Zwei Leben
#37
“Das Weinfest fiel aber mager aus, hm?”

Die Stimme klang heiter, milde tadelnd. Und Cahira lachte leise, zustimmend auf.

“In der Tat. Auf Svesur hätten wir getanzt und getrunken bis zum Morgengrauen. Aber dort sind auch nicht die Indharimer eingefallen.”  

Nach einem kurzen Moment, in dem nur das leise Geräusch ihres Messers auf dem Schneidbrett, das blubbernde Köcheln des Gebräus auf dem Herd samt dem Knacken der Holzscheite, welche das Feuer darunter verzehrte, zu hören waren, fügte die junge Frau ohne sich umzudrehen an: “Gerade zu den Feiertagen vermisse ich meine Familie. Vermisse ich Dich. Wissen die Götter, warum.”

Mittagszeit. Brynja und Lionel dösten in der Schlafkammer und Cahira hantierte in der Küche, um die heutige Mahlzeit für die Flüchtlinge und Tagelöhner zu bereiten. Eigentlich waren die Kinder, zumindest der Junge, über die Zeiten des Mittagsschlafs hinaus, aber gerade heute Morgen hatte ein übereifriger Hahn den Tag besonders früh begonnen und die junge Frau war alarmiert, mit wirren Gedanken von Die Indharimer kommen! bis Die Wölfe plündern wieder in den Ställen! aufgerumpelt und in die klamme Morgenluft gestolpert. Falscher Alarm. Aber an Schlaf war für die Familie danach nicht mehr zu denken.

Am liebsten hätte sich auch Cahira hingelegt, aber für Müssiggang hatte sie keine Zeit. Es war somit nur ihrer tranigen Schläfrigkeit zu verdanken, dass der Mann sich in ihre Gedanken stehlen konnte. Obwohl sie zugeben musste, dass sie oft an ihn dachte; öfter, als ihr lieb gewesen wäre, aber gesprochen hatte sie mit ihm eigentlich noch nie. Immerhin war er ihr Freund gewesen. Mehr noch als das: Lebensretter, Kamerad, Vertrauter, Verlobter … Bevor sie jedenfalls erfahren hatte, dass er ein größenwahnsinniger Hexer war und sie nach seinem vermeintlichen Tod nach Amhran gereist war, um nach ihrem Ehemann und den Überbleibseln der Klinge zu suchen.

Cahira konnte sich das Bild, wie Aidan gerade hinter ihr auf der Bank sass, deutlich ausmalen: die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, das rotblonde Haar wie stets immer etwas unordentlich verstrubbelt, der Blick aus seinen hellen Augen klar wie Wasser, das Lächeln jungenhaft, Wams und Hose einfach, doch hervorragend geschneidert. Dies war nicht der Mann, der ihr über drei Jahre hinweg ziemlich erfolgreich alles genommen hatte, was ihr zuvor lieb und teuer gewesen war. Dies war der Mann, der sie gerettet hatte und mit dem sie über alles hatte reden können.

Oben rumorte es und nicht viel später ging die Klappe zur Schlafkammer auf und Lionel kletterte die Leiter hinab. “Bin nicht mehr müde”, murmelte der Kleine, zog einmal die Nase empor und steckte seine Hemd in die Hose. Cahira ließ von ihrem Gemüse ab, wischte sich die Hände an der Schürze und trat zu dem Jungen, um über sein vom Schlaf zerrauftes Haar zu streichen. Er ließ die Liebkosung der Mutter mit einem widerwilligen Schmunzeln zu. “Darf ich mit meiner Schleuder üben?”

Sie zögerte. Seit dem die Invasoren auch in Ravinsthal gesichtet worden waren, keinen Stundenlauf Fußmarsch vom Hof entfernt, hatte sie die Kinder wie eine Henne ihre Küken unter ihre Fittiche gehalten. Dermassen erdrückend, dass es zwischen Mutter und Sohn zum ersten, ernsthaften Streit gekommen war - Brynja war noch zu klein, um wirklich zu verstehen, was da vor sich ging oder sich über die Überfürsorglichkeit der Mutter zu beschweren.

