Zwei Leben
#52
Cahira stand am Pier in Rabenstein, eine Hand verbissen um das grobe Hadern gekrampft, welches Torte und Gebäck vor den Unbillen des Wetters schützen sollte. Sie beobachtete mit wachsendem Unbehagen das Treiben an der Anlegestelle. Sie hatte galatisches Blut in den Adern, das Blut von wagemutigen Seefahrern und vermeintlichen Piraten, doch sobald sie auch nur einen Fuß auf ein Boot setzte, stülpte sich ihr Inneres nach Außen. Sich die trockenen Lippen leckend, überschlug sie die Zeit, welche sie benötigen würde, um zum Hof zurückzukehren, Kalvas aufzusatteln und den Weg nach Hohenquell auf dem Rücken ihres treuen Tieres hinter sich zu bringen. Aufseufzend kam sie zum Schluß, dass es dafür zu spät war und sie es niemals rechtzeitig zum Termin mit der Verwaltung von Hohenquell schaffen würde, auch wenn sie ihr Pferd zu Hochleistungen antreiben würde.

In Vorbereitung eines sicheren Malheurs wenn sich ihr Mageninhalt aufs Deck ergoss, hatte sie einerseits den Tag über nicht viel zu sich genommen, andererseits eine Reisekleidung gewählt, die offiziell genug wirkte für diese Stippvisitie ins Partnerland des Drachenthals, aber dennoch recht pflegeleicht war. Über der eingetragenen Lederkluft hatte sie einen dicken Überwurf mit dem Ravinsthaler Emblem gezogen und auf den neuen Mantel, den ihr Mann aus Löwenstein mitgebracht hatte, bewusst verzichtet. Doch das grelle Rot ihrer Aufmachung zog das Interesse der am Hafen herumlungernden Tagediebe an und Cahira kam sich dank der feixenden Blicke und Gesten der wilden Männer und Frauen einmal mehr wie ein fein geschnürtes, nicht abgeholtes Paket vor. Wenn doch nur Kyron endlich auftauchen würde ...

Denn nicht nur die bevorstehende Überfahrt verursachte ihr Besorgnis: Auch das bisherige Fernbleiben ihrer Begleitung ließ ihre Gedanken kreiseln. Kyron war recht verlässlich, was Verabredungen angig; es musste wohl etwas dazwischen gekommen sein. Die gedankliche Beschäftigung damit, was dieses “Etwas” wohl sein mochte, brachte keineswegs Ruhe in Leib und Kopf der braungelockten jungen Frau. Eher zupften ihre strapazierten Sinne an einer mit der Zeit verrosteten Seite, dessen Misston der Warnung sie schon eine geraume Weile nicht gehört oder bewusst unterdrückt hatte - das letzte Mal wohl, als Dureth noch seine Kreise zog. Früher, in Guldenach, gehörte dieses Lied zu ihrem Alltag dazu wie der Fluchtinstinkt einer Beute vor dem Jäger.

Während sie sich umblickte, sehnsüchtig gen Ortschaft spähte, ob die bekannte, rauchumwölkte Gestalt des Leutnants denn endlich durch die Tore Richtung Pier schreiten würde, wünschte sie sich jeh den Morgen zurück, als sie nach einer gemeinsam verbrachten Nacht mit dem ersten Hahnenschrei aufgewacht waren. Der Traum vom jungen Paar mit dem Knaben im Arm war jene Nacht ausgeblieben und sie war weder herzklopfend und schweißgetränkt aufgewacht, noch klang jene Stimme in ihrem Ohr nach, welche ihr aus dem Hintergrund stets zu säuselte, wenn sie sich dem Trio im Traum nähren wollte: “Kannst Du wirklich so grausam sein?” Cahira hätte den ganzen Tag im Bett verbringen können, an den Rücken ihres Mannes geschmiegt, in wohlig warme Laken gehüllt, die Welt und sonstige Pflichten schlicht vernachlässigend.

