Der Pilger
#5
Während die ersten Sonnenstrahlen sich durch die milchig-weiße Wolkendecke zu bohren begannen und der noch immer in das schwindende Zwielicht der letzten Nacht getauchte Wald zögernd unter seinem aus Nebel geformten Schlafhemd entschlüpfte, schritt ein einzelner, roter Farbklecks durch diese Kulisse aus der jeder nur erdenkliche Aberglaube entspringen konnte. Wie ein entrücktes Element einer Geschichte, das Stück eines Puzzles, für welches man bis zum Ende keine Verwendung haben würde, schritt die berobte Person mit einem buchstäblichen Gottvertrauen durch den Wald, der soeben im Begriff war, die Nachtschwärmer des Tierreiches zu verabschieden.

Der Rote hingegen schien all' das jedoch weder wahrzunehmen, noch ein tieferes Interesse für das ihn umgebende Tierreich zu haben. Hier und dort sah man ihn, wie er eine Pflanze dem Boden entriss, nachdem er sie kritisch beäugt hatte und sie nach hinreichendem Ausschütteln in einer kleinen Tasche verbarg. Mal war es eine wild wachsende Karotte, mal ein Pilz, mal ein Kraut, als sei der Robenträger nicht in jeder Hinsicht wählerisch.

In jedem Fall wirkte es nicht wie geschäftsmäßige, schnelle Arbeit sondern vielmehr wie eine Wanderung die ihn von einer bemerkenswerten Sache zur nächsten trieb, wobei der Novize scheinbar auch dem Weg den er dabei zurücklegte, kaum Beachtung schenkte.

Gedanken einer Welt die fernab der Natur stattfand, waren die stillen Begleiter des Berobten: Aufgaben, die vor ihm liegen würden, Gnaden Terans Gesundung, die ganz eigenen Probleme seiner Schwester und letztlich auch das Ableben dieser Ayween. Selbst jetzt noch hatte er das Gefühl, dass er nicht genug getan hatte, um sie wieder zum Licht zu führen, wenngleich er stets machtlos ob ihrer Einfältigkeit in Bezug auf den Glauben und die Kirche gewesen war. Sie würde in den Feuern des Purgatoriums viel zu erklären, viel abzuleisten haben bis ihre Seele – wenn denn überhaupt, zu Mithras fahren würde. Das lag nicht mehr in seiner Hand. Wahrscheinlich tat es das nie und doch konnte sich Arhenius nicht dem Gedanken verschließen, dass es hätte anders sein können.

Mit einem Blick, der erst mit Verzögerung wieder in das „Hier und Jetzt“ zurückkehrte, sah der Novize von einer Brücke hinab auf einen Wasserlauf, dann auf den Wald der sich weiter vor ihm auftat. War das bereits der Flüsterwald? Ein Blick nach hinten, dort wo man in einiger Entfernung die hohen Mauern Löwensteins noch gerade so erkennen konnte, bescherte ihm Bestätigung. Er war selten weiter gegangen als bis zu dieser Brücke, obschon ihre schiere Existenz eine Neugier verheißen ließ, was für Mysterien, für unentdeckte Geheimnisse dahinter liegen mochten.

Die Luft war frisch und klar, das Wetter nicht schlecht, auch wenn Mithras' Strahlen noch immer tapfer mit der dichten Wolkendecke rungen. Die Winterkälte, so mutmaßte er, würde vermutlich viele der wilden Tiere ohnehin in ihren Bau oder ihre Nester treiben, anstatt ziellos durch den Wald zu streifen. Mit endlos falscher Gewissheit beschloss der Berobte also auch dieses Stück Servanos zum Teil seiner Wanderung zu machen, zu dem Teil des Tages der ihn meist erholter zurückkehren ließ, als die vergangenen Nächte es vermochten.

Dennoch bemühte er sich um Vorsicht, darum mit scharfem Blick und wachem Verstand durch den dichten Wald zu schreiten, wenngleich zumindest letzterer bald wieder in das Labyrinth seiner eigenen Gedanken eintrat und dem dort verborgenen, sprichwörtlichem Minotaurus nachjagte, in der Hoffnung dass dieser zumindest einen Teil des Rätsel lösen würde, den sein Weg in den kommenden Wochen darstellen würde.

