Zwei Leben
#36
Leise schnaufend erklomm sie die schmale Leiter, welche auf den Dachboden führte. Es war ein dunstiger Tag, der nicht richtig hell werden wollte. Regen fiel in dicken Strippen auf die Erde und verwandelte die Wege in Morast. Die Auswirkungen des vergangenen Unwetters.

Zwei Stockwerke unter ihr hörte sie gedämpft Lionels Beschwerden. Dem Jungen zerrte das Wetter am Gemüt. Der Höhepunkt seiner schlechten Laune ließ sich eindeutig an dem Punkt festmachen, als Cahira ihm verboten hatte, sich mit seinem Hund im Matsch zu tollen und diesen Dreck dann noch im Haus zu verteilen. Schließlich hatte sie ihn überzeugen können, seinen Malkasten hervorzuholen. Mit einer lustlosen Grimasse hatte er sich an den Küchentisch gesetzt, um einige unmotivierte Striche auf das Papier zu bringen.

Brynja hatte sich derweil am Tisch hochgezogen und machte sich einen Spaß daraus, ihrem Bruder die Stifte zu klauen oder gleich mit ihren dicken Fingerchen in Lionels Zeichenbahn zu grätschen. “Brynni, leig e! Was soll das? Wie soll ich so etwas zeichnen? Màthair! Lass das, sam bith …” Die Abwehrversuche des Bruders schienen die Kleine erst so richtig anzustacheln. Nachdem sich Cahira über die Kabbeleien ihrer Kindern amüsiert hatte, hatte sie sich mit einem neckenden: “Ich sehe, ihr kommt zurecht. Ich gehe mal auf den Boden ... “, entfernt.

Mit ihren Schritten wirbelte sie Staub auf, der träge in der dicken Luft unter dem Dach im Schein ihrer mitgebrachten Öllampe zirkulierte. Sie wunderte sich jedesmal über die vielen Kisten, Truhen und Körbe, eingerollten Teppichen und mit Tüchern geschützten Möbelstücken, die sich dort stapelten. Einige Sachen gehörten Kyron oder hatten sich während ihrer Zeit in Ravinsthal angesammelt; das meiste jedoch hatte sie aus Zweitürmen mitgebracht. Neben viel Nützlichen war auch eine Menge Tand dabei. Dinge, welche sie aus dem Hirschenheim lediglich der Andacht an einen Freund aufbewahrt hatte; Dinge, von denen sie sich angesichts einer unsicheren Zukunft in einem damals vollkommen unbekannten Lehen, von dem man aus allen Ecken nur Schlechtes hörte, nicht trennen hatte können oder wollen.

Heute war es allerdings nicht ihr Ziel, die Sachen zu durchforsten und Brauchbares von wertlosen Platzverschwendern zu trennen. Sie zog stattdessen das löchrige, für den Hausgebrauch unnütz gewordene Laken vom großen Standspiegel, der im Haus einfach keinen Platz gefunden hatte, und stellte die Lampe auf einer nahen Truhe ab. Es war vielleicht ein dummer Einfall gewesen, der sich zu einem fixen Gedanken entwickelt hatte: sie musste sich sehen - und zwar in Gänze. Sie hatte auch einen Spiegel in der Schlafkammer auf ihrem Toilettentisch, aber jener war zu klein, zu schmal um ihre gesamte Gestalt widerzuspiegeln.

Die taxierenden Blicke von Rielaye, der Heilerin und Hebamme, welche sich jüngst in Rabenstein niedergelassen hatte, waren vermutlich nur ihrer Profession geschuldet, dennoch war der Gedanke, die Frau könnte sie in anderen Umständen vermuten, irritierend und amüsant zugleich. Nicht, dass es nicht im Bereich des Möglichen gelegen hätte … Doch dies war nur der letzte, kleine Anstoß gewesen, der ihr Vorhaben auf den Boden zu steigen, um vor den Spiegel zu treten, letztendlich gefestigt hatte.

