Zwei Leben
#31
Konklave 1403 - Nach Hause, nur nach Hause

Cahira dämmerte in einem Zustand von Wachen und Besinnungslosigkeit dahin. Dort unten gab es kein Sonnenlicht und sie hatte recht schnell jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hätten erst Stunden aber auch schon Tage, Wochen in den Untiefen der Gefängnisinsel verweilen können - es hätte sie nicht gewundert. Mit dem Nachlassen der Wirkung des Heiltranks kamen auch die Schmerzen wieder. Vor allem dröhnte ihr Kopf, ab und an musste sie dunkle Schlieren vor ihren Augen und Schwindel selbst im Liegen wegblinzeln, und jeder tiefere Atemzug sandte Pein von ihrer Brust in jegliche Faser ihres Körpers.

Als sie sich schließlich doch aufraffte und mit Lionel, der die meiste Zeit an ihrer Seite oder mit Cois verbrachte hatte, in den Gefängnishof trat war die Sonne bereits wieder am Untergehen. Rotes, warmes Licht spiegelte sich in den Zinnen deren lange Schatten wie Finger wirkten, die nach ihr zu greifen schienen. Cahira erschauderte und versuchte sich stattdessen eine Übersicht über die Lage zu schaffen. Die Angreifer hatte sich den Tag über nicht gezeigt und Magda war bereits in dieser Sicherheit nach Ravinsthal aufgebrochen, während Isabelle nach einer durchwachten Nacht ihrem zerschundenen Körper Tribut zollen musste und schlußendlich doch in heilsamen, tiefen Schlaf gefallen war. Auf der Brüstung hatten sich die übrig gebliebene hohe Gesellschaft versammelt, um Pläne für das weitere Vorgehen zu schmieden. Eigentlich wäre auch sie am liebsten gleich durch das Tor gestratz, um ihren Sohn in Sicherheit zu bringen, aber davon wurde ihr aufgrund der fortgeschrittenen Stunde abgeraten. Man erwartete, dass die Vampire bei Anbruch der Dunkelheit wieder einen Angriff starten würden.

Nach einem kurzem Abstecher zum Tempel - dort wollte man sich mit den Mithrasdienern, die sich hinter den dicken Mauern verschanzt hatten, zusammentun - kehrte sie mit den Grauwölfen und Cois doch wieder auf die Insel zurück, um dort den Fürsten und den Reichsritter vor möglichen Übergriffen zu schützen. Sie wäre auch im Tempel geblieben, aber sie wollte bei Cois und ihren Leuten bleiben und man konnte über die Söldner sagen was man wollte, sie verstanden ihr Handwerk. Falls sie es nicht schaffen würde, wären Cois und die Wölfe Garantien für Lionels Überleben. Axis, dessen persönliches Lager eine kleine private Armee hätte ausstatten können, hielt auch für sie ein paar Rüstungsteile und Waffe und Schild parat. Zwar war es ein Sammelsurium aus verschiedenen Materialien und Größen, aber immerhin besser als vollkommen ungeschützt im zerrissenen, blutbefleckten Kleid.

Die Gefängnisinsel wirkte nun ruhig, verlassen, wie ausgestorben. Sie absolvierten Wachdienst am Tor und unternahmen einen kurzen Ausfall auf die Brücke, um ein paar in der Abenddämmerung aufgetauchten blassen Gestalten zurück zu schlagen. Das harte Leder der Rüstung hielt sie aufrecht und das kurze, siegreiche Gefecht hinterließ eine Art Hochstimmung bei ihr. Doch im Grunde genommen hielt sie nur ein Gedanken auf den Beinen, unterdrückte ein Gedanke jeglichen Schmerz: Sie musste ihren Sohn schützen und wenn es das Letzte war, was sie tun würde. Er musste wohlbehalten nach Hause kommen. Sie hatte es ihm schließlich versprochen. Die restliche Nacht verlief ohne weitere Zwischenfälle. Die hohen Mauern, das gusseiserne Tor hielt jeglichen Angriffen stand.

Am Morgen des nächsten Tages, kaum dass die Sonne aufgegangen war, machte auch sie sich nach einem kargen Frühstück aus harten, übriggebliebenen Resten auf den Heimweg. Noch einen weiteren Tag konnte, wollte sie nicht in Löwenstein verbringen. In einer Hand die gezückte Waffe, in der anderen Hand Lionel, streifte sie durch die totenstillen, menschenleeren Gassen der Stadt. Vor zwei Tagen herrschte hier noch Hochstimmung wegen den bevorstehenden Feierlichkeiten zur Konklave und jetzt hätte man eine Stecknadel fallen hören. Falls sie doch auf einen Angreifer treffen würden, würde sie hoffentlich lange genug eine wehrhafte Ablenkung darstellen, dass sich Lionel davon machen konnte. Ganz gewiss nicht ihr bester Plan.

Genauso wie sie hoffte, dass Kalvas noch im Stall stehen würde. Doch die Löwenwacht war abgeriegelt. Verzweiflung flammte auf, als sie ihre Faust gegen die Mauern schlug. Du musst Dir Deine Umgebung besser einprägen, Soldat. “Dann eben zu Fuß.” An jeder Straßenecke verharrte sie, blickte nach rechts und links, dann erst zog sie ihren Jungen weiter. Sie schwitzte, obwohl es ein kühler Wintermorgen war, und ihr Herz pumpte unablässig Blut durch ihre Fasern. Diese ängstliche Erregung dämpfte ihre Schmerzen, die ansonsten verhindert hätte, dass sie überhaupt irgendwo hingegangen wäre, geschweige denn zu Fuss nach Ravinsthal!

