Vom Falken und seiner Beute
#1
Mit einem Buch über heimische Kräuter und Gewächse, einen Apfel als Nachmittagsproviant in der Tasche, Skizzenbuch und Kohlegriffel hatte ich mich aus Vaters Schmiede gestohlen - obwohl gestohlen eigentlich der falsche Ausdruck war, ich hatte keinen Grund für Heimlichtuerei. Ich war nicht in die Fußstapen meines Vaters getreten, dies hatte mir meine angegriffene Gesundheit verboten, aber ich half die Bücher zu führen oder die Kunden zu beraten.

Mit einigem Stolz konnte ich wohl behaupten, dass, seitdem ich die Herrschaft über die ein- und ausgehenden Münzen inne hatte, der väterliche Betrieb einen kleinen, aber nicht zu verachtenden Gewinn abwarf. Vater hatte für derlei Dinge keinen Sinn. Arlo war im Grunde genommen ein einfacher Mann, dem es genügte, am Ende des Tages so viele Silberlinge in der Hand halten zu können, wie er für Met in einer der örtlichen Spelunken und einer Dirne, die ihm des Nachts das Bett warm hielt, ausgeben konnte.

Doch ich war feinsinniger als mein Vater. Überhaupt hatte wir, bis auf einen gewissen Zug um Nase und Mund und das volle schwarze Haar, welches er in einem bereits ergrauendem Zopf und vollem Bart trug, ich dagegen in einem kurzen Schnitt der Mode entsprechend, wenig gemein. Vater war ein Hüne von unerschütterliche Gesundheit, selbst im Alter waren seine Muskeln stark und sehnig, seine Stimme volltönend. Ich war dagegen eher klein geraten, schmal und zierlich, die Haut blass, die Augen moosgrün wie die meiner Mutter.

Als ich noch im Knabenalter war, hatte Vater nie richtig etwas mit mir anfangen können. Nachdem Rose, meine Mutter, einige Fehl- und Totgeburten erlitten hatte, hatte sie schlussendlich doch den langersehnten Sohn, den Stammhalter geboren. Doch ich war ein mickriges kleines Ding, blau angelaufen und runzlig. Die Hebammen und Heiler prophezeiten mir einen frühen Tod und mit dieser Angst lebten meine Eltern Tag für Tag. Mutter fraß diese Sorge allmählich auf und sie schied dahin, still und leise wie es ihre Art gewesen war. Vater ertränkte seine Trauer in Alkohol. Erst in den letzten Jahren, als ich eine gewisse Altersgrenze überschritten hatte und nicht mehr als dahinsiechendes Kind galt um welches man sich aufopferungsvoll kümmern musste, war das Verhältnis zwischen Vater und mir etwas weniger distanziert, vor allem als er erkannt hatte, dass auch ich, so kränklich mein Körper auch sein mochte, immerhin mein Geist zu etwas nutzen sein konnte.

Ich hatte mir mit diesem Nutzen auch eine gewisse Freiheit erworben, die ich nach Lust und Laune ausnutzte, denn Vater wusste unseren neuen, gehobenen Lebensstil eindeutig zu schätzen. Sein Alkohol stammte nun nicht mehr aus irgendeiner dubiosen Hinterhausbrauerei, in seiner aktuell angesagten Taverne wurden die Tische gewischt und die Spucknäpfe regelmäßig geleert und seinen Huren sah man ihr Gewerbe nicht mehr auf Anhieb an. Meinen Verdienst steckte ich in Bekleidung, Bücher oder in die Tasche des Barbiers, der mich bald als Stammgast begrüßte. Und ab und zu zog es auch mich in die verrufenen Bezirke der Stadt, um dort meinen Gelüsten nachzugeben, die sich doch sehr von denen meines Vaters unterschieden, von daher konnte ich recht ungeniert und frei lustwandeln, wie es mir beliebte.

