Zwei Leben
#35
Steh nicht am Grab mit verweintem Gesicht
ich bin da - ich schlafe nicht.
ich bin im Wind, der weht über die See,
ich bin das Glitzern im weissen Schnee.
ich bin die Sonne auf reifender Saat,
ich bin im Herbst in der goldenen Mahd.
Wenn Du erwachst im Morgenschein,
werde ich immer um Dich sein.
Bin im Kreisen der Vögel am Himmelszelt,
ich bin der Stern, der die Nacht erhellt.
Steh nicht am Grab in verzweifelter Not,
ich bin nicht da - ich bin nicht tot!

~ irisches Grabgedicht ~

Grillen zirpten ihren Nachtgesang. Die kühle Luft trug nur noch die Ahnung der Wärme des vergangenen Tages mit sich, so dass sich Cahira, auf den Stufen zur Veranda ihres Hauses hockend, eine einfache, wollene Stola um die Schultern geworfen hatte. Die gedämpften Geräusche der Tiere in den Koppeln, der seichte Wind, der in den Ähren der Felder spielte vermischte sich mit dem typischen Aroma von feuchtem Matsch, Dung, Heu und frischem Gras zu einer vertraut, heimeligen Weise.

Doch Cahira, die nach dem Tagwerk und wenn die Kinder zu Bett gebracht worden waren, sonst gerne dieser vertrauten Melodie lauschte, während sie darauf wartete, dass ihr Ehemann vom Dienst nach Hause kommen würde und sie sich mal leise unterhaltend, mal einfach schweigend gemeinsam den Tag schlussendlich ausklingen ließen, hatte weder Ohr noch Auge dafür. Das Haar lose auf den Schultern, der Blick trüb in die Ferne gerichtet, schwenkte sie gedankenverloren einen halb getrunkenen Becher Wein in ihren von der Feldarbeit gezeichneten Händen.

Es schien, als ob das Jahr mit Beginn der Blutkonklave wie verflucht war. Zuerst griffen sogenannte Vampire an, Wesen, welche sie nur aus Schauergeschichten der Alten auf Svesur belächelt hatte, und stellten die bekannte Ordnung über Kopf, lebende Pflanzen bedrohten die Bewohner von Rabenfeld, fanatische Mithrasanhänger kamen ins Land gestampft und wollten ihre heiligen Stätten zerstören, ein Wolfsrudel plagte die Landwirte und war mit bekannten Mitteln nicht aufzuhalten. Diese Unruhe und Verluste der letzten Zeit ließen sie einfach nicht zur Ruhe kommen.

Aygos Schreiben, dass er in seinem jüngst bezogenen Haus in der Ortschaft eine kopflose Leiche gefunden hatte, löste Besorgnis aus, die Zeilen, dass es sich dabei um Ghalen handeln würde, tiefe Beunruhigung. Aber noch hatte sich die junge Frau an die Hoffnung klammern können, dass der ehemalige Löwensteiner sich irrte. Zwei nachfolgende Schreiben - von Isabelle in ihrer Eigenschaft als Gardist und Cois als Friedhofswärter - ließen diese Hoffnung zerplatzen wie eine der schillernden Seifenblasen, welche Lionel zur Freude Brynjas in die Luft bließ. Doch diesmal folgte kein kreischendes Kinderlachen, kein Rudern von speckigen Ärmchen. Verzehrende Leere nahm ihren Verstand ein, der zu begreifen versuchte, dass ein geliebter Mensch zu den Göttern gerufen worden war. Die Tränen würden später kommen.

Ghalen. Sie hatte nach nur wenigen Treffen das Gefühl gehabt, ihn schon ihr ganzes Leben lang zu kennen. Sie hatte ihm ihre Kinder anvertraut und er hatte Lionel mit seiner heiter unbeschwerten Art den Schrecken der Blutkonklave genommen. Und nun war er nicht mehr. Natürlich fragte sie sich, ob sie sich nach dem Tod von Morana mehr um ihren Freund hätte kümmern sollen und die Frage war wohl die quälenste von allen.