Auch in den Straßenschluchten war es zu Kämpfen gekommen. Eilig zusammengebaute Barrikaden versperrten die Wege, bereits getrocknetes Blut war zwischen die Pflastersteine gelaufen, bildete dunkle Lachen und bildete an den Mauern pittoresk wirkende Muster. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg. Ein paar Mal mussten sie innehalten, um zu verschnaufen. Lionel übernahm dann die Wache, spähte aufmerksam um sich. Der Drang umzudrehen und in die Sicherheit der Gefängnisinsel zurückzukehren, war in solchen Momenten beinahe übermächtig. Wie sollten sie diese Strecke bis nach Hause nur schaffen? Auch ohne Zwischenfälle, ohne körperliche Gebrechen und ohne Kind war es ein schierer Gewaltmarsch. Doch der Wunsch, das vermaledeite Löwenstein hinter zu lassen, ihren Sohn in Sicherheit zu wissen, Mann und Tochter wiederzusehen, im eigenen Bett die Wunden ausheilen zu lassen, war stärker.

In Zweitürmen verließen die junge Frau beinahe die Kräfte, als sie in einer Hecke abseits des Weges zusammenbrach. Ihr Sohn rüttelte sie erregt an den Schultern wieder auf die Beine. Der Harpienpass war glücklicherweise frei, doch hatte sie Lionel zuvor die Anweisung gegeben, die Beine in die Hand zu nehmen, falls sich eine Vogelfrau oder Wegelagerer blicken lassen sollte. Als Passwacht in ihr Sichtfeld kam, konnte sie die Tränen der Erleichterung kaum zurückhalten. Ein paar gewechselte Worte mit den Wachen, die natürlich gehört hatten, was in der Reichshauptstadt passiert sein soll, dann ging es auch schon voran, immer voran. Jetzt übernahm allerdings Lionel die Führung und zerrte die Mutter, die wie willen- und kraftlos hinter ihrem Sohn herstolperte, beharrlich Richtung Hof. Noch einmal die letzten Kraftreserven mobilisiert, dann traten sie unter dem hölzernen Torbogen des Eichenhofs hindurch. Aufschluchzend fiel Cahira auf die Knie und zog ihren ebenfalls vollkommen ermatteten Sohn an sich. “Den Göttern sei’ Dank. Wir sind zu Hause!”

Wie sie dann ins Haus, ins Obergeschoß und ins ersehnte, sichere Bett gekommen war, konnte sie sich nicht erinnern. Einige abgeschmissene Rüstungsteile, blutverkrustetes Kopftuch und Stiefel lagen wie Brotkrumen Richtung Schlafzimmer auf dem zurückgelegten Weg. Als sie ihren vor Schmerzen pochenden Körper auf die Lagerstatt bettete, war es ihr, als ob Matratze und Kissen sie verschlangen und nie mehr hergeben wollten. Sie hätte nichts dagegen gehabt. Der Sohn rollte sich schnaufend ein und sie schaffte es gerade noch so, die Decke schützend über sie beide zu ziehen. “Mama?”, hörte sie den Kleinen noch murmeln, ehe sie sich der nun überwältigenden Ohnmacht hingab. “Wir müssen nie wieder zu einer Konklave gehen, oder?”
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 07.05.2015, 14:28
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 08.05.2015, 00:57
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 09.05.2015, 04:50
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 10.05.2015, 23:08
RE: Zwei Leben - von Biriba - 12.05.2015, 16:49
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 13.05.2015, 03:53
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 18.05.2015, 02:14
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 18.05.2015, 03:42
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 06.06.2015, 00:03
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 12.06.2015, 03:24
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 01.07.2015, 00:10
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.07.2015, 02:12
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 11.08.2015, 16:29
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 30.08.2015, 19:05
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 10.10.2015, 02:27
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.10.2015, 11:40
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 08.11.2015, 04:25
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 22.11.2015, 02:56
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 29.02.2016, 18:21
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 11.05.2016, 01:01
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 31.05.2016, 21:58
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 19.06.2016, 15:41
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 21.06.2016, 18:00
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 24.06.2016, 00:06
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 30.09.2016, 15:38
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.11.2016, 23:59
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 27.12.2016, 01:33
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 28.12.2016, 03:33
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 29.12.2016, 04:20
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 31.12.2016, 03:22
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 16.02.2017, 14:28
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 23.02.2017, 01:58
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.05.2017, 13:56
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 17.07.2017, 01:26
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 10.10.2017, 00:34
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 23.10.2017, 23:26
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 26.10.2017, 13:49
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 02.11.2017, 00:07
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 30.11.2017, 18:59
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 06.12.2017, 02:15
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 07.01.2018, 02:10
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 09.02.2018, 02:17
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 06.04.2018, 02:12
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 23.04.2018, 21:23
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 09.05.2018, 20:02
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 18.05.2018, 02:33
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 02.06.2018, 11:58
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 25.08.2018, 00:27
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 14.11.2018, 00:47
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 13.02.2019, 18:43
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 13.03.2019, 17:36
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 31.10.2019, 14:03
RE: Zwei Leben - von Kyron Mendoza - 13.11.2019, 19:38
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.11.2019, 00:26
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 26.11.2019, 23:38
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 27.01.2020, 23:33
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 18.04.2020, 01:41
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 15.05.2020, 16:54
RE: Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 09.08.2020, 13:20



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste