Das Leben nach dem Tod auf Svesur
#1
Sie spähte einen Moment durch das schmale Fenster seiner Hütte hindurch, um Aidan zu beobachten. Er war schlank, gekleidet in einfaches dennoch gut sitzendes Wams und Tuchhose, und lauschte mit durchaus ernster Miene, schräg geneigtem Kopf den beiden Burschen, die vor ihm standen. Die beiden waren kleinere Ausgaben ihres Vaters: das helle, rötliche Haar wild vom Kopf abstehend, die hellen Augen voller Intelligenz leuchtend,  die Statur drahtig.

Sie schienen wegen etwas in Streit geraten zu sein, etwas so wichtigem, dass sie wie zwei junge Welpen in die Hütte getrudelt kamen, gerade als Aidan ansetzen wollte, Cahira zu erklären, warum er sie zu sehen wünschte. Mit einem entschuldigenden Seufzer hatte er sich seinen zankenden Söhnen zugewandt und Cahira war mit einem geflüsterten „Ich warte draußen!“ ins Freie geschlüpft, um sich auf der kleinen Bank vor der Hütte nieder zu lassen.

Aidans windschiefe Behausung stand nahe den Klippen und auf der Bank sitzend hatten man einen weiten Ausblick über das gleißende, schier unendlich scheinende Meer. Obwohl sie die Wärme der Sonne bereits in ihrem Gesicht spüren konnte, hatte diese noch nicht die Kraft, die Kälte des Winters gänzlich zu vertreiben. Die Winter auf Svesur waren zwar im Vergleich zu den Wintern in Silendir milde, dennoch musste man sich in einen wollenden Mantel hüllen, um sich vor dem eisigen Wind, vor allem dem an der Küste, zu schützen.

Sie liebte das Meer: die Wellen, die sich in den unzähligen sandigen Buchten der Insel zerliefen, das Treiben der Möwen, die sich um einen Fischhappen stritten, die Sonne, die sich am Rande des Ozeans am Abend in einen roten, alles verschlingenden Feuerball verwandelte. Die Wellen flüsterten all jenen, die zuhören wollten, ein Versprechen ins Ohr. Das Versprechen auf einen neuen Tag am Firmament, ein neues Leben, ein neuer Anfang.

Du musste dich nur trauen ... komm .. komm ...

Die Tür sprang auf, so dass Cahira, gerade eben bei der Betrachtung des Himmels in Gedanken versunken, zusammenzuckte, und die beiden Burschen rannten den Hügel hinab und feuerten sich juchzend gegenseitig an, der Erste unten an der Straße zu sein. Um was auch immer der Streit sich gedreht haben mag, er war vergeben und vergessen, wie es wohl nur Kindern zu eigen war. Einen kurzen Augenblick später trat Aidan kopfschüttelnd aus der Tür, wesentlich gesitteter als seine Söhne zuvor, einen dampfenden Zinnbecher in der Hand und wollte ansetzen, den beiden etwas nachzurufen, ließ es dann aber bleiben. Er wandte sich mit schiefen Grinsen Cahira zu, zog eine Schulter hoch und erklärte knapp „Jungs!“ ehe er sich neben der jungen Frau auf die Bank setzte.

„Hier. Aber vorsichtig, `s noch etwas heiß!“ Er drückte ihr den Krug in die Hand und sofort rannte die Wärme des Inhalts ihre Hände die Unterarme hinauf und hinterließ eine wohlige Gänsehaut. „Warmer Wein mit ein paar Kräutern. Meine Mixtur.“ Sie nahm einen kräftigen Schluck und spürte, wie sich die wohltuende Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Danach saßen beide in Stille vereint auf der Bank; Cahira nippte noch ein paar Mal an ihrem Getränk und genoss die Ruhe, Aidan rieb sich geistesabwesend die Hände und stierte in die Richtung, in der seine Söhne verschwunden waren.

Dann schien dem Mann wieder eingefallen zu sein, wobei sie gestört worden waren, und räusperte sich. Unwillkürlich spannte Cahira die Schultern; vorbei war es mit diesem kurzen Moment des Innehaltens und die Zeit lief wieder ihren gewohnten Gang.
„Dein Vater war vor ein paar Tagen bei mir ...„ setzte Aidan an.
„Ihm geht es doch gut?“ blinzelte Cahira. Ihr fiel nichts ein, warum Shem, nein Seán - so nannte er sich wieder nach galatianischer Sitte - einen Heilkundigen aufsuchen sollte. Aber er war immerhin schon 60 Jahre alt, auch wenn man ihm sein Alter nicht auf Anhieb ansah. Sein ehemals rotes Haar war zwar weiß und lichter geworden, seine Falten tiefer und seine Augen etwas schlechter, dennoch hatte er sich seinen elastischen Gang und seine aufrechte Figur bewahrt. Cahira hatte das Gefühl, das ihr Vater hier in seiner alten Heimat regelrecht aufgeblüht war „Das kommt davon, dass ich hier meine Familie um mich habe. Meine ganze Familie!“