Es war im Grunde genommen ein gutes Leben. Ein Leben, welches mir diverse Heiler auch dann noch abgesprochen hatten, als ich dem Kleinkindalter entwachsen war. Natürlich gab es noch immer Tage, meine “dunklen Tagen”, an denen ich nicht dazu fähig war, das Haus zu verlassen - den Großteil meiner Kindheits- und Jugendzeit hatte ich zwangsläufig im Bett verbringen müssen und hatte die ausgelassenen Tobereien anderer Kinder nur vom Fenster aus beobachten können. Doch mittlerweile kannte ich meinen Körper; erkannte die kleinen Anzeichen, die einen neuerlichen Schwächeanfall ankündigten, wusste um die Tätigkeiten oder Speisen, um die ich lieber einen Bogen machen sollte - ob ich das dann wirklich tat oder dem Genuss wider besseren Wissens den Vorzug gab war eine andere Sache - und hatte im Selbststudium einige Mittel gefunden, die Herz und Lunge stärkten.

Ja, ich war doch recht zufrieden mit diesem Leben, welches dann an jenem wunderschönen Nachmittag im Scheiding einen anderen Verlauf nehmen sollte ….
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#2
Verzweiflung und Armut gaben kein gutes Paar ab. Meine Eltern öffneten so manchem Scharlatan Tür und Tor in der Hoffnung mit ihren wenigen Münzen doch das ersehnte Heilmittel für ihren gebrechlichen Sohn erkaufen zu können. Fragwürdig gefärbte Wässerchen oder Pillen, die höchstwahrscheinlich zusammengekehrten Straßendreck enthielten, waren gegen kräftezehrenden Adlerlass oder dem freizügigen Gebrauch des Seziermessers noch relativ harmlos.

Doch einer jener Quacksalber hatte in der Tat etwas sinnvolles vorgeschlagen: moderate Bewegung an der frischen Luft, die meine vom Liegen geschwächten Muskeln stärken und etwas Farbe in mein blasses Gesicht bringen sollte. Seitdem gehörte ein Spaziergang zu meinem Tagesablauf. Später, als das Interesse für die heimischen Pflanzen geweckt worden war, hatte ich stets Griffel und Notizbuch bei mir, in welches ich rasch Skizzen zeichnen oder besonders schöne Funde von Blüten und Kräutern einpressen konnte..

An jenem folgenschweren Nachmittag suchte ich eine Wiese hinter der Ortsgrenze auf. Es war zu erwarten, dass ich Natur und goldene Herbstsonne alleine genießen konnte, doch kaum hatte ich mich auf einem Stein niedergelassen und wollte mein Büchlein zücken, da brach ein Schimmel aus dem nahen Unterholz hervor und drehte mit nervös peitschendem Schweif, angelegten Ohren und rollenden Augen seine Runden. Es war ein prächtiges Tier, das erkannte selbst ich, der ich keine Ahnung von Pferden hatten. Der Reiter lag vermutlich irgendwo abgeworfen fluchend auf dem Boden.

Ich näherte mich dem Tier vorsichtig und sprach leise Worte; irgendeinen beruhigend klingenden Kauderwelsch, der für menschliche Ohren wohl keinen Sinn ergeben würde. Doch das Pferd ließ sich besänftigen und ich konnte nach dem Zaumzeug greifen. Sattel und Zügel waren aus feinstem Leder gearbeitet und mit Silber verziert. Während ich in meiner Tasche nach meinem für später angedachten Imbiss, einem Apfel, angelte, um mich weiter der Gunst des Tieres zu versichern, erklang ein Gekreische, welches jedem Droschkenkutscher  die Schamesröte ins Gesicht treiben würde.

Eine junge Frau peitschte mit ihrer Gerte einen tiefhängenden Ast beiseite und stürmte auf den Schimmel los, dessen Panik angesichts der heranpreschenden Furie wieder wuchs. “Aus dir lasse ich Fleischklopse machen, du Rindvieh!” Diese Drohung war eindeutig an das Pferd gerichtet. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres Jähzorns gab sie ein atemberaubendes Bild ab: sie hatte blondes Haar, blitzende hellblaue Augen, ihr tadellos sitzendes Reitkleid umschmeichelte ihre ranke Figur. Blätter und Zweige, die sich in Stoff und Haaren dank des Sturzes verfangen hatten, störten das Gesamtbild kein bisschen, machten es sogar noch um einiges reizvoller. Sie wollte dem Tier ein paar kräftige Schläge mit ihrer Peitsche verpassen, doch ehe sie noch ausholen konnte, hatte ich ihr Handgelenk gepackt. “Ihr werdet Euch jetzt beruhigen, Madame!”, mahnte ich eindringlich zwischen meinen Zähnen hindurch.