Diese Angst, die ihr den Magen umdrehte, die Luft nahm, war nach dem Gespräch mit Kordian zwar nicht gänzlich verschwunden, doch leidlich milder geworden. Er hatte ihr vor Augen geführt, dass sie als ausgebildete Kriegerin einen Vorteil gegenüber all’ den anderen Müttern hatte, die wohl dieselbe Furcht verspürten. Und dass sie mit der Klinge wohl einige der gemeinsten, gnadenlosesten Kämpfer an ihrer Seite hatte, die man sich nur vorstellen konnte. Außerdem befolgte sie seinen Rat, mit den Kindern ein Versteck in der Nähe des Hauses zu suchen. Falls irgendetwas geschehen sollte, sollte Lionel die kleine Schwester schnappen und sich im nahen Minenschacht - sicher, warm und trocken - verstecken, bis Mutter, Vater oder Onkel sie holen kommen würden.

“Aber bleib in Sichtweite. Und pass’ mit diesem Ding auf. Du könntest Dich und andere ernstlich verletzen!” Der Junge war über die mahnenden Worte der Mutter schon freudig zu seiner Kiste gesprungen und hatte Schleuder und Geschosse hervorgekramt. Ihn mit zur Essensausgabe nach Rabenstein zu nehmen, hatte zur Folge, dass er mit den Straßen - und Flüchtlingsjungen den Kopf zusammensteckte und unliebsame Ausdrücke oder eben jene Zwinge mit nach Hause brachte.

“Ein guter Junge.”, murmelte Aidan und rieb gedankenverlorenen Blickes die Hände ineinander.

Lionel war schon beinahe über die Türschwelle, als er sich noch mal umdrehte und stirnrunzelnd in die Wohnküche zurück blickte. Doch was immer ihn aufgehalten haben mochte, es war nicht wichtiger als nach seinem Hund zu rufen und hinter dem Haus seine Schießübungen aufzunehmen. Ab und an hörte man ein dumpfes Klock gegen die Hauswand, gefolgt von einem reumütigen “ ‘tschuldigung!”, oder Madadhs aufmunterndes Bellen.

Cahira hatte noch zur Tür gesehen, als der Sohn bereits verschwunden war, lauschte gen Decke, ob sich Brynja vielleicht auch schon regte, und war dann wieder an ihr Schneidbrett getreten. “Der Beste. Und Du hattest Recht mit ihm. Er … ist anders als andere Jungen. Und ich weiß nicht, was ich tun kann, was ich tun soll …”

“Vielleicht einmal anfangen, darüber zu reden. Und damit meine ich nicht, mit nur in Deiner Phantasie bestehenden Hexenmeistern, sondern mit Kordian, Cois oder …”

Cahira schnaufte auf und schob die säuberliche zerteilte Karotte in den blubbernden Topf. “Kordian. Sosehr ich ihn kenne und liebe, ich kann ihn in diesem Punkt nicht einschätzen. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Und seitdem Cois von Prenne zurück ist, haben wir keine zehn Worte gewechselt. Und falls Du nun den Rabenkreis anführen willst ... Nein. Sie haben Magda die Tochter genommen und das kann ich bei Lionel nicht riskieren.”

“ … Kyron.” Der Name fiel so sanft wie die Herbstblätter, die sich zu dieser Jahreszeit bunt von den Bäumen lösten und den Thalwald in der Abendsonne in ein rot-oranges Flammenmeer verwandelten. Soweit sie sich erinnerte, hatte Aidan den Namen ihres Ehemanns nie in den Mund genommen und ihn nun zu hören, in dem ihm eigenen weichen Zungenschlag der Inseln, war eigenartig und ließ sie erschaudern.