Justans … Ehrwürden Schumanns Worte hatten die unangenehme Eigenschaft gehabt, ihm in diesem Zwischenstadium seiner wachen Gedanken und den tief im Reich seiner Seele verborgenen Wünsche und Sehnsüchte immer wieder vor Augen zu treten. Wie eine Barriere traten sie an die Stelle, wo keine sein sollte. Wie Ketten, die ihn von etwas wegzogen, bevor er die Kraft fand, ihren Zug beiseite zu stellen. Sein Ergebnis war, dass er tatsächlich zu viel nachdachte und zu wenig dem folgte, was seine Seele, sein Geist zu vollbringen imstande war. Ein vager Gedanke zurück an das Feuer und die Nacht danach, die seinen Körper als die Hure seines eigenen Verlangens zurückgelassen hatte.

Es war beinahe, als hatte so viel an Bedeutung verloren, seit diesem Abend, dieser Nacht, als sei etwas hervorgetreten, was er vorher nicht in sich vermutet hatte und das sich nun ungefiltert und schleichend die Herrschaft über ihn zu nehmen suchte. Es war ein Zwiegespräch zwischen seiner Angst um Kontrollverlust und das Sehnen, diesem – ja, was war es eigentlich? - Neuen seinen Raum einzuräumen. Wie man einen geliebten Menschen nicht ziehen lassen will, weil man die Leere fürchtet, die einen sonst überkommt, weil man die Unvollständigkeit fürchtet, von der man vorher gar nicht wusste, dass man sie litt, fühlte er sich mit seiner Angst im Widerstreit. Der Angst, dass er irgendwann nachgeben musste.

Stille holte den Novizen zurück in die Wirklichkeit, Stille und das Aufstellen seiner Nackenhaare. Ein Geräusch, unmittelbar bevor alles um ihn ruhig zu werden schien, hatte seine Nackenhaare sich aufstellen und seinen Körper anspannen lassen. Angst. Erneut und diesmal rein körperlich. Angst um sein Leben.

Ohne es zu merken hatte er eine kleine Lichtung betreten, die den Wald um ihn herum wie eine Kuppel aus Holz und Laub wirken ließ. Er hörte ein Rascheln, direkt von vorne. Sein Herz begann schneller zu schlagen, Unschlüssigkeit brandete in ihm auf – Rennen oder einfach still stehen bleiben? Würde das Rennen das wilde Tier, was sich dort vielleicht verbarg, erst noch anstacheln? Würde er sich ausliefern, wenn er hier einfach nur stehen blieb? Seine Gedanken rasten – nicht mehr in der Ferne, sondern in der Realität, aus der es nun kein Entkommen gab.

Es raschelte erneut und schließlich brach nicht nur eines, sondern mehrere Ferkel mit braunem Fell aus dem Dickicht heraus und liefen scheinbar auf ihn zu. Der Novize atmete erleichtert aus, begann sich zu entspannen und folgte den kleinen Rackern auf ihrem Ausflug belustigt mit seinem Blick. Sie liefen auf ihn zu und an ihm vorbei. Keine Gefahr. Wie beiläufig drehte sich der Berobte den Tieren nach und nahm erst dann das deutlich kräftigere Scharren von Paarhufen wahr, welche zu der aufgebrachten Mutter und somit zu dem ausgewachsenen Wildschwein gehörten, das die Gefahrlosigkeit für ihre Ferkel offensichtlich anders definierte.

Mit einem Grunzen oder Quieken, so genau konnte der Novize das dann doch nicht einordnen, in jedem Fall recht nah daran wie Arhenius sich den Kriegsschrei eines Wildschweines vorstellte, begann das Tier auf ihn zuzurasen – und damit auch der Berobte mit von seinem Kopf wehender Kapuze davonzurennen.

Jetzt dachte er nicht mehr nach, sondern tat das einzige, was nun wichtig war: Überleben oder zumindest nicht mit allerhand gebrochenen Knochen im Wald liegen bleiben und vom nächstgrößeren Tier gefressen werden. Das Knacken unter seinen Füßen und das Krachen unter den Hufen des stetig näherkommenden Verfolgers sorgte dafür, dass kleinere, verschreckte Waldbewohner aus dem Unterholz links und rechts der beiden ungleichen Kombatanten wie kleine Pfützen angstvollen Lebens davonhasteten bis schließlich passierte, was ohnehin zu erwarten war: Der Novize stolperte und landete der Länge nach im Waldboden und spürte kurz davor, wie sich das walzende Gewicht des Tieres in seine Seite bohrte und ihn davonschleuderte.