Ich kann es mir bis heute nicht erklären, woher dieses Aufbegehren oder die Kraft kam, Pferd und Frau in Schach zu halten. Im Grunde genommen hatte ich mit ihnen nichts zu schaffen und wenn sie ihrem Tier ein paar Hiebe geben wollte, was war es an mir, mich einzumischen? Beide hätten sich mit Leichtigkeit meinem Griff entziehen können. Doch die junge Frau schien über alle Maßen verdutzt zu sein, dass sie Widerwehr erhalten hatte und blinzelte mich einige Momente stupide an. Wahrscheinlich hatte sie mich in ihrer Rage gar nicht bemerkt und nur ihr treuloses Reittier, welches sie abgeworfen hatte, im Blick ihrer zornessprühenden Aufmerksamkeit gehabt. Das Pferd beruhigte sich zum Glück rasch wieder, da die kreischende Gefahr gebannt schien.

Und war dies noch nicht genug Verkehr auf jener beschaulichen Wiese im Scheiding, kamen vom nahen Weg her zwei weitere Reiter. Mit einem innerlichen Stöhnen erkannte ich ihn ihnen einen aufgeblasenen Kunden meines Vaters - einen von jenen Sprösslingen der reicheren Familien, die meinen, ihnen gehöre die Welt und sie müssten jeden weniger begüterten wie Dreck behandeln -  und dessen Bursche, dem man an seiner Leidensmine und den herabhängenden Mundwinkel sein beklagenswertes Los, für einen solchen kaltherzigen Herren arbeiten zu müssen, geradewegs ansehen konnte.

Natürlich würdigte mich der Herr keines Blickes, obwohl ich sehr wohl wusste, dass er mich erkannt hatte. Er hatte um den ohnehin niedrigen Preis einer Zierrüstung feilschen wollen, aber da ich einen sehr guten Tag gehabt hatte, hatte er sich an mir die Zähne ausgebissen und später sogar noch mehr bezahlt als anfangs vereinbart worden war. Dies musste an seinem Stolz gekratzt haben, was ich an seiner nun sehr harten Kinn- und Mundpartie ausmachen konnte. Der Bursche lehnte sich mit schaulustiger Miene in seinem Sattel zurück; auch er hatte mich offenbar erkannt.

“Erianna, ich habe eindeutig gewonnen. Vor allem, wenn Du hier absteigst, um dich mit … ehm, diesem Pöbel abzugeben!”. Ich sah zum Reiter hin und konnte nicht umhin, eine Augenbraue recht deutlich hochzuziehen. Er hatte die Situation nicht im Geringsten erfasst. Und ganz gleich, was passiert war, ein wahrer Edelmann wäre wohl sogleich vom Pferd gestiegen und hätte sich zuallererst nach dem Befinden der Dame erkundigt, als großspurig seinen Triumph zu verkünden. Erianna schnaufte und warf ihm einen undeutbaren Blick entgegen. “Ich habe keine Lust mehr auf Deinen kleinen Wettkampf oder den Ausritt, Erik. Dein Bursche kann Reimar nehmen. Ich gehe zu Fuss nach Hause.”

Ich hätte am liebsten auflachen mögen. Erik blähte sich auf wie eine Kröte, die dem Zerplatzen nahe war und wusste im ersten Moment gar nicht, was er erwidern sollte. Stattdessen schnappte er nach Luft. “Hast Du nicht gehört?”, fuhr ihn die junge Frau daraufhin an und warf dem Burschen einen herrischen Blick zu. Erianna war es eindeutig gewöhnt, dass man ihren Wünschen Folge leistete. Der Junge beeilte sich, mir Reimar abzunehmen und zwinkerte mir in einem kurzen unbeobachteten Moment schadenfroh zu - die Genugtuung der kleinen Leute, wenn einmal nicht sie, sondern ihre Herren etwas von dem Dreck fressen musste, den sie sonst nach unten verteilten.