Ihre Ausflüge, die dazu dienen sollten, sich dem größten Teil des restliches Adels vorzustellen, waren eher eine schleppende denn eine amüsante Angelegenheit. In der Hoffnung, in Zweitürmen freundlich aufgenommen zu werden, war ihre ehemalige Heim- und Wirkungsstätte das erste Anlaufziel gewesen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Obwohl Arthar eher reserviert gewirkt hatte, sicher begründet in seiner Verletzung, welche er sich beim Kampf mit einer obskuren dunklen Rittergestalt zugezogen und welche Cahira dann selber verbunden hatte. Schumann, den sie damals nach Zweitürmen geholt hatte, hatte absolut keine Reaktion gezeigt. Ein klein wenig wehmütig war ihr dennoch zumute gewesen, als sie dort im “Hirschen” saßen. Es schien, als ob die Zeit im Thal stehen geblieben war: Noch immer die selben guten, treuen Leute umrund des jetzigen Freiherren; früher hatte sie auch einmal zu ihnen gehört …

In Südwald hatten sie niemanden angetroffen außer diesen Holzfäller, der beinahe schon erschrocken ob Aygos volltönender doch vollkommen korrekter Vorstellung ihrer Person seine Arbeit prompt eingestellt und bar weiterer Worte seinen vom Schopf gerupften Hut in den Händen gefaltet hatte. Vielleicht hatte sich zu jenem Zeitpunkt, anhand dieser kleinen Geste des Respekts, frei und unschuldig gewährt ohne dass sie gefordert oder gewollt war, klamm und heimlich die Saat der Erkenntnis festgesetzt, dass ihr Stand nicht nur ein Privileg war, sondern vielmehr eine Bürde, die abverlangte, dass sie sich ihrer Rechte - und wenn es sich auch nur um die angemessene Begrüßung handelte - würdig erweisen musste, sie sich verdienen musste.

Und dann kam Löwenstein …

Als sie die Stadttore passierten, hatte sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. In Ravinsthal war sie die Weite des Rabenfeldes gewohnt, den freien Himmel, die frische Luft. Hier fühlte sich eingeengt, von den hohen Häusern begraben, beobachtet. Zudem mischte sich das Unwohlsein, was sie hier erwarten würde, mit den Erinnerungen an die Blutkonklave und ließen ihre Gliedmaßen erstarren.

Auch in der Stadt trafen sie nicht auf die Gesichter, welche Cahira im Kopf hatte. Irgendwie erleichternd, wenn auch der Gedanke, noch einmal den langen Weg auf zu sich nehmen, sich noch einmal in relativ kurzer Zeit den kalten Mauern Löwensteins und seiner Bewohner stellen zu müssen, ihren Mund ganz trocken werden ließ. Auf dem Marktplatz, auf dem wohl angedacht der schon fortgeschrittenen Stunde ein paar Händler eher halbherzig ihre Waren den wenigen Passanten feilboten und die meisten ihre Buden zugunsten eines warmes Abendessen schon verrammelt hatten, machte sie dann dennoch die Bekanntschaft eines Herren aus Ser Seysbalds Gefolge.

In ihren Augen war er das Paradebeispiel eines Löwensteiners: Flink mit der Zunge, die scharfen Worte trotz Anerkenntnis ihres Titles am Rande der Dreistigkeit, arrogant, selbstbewusst. Doch dieses kurze Zusammentreffen war eine gute Lehre und hatte bei ihr die lose Frage hinterlassen, was er eigentlich gesehen hatte.

Seinem Blick und den Worten nach zu urteilen eine unbedarfte Landpomeranzen aus dem hintersten unbekannten Winkel des ohnehin unzivilisierten Ravinsthal, welche sich getraute in Reisekleidung ihre Aufwartung in der Hauptstadt machen zu wollen. In ihrem Gefolge Subjekte, die sich nicht zu benehmen wussten: Silja, Aygos jüngere Schwester, die zufällig dazu gestoßen war, verpasste dem Mann aus zunächst unersichtlichem Grund einen Tritt vors Schienbein und ehe sie nochmal zur Attacke ansetzen konnte, weil ihr seine Worte nicht gefielen, hatte Cahira sie am Schlafittchen gepackt und war mit verzeihendem Lächeln abgezogen.  

Die Last auf ihrem Herzen, welche sie seit dem kurzen Intermezzo mit dem Holzfäller nieder drückte, wog wieder schwerer als sie durch die Strassen Richtung Stadtgrenze zogen. War sie ab jetzt nicht nur für ihr eigenes Tun verantwortlich sondern fiel jegliches Verhalten in ihrer Umgebung auf sie zurück? Nach diesem Ausflug folgten zunächst keine weiteren mehr.

