangen, seitdem sie das heilige Tal passiert hatten, endlose Stunden in denen Cahira Lionel immer wieder dieselben Worte zumurmelte, die ihn irgendwann einlullten und ruhiger werden ließen, sein Körper schwer in ihren Armen, der Schmerz auf ihrem Rücken ein helles Pochen. Innerlich tobte ein Sturm in ihrem Herzen, denn sie wusste im Grunde genommen nicht wirklich, was nun zu tun war. Mit Kyron sprechen, der in seinen eigenen Treueschwüren gegenüber der Vergangenheit wie eine Fliege im Netz der Spinne gefangen war und seine eigenen Probleme auszufechten hatte? Darauf hoffen, dass dies nur ein Gefühlserregung jugendlichen Gemütes war, so schnell vergessen wie jede Beule oder Kratzer beim Bolzen? Auf die weiteren Lektionen der Lehre vertrauen, mit deren Fortschreiten Lionel seine ungezähmten Gefühle sicher unter Kontrolle bringen würde?

Als auch die letzte Träne verronnen war und Lionel einen gefestigteren Eindruck machte, schlugen sie schließlich langsam den Heimweg ein. Es war mittlerweile kalt und ungemütlich geworden. Die Äste der uralten Bäume schienen in den länger werdenden Schatten nach ihnen zu greifen. Cahira verbarg die zerfetzte Kleidung und Haut fröstelnd unter dem Umhang, welchen sie vom Boden aufgelesen hatte. Nachdem Lionel sich das Gesicht gewaschen und fürs Abendbrot zurecht gemacht hatte, schien der Ausbruch überstanden. Doch was war, wenn es wieder passieren würde, dann in Gegenwart von Brynja oder anderen Personen, die sich recht schnell zusammenreimen würden, was er war - von den Wunden, die er hinterlassen würde, ganz abgesehen. Zwar hatte sie als Soldat der Klinge schon bedrohlichere Wunden von Einsätzen davon getragen und im Nachhinein stellten sich die Verbrennungen als nicht ganz so schlimm heraus wie anfangs gedacht; das Verstörende daran war eher, wie es passiert war und wer ihr diese Wunden unter welchen Umständen zugefügt hatte. Die Mutter fühlte sich hilflos überfordert, lädiert an Körper und Geist. Sie lag die Nacht noch lange wach - wirre Gedanken, Befürchtungen und Zukunftsängste sowie das Ungemach der Verbrennungen hielten den Schlaf fern.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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