“Wir sehen uns beim Abendessen.”, murmelte Erik verzagt, wendete sein Ross und war nicht ganz so schnell verschwunden, wie er angekommen war, denn er warf immer wieder ungläubige, verärgerte Blicke über seine Schulter zu seiner nun ehemaligen Reitgefährtin und mir zurück. Der Bursche folgte ihm mit einem nun wieder sehr geruhsamen Reimar am langen Zügel.

Erianna hat mich derweil mit ihrem hellen Blick regelrecht ausgezogen. Ich kam mir vor, als sei’ ich ein äußerst seltenes, aber, jedenfalls im Moment noch, interessantes Insekt, welches man auch noch später zertreten könne, wenn es seine anfängliche Faszination eingebüßt hatte. Nicht viele Menschen unterhalb ihrer Klasse hatten es wohl gewagt, sich Erianna entgegenzustellen, ganz zu schweigen von Personen ihres Umkreises, oder sie gar zu maßregeln und sie wollte wohl im Laufe des Spaziergangs entscheiden, ob ihr das gefiel oder nicht.

Drei Monate später waren wir verheiratet.
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#3
Erkundung des Wolfsried, Wandelmond 1406

“Du willst wohin?” Valeska verschluckte sich beinahe an ihrem Brötchen, von dem sie mit ihrem unterschüttlichern Appetit herzhaft abgebissen hatte, und blinzelte mir in einer Mischung aus Überraschung und Schrecken entgegen. Die Stallmagd aus dem Neuen Hafen, wo ich bis vor kurzem ein einfaches Zimmer im Kontor bewohnt hatte bevor ich in ein komfortableres und geräumigeres Quartier umgezogen bin, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mich zwei bis drei Mal die Woche meist zur Frühstückszeit in der Altstadt zu besuchen und sich zu beklagen, wie langweilig ihr Dienst im Stall geworden ist ohne jemanden in der Nähe zu wissen, bei dem sie zum Plaudern unterkommen kann.

Nachdem ich in aller Ruhe meinen Schlucken Tee getrunken und die Tasse abgestellt hatte, erklärte ich mit einem nachsichtigen Lächeln: “In den Wolfsried. Sehen, ob dort noch einige dieser Schreckensbäume wachsen.” Ich ließ mein angebissenes, mit Butter bestrichenes Brötchen auf dem Teller liegen und stemmte mich empor, um meine Tasche zu packen, die ich gedachte, mit auf den kleinen Ausflug zu nehmen. Valeska hatte währenddessen ihre Kaubewegungen wieder aufgenommen und stierte brütend vor sich hin. Seitdem sie mir über den Jahreswechsel über einen ziemlich heftigen Schwäche- und Hustenanfall hinweggeholfen hatte, behandelte sie mich wie einen ihrer ihr anvertrauten Gäuler und insgeheim fluchte ich darüber, dass sie ausgerechnet heute hier auftauchen und ich mich ihr erklären mussten.

“Sie schickt dich, ja?”, fragte sie spitz, während ihr Blick die Briefe aus Hohenquell, welche ich auf dem Tisch liegen gelassen hatte, um die Abschrift des Berichts einer Priesterin aus dem Jahre 1402, als Bäume ebenfalls zum Leben erwacht sind, mit auf meinen Ausflug zu nehmen, regelrechte durchbohrte. Valeska hatte eine rasche Auffassungsgabe und es hätte nichts gebracht, an dieser Stelle irgendetwas zu leugnen oder so zu tun, als wisse ich von nichts. “Sie schickt mich nicht. Sie hat mich darum gebeten. Das ist ein feiner Unterschied.” Ich vertraute Valeska, aber ich hatte versprochen, dass der Inhalt der Korrespondenz vertraulich bliebe, also wanderten die gesammelten Schreiben mitsamt dem Bericht in meine Tasche. Natürlich fehlten neben dem unverweigerlichen Notizbuch und Griffel nicht etwas Proviant und ein Wasserschlauch. Meine Kräutersichel würde ich am Gurt tragen, eher als Abschreckung und Verteidigung gegen Gesindel auf dem Weg.