Der Herzog hatte ihr das Amt der kommissarischen Statthalterin übergeben - oder eher aufgebürdet - und ihr damit die Aufgabe übertragen, Rabenstein wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Sie hatte zwar den Lehnsritter und den Freiherrn von Thalweide an einen Tisch bekommen, um gemeinsam zu beratschlagen, wie es mit der Ortschaft und deren Bewohnern wieder aufwärts gehen könnte, aber es war eine mühsame, langwierige Angelegenheit. Cahira hatte zudem immer das Gefühl, zu wenig zu tun, zu wenig zu diesem erhofften Aufschwung beizusteuern und trug dieses Schuldgefühl ständig mit sich herum, ganz gleich, wie lang und entsagungsvoll der vergangene Tag mit Arbeit in der Verwaltung oder dem Hof auch gefüllt gewesen sein mochte.

Aber das Land war nach dem Krieg wie ausgestorben - ob es nun die Opfer des Krieges waren oder sich die Menschen mehr zurückgezogen hatten, um sich nach den entbehrungsreichen Kämpfen um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, die zu lange brach gelegen hatte, konnte Cahira nicht sagen, aber allerorts bemerkte man den Schwund und manche Fälle, wie zum Beispiel dem Verschwinden von Magda, ihrer Freundin und Vertrauten seitdem sie einen Fuß ins Eisenthal gesetzt hatte, oder Vatin Gwendolyn, Hebamme ihrer Tochter Brynja, waren besonders bitter und machten die gesamte Problematik nicht gerade einfacher.

Dann war da die Sache mit Freya. Sie wusste, dass sie das irgendwie in Ordnung bringen musste. Es war immerhin ihre Schuld, ihr Drängen nach einer klaren Linie, ihr Wunsch, die Klinge als sichtbare Einheit mit dem alten Abzeichen am Revers zu sehen, welcher den Schlamassel ausgelöst hatte. Sie hatte gewusst, welche Bedenken der Leutnant gehabt hatte und trotzdem hatte sie die umtriebige junge Frau bereits als fünftes Mitglied der Vereinigung gesehen … aber dass Freya dann nach einem relativ kurzen Wortwechsel den Ravinsthaler Wappenrock auf die Erde geworfen und aus dem Haus gestürmt war, hatte sie nicht vorausahnen können. Früher, in Guldenach, hätte Kyron die widerspenstige Gardistin wohl eigenhändig auf den Hof geschleift für diese Missetat …

Nachdem ihre Gedanken nun schon zum zweiten Mal bei alten Zeiten in der geliebten Hauptstadt Silendirs hängen geblieben waren, raffte sie sich zusammen und spähte das letzte Mal gen Rabenstein. Wenn sie noch länger hier verharren würde, würden die Strauchdiebe wohl genügend Mut gefasst haben, um frech zu werden und die Tortencreme hätte vollends ihre Form verloren, ganz zu schweigen davon, dass sie zu spät zu ihrem Termin kommen würde, weil sie eventuell die verhasste Fähre verpasst hatte. In der Zwischenzeit hatte eine andere Fähre Richtung Löwenstein abgelegt und ihr Knecht, den sie gerade eingestellt hatte, damit jener ihr auf dem Eichenhof zur Hand gehen konnte, war frohgemut aufgesprungen. Eine neue Taverne hatte ihre Pforten geöffnet und Cahira speiste die allmählich in ihrem Inneren anschwellende Angstmelodie mit den Ausflüchten, dass ihr Ehemann sicher zu den Gästen gehören und die Zeit über die Geselligkeit verloren hatte.

Mit weichen Knien, durchgefroren ob der Warterei, bestieg sie letztendlich das kleine Boot gen Hohenquell und versuchte nicht auf das durchweg amüsierte Funkeln in den Augen des Skipper zu achten, der ihr bereits den Spucknapf reichte. Dankenswerterweise hatte er dessen undeutbaren Inhalt mit einem raschen Schlenker des Handgelenks über die Reeling gekippt. Bei dem blubbernden Geräusch der Enten und Fische, die hier einen feisten Happen erwarteten und sofort angeschossen kamen, stieg der jungen Frau bereits die Galle hoch, obwohl sie noch nicht einmal abgelegt hatten. Cahira ergab sich also ihrem Schicksal, hielt den Napf in Armweite und jedes weitere Aufstossen verdängte mehr und mehr den Gedanken, dass ihr Ehemann eigentlich nicht zu der geselligen Sorte Mensch gehörte ...
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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