„Jaja. Euer Sippe scheint die unerschütterliche Konstitution der Pferde zu haben, die ihr züchtet!“ Mit einer knappen Geste schob Aidan Cahiras Befürchtungen um den Gesundheitszustand ihres Vaters beiseite. „Es ging eher ... äh, um .... um uns!“ Diese plötzliche Schüchternheit in der sonst so selbstsicheren, wohlklingenden Stimme ihres Bankpartners ließ die junge Frau kurz stutzen, dann dämmerte es ihr und sie musste urplötzlich auflachen. „Himmel, Aidan. Nein, es tut mir so leid. Hat Papa Dich auch mit seinen Plänen belästigt, dass wir doch heiraten sollten? Von all‘ seinen wunderlichen Einfällen ist das wohl der irrsinnigste, findest Du nicht auch?“ Sie drehte ihren Kopf und sah sich einem ganz und gar ernsten, gar nicht belustigt wirkenden Aiden gegenüber, der nun reserviert murmelte „Ich denke nicht, das sich das so irrsinnig anhört.“

„Aidan ... ich weiß .. gar nicht, was ich sagen soll ...“ Sie hatten ihn nicht beleidigen wollen. Während der Zeit auf Svesur war er ihr Freund geworden, ein Vertrauter in einem Anfangs so fremden und andersartigen Leben zu dem, welches sie zuvor geführt hatte. Wie viele Stunden hatten sie schon auf dieser Bank verbracht, entweder über die Götter und die Welt schwatzend, über Nebensächlichkeiten oder über Dinge, die sie tatsächlich bewegt hatten, oder schweigend, einfach zufrieden damit, nicht alleine zu sein und die Gegenwart eines Freundes neben sich zu spüren.

Vielleicht waren sie sich aus dem Grund so nahe, weil sie beide gebrochene Herzen hatten. Sie waren Gleichgesinnte und niemand konnte verstehen, wie es war, einen innige geliebten Menschen zu verlieren, als jene, die diesen Alptraum schon einmal durchleben mussten. Dieses Wissen um diesen grausamen, plötzlichen Schmerz, die nie endende Trauer schweißte sie beide zusammen. Aidan hatte seine Frau und seinen mittleren Sohn bei dem gewaltigen Sturm vor sieben Jahren verloren und sein ganzes Talent der Heilkunst hatte versagt; Cahira hatte Kameraden und den Hauptmann, den sie ohne zu zögern Freund genannt hätte, in einer brutalen Schlacht verloren und fühlte sich beinahe als Verräterin, dass sie nicht auch gefallen war, und wenig später ließ sie die Nachricht, dass ihr Ehemann wegen Mordes gehängt worden war, vollkommen erstarren. Es war einzig allein Lionel, ihrem Sohn, diesem kleinen, hilflosen Wesen, zu verdanken, dass sie sich wieder regte und aß und trank.

Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Aidan trotz ihres unpassenden Lachens weiter gesprochen hatte: „Es wäre keine Liebesheirat, das ist uns wohl beiden klar. Aber ich glaube, das wir Freunde sind. Und für eine gemeinsame Zukunft ist dies doch kein schlechter Anfang, oder? Ich würde Lionel als meinen Sohn anerkennen, du weißt, wie sehr ich den kleinen Kerl mag, und wir würden wieder in die Zukunft schauen als immer nur zurück. Gemeinsam. Und vielleicht .. mit der Zeit .. “ Er schloss mit dem ihm eigenen jugendhaften schiefen Lächeln, welches ihn um viele Jahre jünger erscheinen ließ, als er wirklich zählte.

Sie konnte an seinen Worten nichts aussetzen. Sie waren schlicht und wahr gesprochen, ohne Hintergedanken als vielleicht jenem, wieder eine eigene, vollständige Familie gründen zu wollen. Cahira wusste, das Aidan ihr ein sicheres Heim bieten und Lionel ein mustergültiger Vater sein würde. Aber war es nicht zu früh? Zwei, beinahe drei Jahre waren die Ereignisse nun her, die sie entwurzelt und nach Svesur gebracht hatten und die Verluste, vor allem Letzterer, waren noch lange nicht überwunden, falls diese je zu überwinden waren.

Nun, ihr Vater schien eher der Meinung zu sein, dass es an der Zeit wäre, seine Tochter unter die Haube zu bringen und Aidan, als respektierter Heilkundiger der Siedlung, zu dem sie auch noch eine freundschaftliche Verbindung pflegte, der geeignete Kandidat. Seán war nie richtig innig mit seinem verstorbenen Schwiegersohn gewesen und Aidan war beinahe das genaue Gegenteil von Kyron: Blond, gutmütig, freundlich, ohne Hang zum Alkohol oder der Selbstzerstörung durch irgendwelche obskuren Substanzen, einer ungefährlichen Tätigkeit nachgehend, verlässlich.


Du musste dich nur trauen ... komm .. komm ...


„Gut, dann heiraten wir eben.“
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Das Leben nach dem Tod auf Svesur - von Cahira Mendoza - 05.04.2015, 00:55
RE: Zukunft - von Cahira Mendoza - 05.04.2015, 18:18
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