“Sie weiß aber schon, dass du … also … sie weiß über deine … ähm …” Das Mädchen ließ nicht locker und ich ließ sie noch ein Weilchen zappeln, ehe ich sie sanft erlöste: “Sie weiß um meine … Befindlichkeit, ja.” Das war eine wirklich harmlose Beschreibung für meinen dahinsiechenden Gesundheitszustand “Und es wäre nun ohnehin zu spät, den Ausflug abzublasen.” “Zu spät, wie meinst du das?” “Ich habe, bevor du erschienen bist, ungefähr die doppelte Dosis meiner üblichen Stärkungsmittel eingenommen. Wenn ich mich nun nicht wenigstens ein klein wenig verausgabe, werde ich die nächsten Tage mit pochendem Herzen und aufgerissenen Pupillen hellwach umherwandeln und dann einen ziemlichen Absturz erfahren.”

An ihrer gefurchten Stirn und dem stierenden Blick erkannte ich, dass sie über meine Worte nachdachte und sich wohl fragte, ob das nur ein Scherz gewesen sei. Mein leises Auflachen ließ sie weiter im Unklaren und ich machte mich daran, weiter meine Habseligkeiten zu packen und schlussendlich die derben Stiefel, die gerade recht waren für eine Wanderschaft im Moor, überzustreifen. Gänzlich übertrieben hatte ich nicht. Ich hatte meine Heilmittel heute etwas großzügiger bemessen und auch ein Fläschen mit zu meinen Sachen getan. Nur die Wirkung hatte ich vielleicht etwas übersteigert beschrieben.

“Dann komme ich mit!”, verkündete die Stallmagd in einem letzten Versuch des Aufbegehrens. “Nein, wenn ich morgen Abend nicht zurück bin, muss ja irgendwer Bescheid wissen, wo ich abgeblieben bin.”, entschied ich ohne Widerrede zuzulassen und drückte Valeska einen Kuss auf den Schopf. “Mach dir nicht zu viele Sorgen. Zieh die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.” Und rasch nahm ich die Stufen nach unten und war zur Straße hinaus.

Es war erstaunlich, wie schnell ich voran kam, wenn ich einmal nicht zu allen Seiten ins Gebüsch sprang, um ein besonders schönes Exemplar der Steinraute oder der Tollkirsche zu bewundern und eventuell in mein Notizbuch zu skizzieren. Der Tag versprach, warm zu werden, ohne bereits die schwüle Hitze des Sommers mit sich zu tragen und ich konnte unbehelligt und mit aufgerollten Ärmeln zunächst der Straße Richtung Ravinsthal, dann der Eisenstraße folgen. Gegen Mittag machte ich Rast am Mithrasschrein. Während ich Apfel und Käse verzehrte, zog ich nochmals den Bericht zu Rate. Ein Schauer jagte mir wie stets bei der Lektüre über den Rücken: Mir vorzustellen, dass einer jener Bäume ein Mädchen in sich getragen hatte, welches mehr tot als lebendig gewesen sein und sicherlich ungeheure Schmerzen erlitten haben musste, war eine grässliche Vorstellung, auf die ich mir allerdings keinen Reim bilden konnte.

Nachdem ich mich gestärkt hatte, ging ich zur nächsten Etappe meiner Reise über. Die Straße führte mich nicht weiter. Ich hatte eigentlich gedacht, bis zur Grenzfestung durchzukommen, aber die Brücke war unpassierbar, so dass ich mich schneller als gedacht ins Moor schlagen musste. Die Indharimer hatten während ihres Feldzuges irgendeine Hexerei mit dieser Gegend angestellt. Nur vereinzelt hörte ich den Ruf eines Vogels oder das Rascheln des Schilfs, wenn der Wind hinweg blies - ansonsten war es beinahe unheimlich still. Doch eines hatten auch die Fremdländer nicht vertreiben können: Dank der lauen Temperaturen und den morastigen, feuchten Pfützen hatten die Mücken bereits jetzt am Anfang des Frühjahrs gut gedeihen können. Während ich aufpassen musste, nicht bis zum Knie im Schlamm zu stecken, wedelte ich mir diese lästigen Viecher vom Leib, doch gänzlich verhindern, dass sie mich stachen, konnte ich nicht.