Und nun stand sie vor ihrem Spiegelbild. Eine junge Frau blickte ihr mit leiser Beunruhigung in den großen Rehaugen entgegen, das Haar in einem eher unordentlichen Zopf geflochten, Sommersprossen auf der Nase. Die von der Feldarbeit schwieligen Hände spielten mit den Falten ihres einfachen Wollkleides, welches sie gewöhnlich unter einer Schürze trug. Sie füllte das Kleid mit voller Büste und Hüften aus und auch ihre Wangen waren in den letzten Mondläufen runder geworden. Das zusätzliche Gewicht ließ sie weicher, jugendlicher erscheinen. Wann sie das letzte Mal Schürze und Wassereimer gegen Rüstung und Katzbalger ausgetauscht hatte, wusste sie selber kaum zu sagen.

Falls ihrem Ehemann diese Veränderung aufgefallen war, hatte er nichts gesagt. Auf der anderen Seite hatte er ihr Aygo als Leibwächter zur Seite gestellt - vordringlich als Bewährungsprobe für den Eintritt in die Garde. Früher hätte sie dagegen protestiert. Als Klinge hatte sie selber auf sich aufpassen können. Und auch jetzt noch, sollte man sich die Mühe machen, erkannte man den Soldaten anhand ihrer kraftvollen Bewegungen, in ihren Reaktionen - nur in Watte gepackt.

Doch im Grossen und Ganzen wirkte sie in diesem Aufzug und wohl auch in der ledernen Reisekluft in der Tat weniger wie eine Adlige als wie eine freundliche, warmherzige junge Frau mit wilden Lockenhaar. Cahira atmete tief gefasst die staubige Luft ein. Sie hatte die Lektion gelernt: Locken gebändigt, das Gesicht gewaschen und gekleidet in eines der feinen Gewänder, welche Carmelinas geschickten Finger gefertigt hatten, würde sie immerhin äußerlich annähernd dem Bild einer Baroness entsprechen und den Leuten wenigstens in dieser Hinsicht geben, was sie von ihr erwarteten. Es war ein weiterer Kokon von so vielen, in die sie sich im Laufe ihres bisherigen Lebens gehüllt hatte - vom einfachen Bauermädchen über den Soldaten zur Schultheiß und nun Adligen - ohne sich bisher selber verloren zu haben.

Von unten ertönte ein jubelnder Schrei, der sie im ersten Schreckensmoment zusammen zucken ließ:Athair ist gekommen!” Mit gerunzelten Brauen blickte sie zur Bodenluke, aus ihren gedankenvollen Beobachtungen gerissen und antwortete verspätet: “Ich bin gleich unten!” Sie griff Öllicht und Laken, um es wieder über den Spiegel zu ziehen, und erhaschte dabei ein Bild ihrer vor Freude leuchtenden Augen und diesem ganz speziellen Lächeln. Als ob die pure Anwesenheit des Mannes, der wahrscheinlich gerade die Stufen zur Veranda nahm und vom Sohn begrüßt wurde, ein Licht in ihrem Inneren angezündet hatte, welches sämtliche ihrer Hüllen zu durchfluten schien. Und dieser Anblick, der gefiel ihr.

~O~

Cahira drehte herum, um die Leiter zurück in die Schlafkammer hinabzusteigen. Zu ihrer Überraschung stieß sie mit ihrem Fuß gegen etwas hartes, was unrund gegen eine der Truhen kullerte. Eindeutig keine Ratte. Sie beugte sich hinab, um nach dem Ding zu hangeln und beleuchtete es mithilfe ihrer Lampe. Langsam richtete sie sich wieder auf und starrte dem Holzsoldaten in ihrer Hand verwirrt entgegen. Sie hatte sich schon gefagt, wo Kordians Geschenk geblieben war; Lionel war die erste Zeit kaum von seinem neuen Spielzeug zu trennen gewesen. Die Verwirrung wuchs, mischte sich mit leiser Bestürzung, als sie im zärtlichen Licht ihrer Öllampe den Ruß an ihren Fingern erkannte und an Stelle des Kopfes lediglich einen verbrannten Stumpen.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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