Im Aufbranden von Schmerz hefteten sich seine Augen an einen umgestürzten Baum und dessen Wurzelreich, welches Gitterstäben gleich noch zu guten Teilen mit dem Erdreich verbunden war. Unter dem unerbittlichen Traben, welches erneut an seine Ohren drang, zwängte sich der Novize in die aus Dreck, Schmutz und Wurzelreich geformte Kuppel, an der Mutter Schwein nach einem ersten, verzweifelten Anlauf nicht vorbeikam und nun mit aller Macht daran zu schaben begann.

Sein Körper schmerzte und er fühlte Schwindel, während seine Augen zwanghaft nach einer Möglichkeit suchten, das selbstgesuchte Gefängnis zu verlassen, ohne dass das Tier einen erneuten Angriff starten würde. Sein Bitten an seinen Herrn, ihn nicht so, nicht hier verenden zu lassen, war weitestgehend nicht mehr als ein Stammeln, während die Erkenntnis des großen Fehlers, den er gemacht hatte, in ihm aufzuflammen begann. Er sah sich als das, was er war: Ein kleines Licht im Leuchtfeuer der Lebewesen, die in den Tiefen dieser Welt, der Natur, fernab der von Mithras gegebenen Ordnung lebten, in die er sich so sorglos hineinbegeben hatte. Seelenlose Diener, Gegenstände, Werkzeuge des Chaos, das die Natur darstellte und von denen einer nun danach trachtete, einem Diener der Ordnung das Handwerk zu legen.

Immer kleiner, hilf- aber auch harmloser fühlte er sich. Was würde er schon ausrichten können, welche Gefahr konnte er für diese Kreatur schon sein, die nur aus einem Instinkt, aus einer Gewohnheit heraus eine Gefahr für ihre Zöglinge gesehen hatte, die niemals bestanden hatte? Der Novize schloss die Augen als erneut eine Welle des Schmerzes in ihm aufwallte und sein Kopf sich dagegenzustemmen begann, beinahe brüllte, dass es hier nichts zu holen gäbe, nichts für das sich die Anstrengung lohnen würde und nichts, für das man weiter die wertvolle Kraft einsetzen musste, wenn die für den eigenen Fortbestand so wichtigen Ferkel doch schon längst weit weg und in Sicherheit waren. Hier gab es nichts. Nichts außer einem harmlosen, verirrten Novizen, der sich dem Wunsch ergab, dieser blinden Wut mit all' der Gefahrlosigkeit entgegenzutreten, die er aufbieten konnte. Hier gab es nichts. Nichts.

Das Rufen einer fernen Krähe drang an die Ohren des Berobten und er öffnete, als hätte er unendlich lange geschlafen, die Augen. Das in den Wald herabdringende Licht sprach dafür, dass es tatsächlich später geworden war und zu seiner Überraschung hörte man nur den Gesang der Vögel und das Krächzen mancher Krähen. Die Spuren an den Baumwurzeln waren frisch, der Dreck an seiner Robe und vor allem der Schmerz an seiner Seite waren mehr als nur Versicherung darüber, was gerade eben passiert war. Arhenius hatte das Gefühl, sich verausgabt zu haben, fühlte dieses matte, schwere Gefühl in seinen Knochen und noch immer den leichten Schwindel, der ihn auch am Boden umgeben hatte.

Auf dem Rückweg, den er stets auf den Wegen zurücklegte, die ihm der Wald offenbarte, beschlich ihn jedoch noch etwas: So matt wie er sich fühlte, so erschöpft wie er war, begleitete ihn doch das frische Gefühl einer Veränderung die er nun greifen konnte, die er, wenn auch unkontrolliert, nutzen konnte.
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Der Pilger - von Gast - 29.11.2014, 19:25
Von der Gosse und der Rettung - von Gast - 01.12.2014, 02:49
Der Weg - von Gast - 04.12.2014, 18:12
Flammen - von Gast - 06.12.2014, 02:59
Harmlos - von Gast - 07.12.2014, 16:58



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