Ich muss gestehen, dass ich den eigentlichen Auftrag meines Ausfluges etwas aus den Augen verlor. Der Wolfsried schien nicht die bevorzugte Gegend für meine geschätzten Kollegen Kräutersammler zu sein und so konnte sich Pflanzen, die in den Wäldern Servanos recht schnell ausgerupft wurden, gar prächtig entwickeln. Rasch hatte ich meine Tasche mit einigen fetten Kräuter- und Gewächsexemplaren gefüllt. Aber auch als ich mich darauf besann, nach verkümmerten, garstigen Weiden Ausschau zu halten, fiel mir nichts dergleichen ins Auge. Ich konnte allerdings auch nicht weiter in den Ried vordringen, als der kleine Kreis, den ich bereits zum wiederholten Male gezogen hatte. Zum einen machte mir mein erschöpftes Herz einen Strich durch die Rechnung, zum anderen regte sich in Richtung Hohenmarschen doch mehr garstiges Getier im Röhricht als Anfangs vermutet. Auch wenn ich auf der Höhe meiner Kräfte gewesen wäre, hätte ich mit meiner Sichel und Faust nicht viel gegen diese Biester ausrichten können.

Es war ohnehin Zeit, heim zu kehren. Es dämmerte bereits und die Luft wurde zunehmend kühler und dünner. Auch der Gedanke, dass nun doch ein paar der Bäume zum Leben erwachen würden, ließ meine Füße schneller Richtung Eisenstraße und somit Löwenstein eilen. Sollte ich es hierbei belassen oder nochmals zurückkehren mit schlagkräftiger Hilfe an meiner Seite? Ich war mir nicht ganz schlüssig. Der Bericht, den ich nach Hohenquell schicken wollte, würde recht unbefriedigend ausfallen, aber vielleicht gab es auch nichts weiter zu entdecken, außer ein paar abnormen Kröten und räudigen Sumpfratten? Die Nachtwächter hatten die Laternen angezündet, der abendliche Wachwechsel an den Stadttoren war längst vollzogen, als ich mich Richtung Altstadt schleppte. Ich sehnte mich nach einem Zuber mit kaltem Wasser, um mir den Schweiß vom Leib zu waschen und die zahllosen Mückenstiche zu kühlen, ein frisches Hemd und eine heiße Tasse Tee.

Der Ausflug stellte sich im Nachhinein doch als kräftezehrender heraus als gedacht. Eine weitere Expedition schon am darauffolgenden Tag hätte mich sicher für zwei oder drei Tage ans Bett gefesselt. Die nächste Zeit verbrachte ich zu Hause im Morgenmantel damit, meine Eindrücke, auch für mich selber, niederzuschreiben, die gefundenen Kräuter zu klassifizieren, und Valeska, die mir mit ihrer triumphalen “Ich-habe-es-ja-gewusst!”-Miene ordentlichen auf die Nerven ging, mit Botengängen zur Bibliothek (“Da gibt es ein Buch über diverse Sümpfe Amhrans, das könntest du mir bitte besorgen!”) dem Markt (“Butter ist aus!”) oder gar Ravinsthal (“Schreinerin Larija hat sicher ein paar Angebote parat. Bestell ihr doch meine besten Grüße!”) zu beschäftigen. Ich konnte nur hoffen, dass der Bote meine mündliche Nachricht, dass eventuell die nächsten Tage keine Briefe zu erwarten wären, zuverlässig in Hohenquell aufgesagt hätte und die Empfängerin sich keine Sorgen machte beziehungsweise unerwarteterweise im Zimmer stehen würde …
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#4
Hexerei und Haferbrei, Heuert 1406

https://forum.arx-obscura.de/thread-2058...#pid263334

Keine Verwicklungen. Als ich meine bisherige Heimat Hammerhall und mein Geburtslehen Nortgard zwangsweise verlassen hatte, hatte ich mir geschworen, im Sinne meiner Gesundheit die mir verbleibenden Jahre ohne zehrende zwischenmenschliche Verstrickungen zu verbringen; ein kleines Auskommen würde sich wohl finden lassen, um damit eine passable Unterkunft bezahlen zu können und ab und an den körperlichen Trieben nachzugehen und ansonsten wollte ich den Unbillen meines kurzen Lebens mit einem spöttischen Lächeln begegnen ...