Doch sie blieb ihm die Antwort zunächst schuldig. Ein Zeigefinger kreiste über den bereitgestellten Korb mit Gemüse und Kräutern, welche sie für die Suppe angedacht hatte, und wählte etwas Salbei aus. Der Mann hatte alle Zeit der Welt, doch meinte sie, das leise Knarren der Bank zu vernehmen, als er seine Position darauf änderte.

“Er würde vermutlich etwas sehr Schlaues oder etwas sehr Dummes anstellen. Ich fürchte, er würde es nicht verkraften, nicht auch noch das.”

Die Stille war atemraubend und der Drang sie mit Worten, Erklärungen zu füllen, war beinahe übermächtig. Außerdem meinte sie in seinem Schweigen eine Art stille Missbilligung ihrer Worte zu vernehmen, welche sie nicht einfach so stehen lassen konnte.

“Ich zeige Dir was.” Damit war sie zur Haustür getreten und hinaus auf die Veranda. Aidan stand im selben Moment neben ihr, als sie ihren Blick über die nahe, wohlvertraute Umgebung streifen ließ. Der Herbstregen hatte Teile des Hofes in Morast verwandelt. Die Schornsteine der Häuser spuckten bereits zu dieser Zeit Rauch in die kühle Luft. Aus den Ställen drangen die Geräusche der Tiere.

Der Mann neben ihr war groß, überragte sie um fast anderthalb Kopf, sein scharfes, ihr so bekanntes Profil stach deutlich hervor. Cahira hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um sie ihm auf die Wange zu legen und unwillkürlich fragte sie sich, ob sie sich auch jetzt warm und etwas kratzig von der morgendlichen Rasur anfühlen würde ...

“Es ist schön hier. Friedlich.”, unterbrach seine Stimme jeglichen Anflug, das Traumgebilde berühren zu wollen. “Ein Heim, in welchem es sich wohl gut und gerne leben lässt und von einer Frau erschaffen, die kaum einen Hefeknoten backen konnte.” Er wollte sie eindeutig necken, doch sie ging nicht darauf ein, schüttelte langsam den Kopf und grub ihre Fäuste in die Falten ihrer Schürze.

“Das ist, was alle sehen. Aber es stimmt nicht. Kyron bezahlt den Preis für diese Idylle, Tag für Tag. Ohne ihn wäre dieses Leben nicht möglich. Und dann soll ich ihm auch noch erzählen, dass ausgerechnet sein Sohn diese verfluchte Gabe hat?!”

Ravinsthal war ein Neuanfang gewesen, in jeglicher Hinsicht. Die Spirale drehte sich seit dem Umzug auf das Rabenfeld immer nur hinauf und hinauf: Der Posten als Schultheiß, Kyron in der Garde, die Rückkehr von Kordian und Anouk, die Kinder gesund und munter, ihre Adelung … Natürlich hinterließen die Blutkonklave oder das Einfallen der Feinde aus dem Süden eine Kerbe in diesem Bild, aber sie waren zusammen und taten, was die Klinge schon immer getan hatte, wofür sie damals gegründet worden war.  

“Ich halte still, um dies alles nicht zu gefährden. Und wenn ich ihm hier nicht den Platz biete, den Du gerade siehst, den alle sehen - still, geruhsam, mit einer warmen Mahlzeit, vielleicht einem Bier, munteren Kindern, meinem warmen Leib unter den Fellen, keine Gespräche über Dureth oder den Taten, die er vielleicht gerade vor wenigen Stunden in seinem Namen begehen musste, um unsere Sicherheit zu gewährleisten - dann wäre alles umsonst. Und ich habe Angst, das selbst das nicht genug ist, dass ich nicht genug bin … Das hätte ich Kordian vermutlich sagen sollen, als er mich fragte, was in mir vorgeht: Das es zu schön ist, um wahr zu sein. Und deshalb bist Du hier, Aidan, um mir dies vor Augen zu führen, nicht wahr?”

Sie drehte den Kopf herum. Der Mann an ihrer Seite war fort. Weggeblasen wie das einsame Blatt, welches der aufkommende Wind über den Hof trieb.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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