Die Erinnerung an jenen Tag in Löwenstein, an dem die Gefährtin des jungen Mannes als Hexe verbrannt worden war, stand ihr nur allzu deutlich vor ihrem inneren Auge. Es war bis auf ein paar Fanatiker, die sich bei solch’ einem Ereignis immer einfanden wie die Motten zum Licht, recht ruhig gewesen. Danach zu gieren, eine vermeintlich böse Hexe brennen zu sehen, und dann tatsächlich die Flammen zu beobachten, wie sie das Fleisch von den Knochen schmolzen, den brutzelnden Geruch in Nase und Mund zu schmecken, dazu die Schreie der Agonie zu vernehmen, von einer Person, die bis auf die weiße, weite Robe und dem blass ausgemergelten Gesicht der vorherigen Gefangenschaft im Kerker des Tempels und der Panik im flackerndern Blick nicht bösartiger, fremdartiger aussah als jeder andere dort auf dem Platz, beinahe schon bemitleidenswert  - das war eine andere Sache, bei denen der brave Bürger gerne wegschaute.

Doch sie hatten hingesehen, bis zum Schluß, und hatten dann etwas Asche vom Scheiterhaufen zusammengeklaubt. Cahira hatte Morana nicht gut gekannt, doch sie war stets höflich, zuvorkommend und beflissen gewesen, in Rabenstein Fuß zu fassen. Sie hatte um die Frau getrauert, aber mehr noch um Ghalens Willen.

Unwillkürlich kamen die Erinnerungen an andere Verstorbene hoch. Freunde, Verwandte, Bekannte. Und mit jedem Gesicht, welches in ihrem Geiste dahin zog, durchlebte sie den Trauerschmerz aufs Neue. Dieser war selbstverständlich nicht mehr so intensiv wie beim ersten Mal, aber er war noch da, lauerte in der hintersten Ecke des Gedächtnisses und wartete auf Gelegenheiten wie jene, um sie erneut zu peinigen, um daran zu erinnern, dass der Tod allgegenwärtig war.

Lionel hatte sich nach der Nachricht mit seinem Hund verzogen und war mit einigen Blümchen, vornehmlich Löwenzahn, zurückgekehrt, von denen er sagte, er hätte sie bei seinen Streifzügen mit Ghalen gemeinsam gepflückt. Cahira hatte an den roten Augen, der schniefigen Nase erkannt, dass der Junge geweint hatte, aber wie ein richtiger kleiner Soldat wollte er sich das nicht anmerken lassen, zumindest nicht vor ihr. Vermutlich würde er sich bei der nächsten Gelegenheit zu Vater oder seinen Onkeln schleichen. Der kleine Strauß indes stand nun auf der Küchenanrichte und brachte wie Ghalen selber einen freudigen Farbtupfer in das Zimmer.

Über ihre Grübelei hatte sich der Abend zur Nacht gewandelt. Dunkel ragten die Gebäude des Eichenhofes in den mattblauen Himmel. Der Leutnant war wohl in Rabenstein aufgehalten worden, wie es so oft schon der Fall gewesen war. Die Ravinsthaler pflegten ihre Umgangsformen in herzlichen Kneipenraufereien wie einen Volkssport und der Griff zur Geldkatze des nächsten gehörte schon beinahe zum guten Ton - was nicht heißen sollte, das keine Probleme entstanden, bei denen die Garde einschreiten musste

Mit einem Male kam ihr der Hof so verlassen vor. Sie hatte auch die anderen Bewohner die letzten Tage kaum zu Gesicht bekommen und ein unwohles Frösteln ergriff sie. Sie zog rasch das Schultertuch enger, trank in einem großen Schluck den Wein und drückte sich hoch. Eine kleine Öllampe leuchtete ihr den Weg hinein.

Das Licht umschmeichelte die bekannte Einrichtung der Wohnküche - ein kurzer Seufzer, dass der Sohn seinen Malkasten wieder nicht zurück geräumt hatte -  und streifte das Blumengebinde. Sie musste an ihren verstorbenen Freund denken, der es gewusst hätte, ihre Laune mit wenigen Worten wieder zu heben. Das Jahr hatte nicht nur schlechtes gebracht. Die Kinder waren gesund und gediehen prächtig, der Hof florierte, sie hatten ein gutes Auskommen, Kordian und Anouk hatten zur Familie zurückgefunden, Kyron hatte seinen Stand in der Garde gefestigt und war dabei, diesen Weg noch weiter zu gehen, vom verfluchten Mann keine nennenswerte Spur; sie selber war in den Adel aufgestiegen und in wenigen Tagen stand die Audienz beim Fürsten bevor, bei der sie erfahren sollte, wie ihre weiteren Aufgaben aussehen mochten …

Obwohl ihr nicht danach zu Mute war, musste die junge Frau unwillkürlich auflächeln.

Oh, Ghalen.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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