... und nun sass ich am Rand (meines) Bettes, grübelte darüber nach, warum sich ein Hexenmeister wie der Gewinner eines Holzfällerwettbewerbes nannte, und hielt die zarte Hand der Person, die mir in den vergangenen Monaten viel mehr als nur seelischer Beistand oder Medica geworden war. Im Grunde genommen hatte das Abstand halten auch schon nicht bei Valeska, der Stallmagd im Neuen Hafen nahe meiner alten Behausung funktioniert, und dafür war ich sogar dankbar. Denn sie war es, die ich in meiner Hilflosigkeit herbei geholt und die sich dann tatkräftig um die "hygienischen" Dinge meines bettlägerigen Gastes gekümmert hatte. Ich selber war recht gut darin, krank siechend auf der Bahre zu liegen, aber derjenige zu sein, der die Krankenpflege übernahm, war ein vollkommen neues Terrain und schmerzhaft ungewohnt.

Natürlich hatte ich daran gedacht, Goldähren oder Ria zu kontaktieren. Auch der Lehensritter fiel mir ein oder der von ihm bereit gestellte Leibwächter. Aber wie hätte ich Innes' Zustand erklären sollen, ohne allzu großes Misstrauen oder Aufsehen zu erregen. Die Hexer beobachteten uns eventuell und ich hatte in den ersten Tagen nach diesem Ritual weder Kraft noch Geduld, mich unangenehmen Fragen stellen zu müssen. Höchstwahrscheinlich würde einer von ihnen früher oder später ohnehin an meine Tür klopfen - Goldähren, Ria, die Sers Kordian oder Mendoza, irgendein Tempeldiener oder Beamter, bloß nicht die Hexer! - , war es doch wohl mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass die Priesterin im Altstadtweg ein und aus ging, wie es ihr beliebte.

Ich hatte es Innes (und eventuell auch zu einem kleinen Teil dem Heilmittel, welches ich seit ungefähr einer Woche brav schluckte) zu verdanken, dass ich relativ munter auf meinen zwei Beinen stand, während sie ihre Kraft geopfert hatte, um wenigstens einem von uns die Qual zu ersparen, diesen vermaledaiten Hexern zu dienen. Sie hatten uns beim Überfall im Südwald jeweils eine Haarsträhne gestohlen und uns dann mit garstigen Träumen gequält, die uns letztendlich obsessiv zum Grab eines Nortgarder Landsmannes führten, wo uns die Hexerriege aufgriff, um uns ihnen mithilfe eines blutigen Rituales willfähig zu machen.

Doch wo keine Kraft war, konnte man auch keine rauben und ich war relativ schnell marode und hing in den Fesseln und hätte beinahe alles gesagt, um dieser Qual zu entgehen. Doch die Priesterin flehte ihrem Gott entgegen und ich fiel in eine gnadenvolle Ohnmacht, während Innes die Eidworte sprach ... Meine Wahl wäre eine andere gewesen. Ich hatte nicht im geringsten die weiße Weste, welche Innes mir immer mit Freuden überzog, zudem hatte ich meine mir prophezeite Lebenszeit bei Weitem überschritten. Meine Wahl wäre auf sie gefallen, wenn schon einer gerettet werden sollte, dann wohl sie.

Ich las ihr aus meinen Lektüren der Kräuter - und Gelehrtenkunde vor, erzählte ihr Geschichten aus meiner Heimat, oder versuchte ihr Hühnersuppe einzuflössen. Ihr Zustand bessert sich kaum merklich, als der Brief der Erzpriesterin eintraf oder ich die Grüße von der Rabenkreislerin ausrichtete. Ab und an musste ich aus dem Haus (hatte ich schon erwähnt, dass ich einen hundsmiserablen Krankenpfleger abgeben würde?) und schaute in der Vogtei und bei Odelia, meiner Verkaufsgehilfin vorbei, oder schlug mich einfach in den Wald, um dort die Antwort darauf zu finden, warum man zwei Menschen für eine Einkaufsliste derart traktieren musste. Nein, auch wenn fähige Schneider recht schwer aufzutreiben waren, es musste noch mehr dahinter stecken.

Am vierten Tag dann endlich schien Innes aus ihrem Dämmerschlaf zu erwachen und verlangte Haferbrei. Hunger war immer ein gutes Zeichen (das kannte ich auch von mir) und ich schickte die gute Valeska, die entsprechenden Zutaten zu besorgen. Ich konnte nur hoffen, dass es von jetzt an weiter bergauf ging und sich die Erzpriesterin von wo auch immer eilen würde, damit auch diese Episode letztendlich nur eine fabelhafte Geschichte in unser beider Lebenslauf abgeben würde ...
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#5
Es tat gut, eine Zukunft zu haben, Gilbhart 1406

Bisher hatten drei Personen eine entscheidende Rolle in meinen Leben gespielt. 

Meine Mutter Rosamunde, von allen Rose genannt weil sie ihren eigentlichen, von ihrer Großmutter stammenden Namen nicht ausstehen konnte, lebte in der Vergangenheit. Sie versucht so verzweifelt, den Fehler meiner Geburt, der dazu geführt hatte, dass ich ein schwaches, krankes Kind gewesen bin, rückgängig zu machen, dass sie sich allmählich zu einem Monster verwandelt hatte. Sie war meine Welt gewesen und gleichzeitig langsam und sicher mein Untergang. Wäre sie nicht gestorben, hätte mich eine ihrer fixen Ideen in Form von unseriösen Pillen, Aderlass oder Sezierwerkzeug früher oder später sicher umgebracht. 

Mit Marcos, meinem atemberaubenden Geliebten, existierte nur die Gegenwart. Wir lebten von einem heimlichen Treffen zum nächsten und genossen die Stunden, die wir gemeinsam hatten. Die Vergangenheit war nicht wichtig, eine Zukunft gab es nicht. Er hätte seine warmherzige Frau und die vier Töchter nie für mich verlassen. Es war eine Liebe auf Zeit und damals war es mir recht. 

Mein Eheweib Erianna hingegeben plante eine Zukunft. Im Grunde genommen lebte sie nur für die Jahre, die vor ihr lagen. Herrliche Jahre, in denen sie tun und lassen konnte, was ihr beliebte. Einen Platz für mich gab es in diesen Vorstellungen jedoch nicht: Ich war bereits gestorben und hatte unsere Abmachung, ihr für eine durch mein Herzleiden begrenzte Zeit mehr oder weniger mustergültiger Ehemann zu sein, eventuell ein oder sogar zwei Kinder zu zeugen, dafür auf Kosten des Familienreichtums meine mir verbleibenden Jahre in Sorglosigkeit und Wohlstand zu verbringen, erfüllt. 

Als ich meine Heimat dann verlassen und nach Löwenstein gekommen bin, hatte ich weder eine Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft. Ich radierte den Mann, der ich gewesen war, bis auf den Vornamen aus. Ich wollte von Nortgrad und den Geschehnissen dort einen weiten Abstand nehmen und die Erinnerungen daran am besten ganz tief in meinem Gedächtnis vergraben und nie mehr hervorhohlen. Ich hatte keine Ahnung, wie und ob ich in der Hauptstadt bestehen würde und an die möglicherweise miserable Zukunft, welche glücklicherweise wegen meiner Befindlichkeiten nicht allzulange andauern würde, sollte ich versagen, wollte ich nicht denken.

Und dann lernte ich Innes kennen.

Mit ihr schien meine Vergangenheit weniger scharfe, schmerzende Kanten zu haben. Die Priesterin weinte um das, wofür ich schon lange keine Tränen mehr hatte oder nie gehabt habe. Die Gegenwart war herrlich, unkompliziert, erregend. Und sie plante voraus und in diesen Plänen spielte ich eine der Hauptrollen. 

Es tat wirklich gut, eine Zukunft zu haben. Obwohl ich wusste, dass es nur eine Illusion war. 

Das Heilmittel hatte versagt. Vermutlich war mein Leiden schon zu weit fortgeschritten oder mein Körper weigerte sich nach den jahrelangen, folterartigen Heilkuren meiner Mutter schlichtweg, ein neues Medikament anzunehmen. Es gab Tage, da kam ich kaum aus dem Bett. Ich verschleierte dann meine Abwesenheit, indem ich Studien oder Kräutergänge vorschob. Dieser dämliche Stock war nun mein gebräuchlicher Begleiter. Ich gebe zu, er gab mir irgendwie einen distinguierten Anstrich, auf den ich aber liebend gerne verzichtet hätte. 

Innes kannte mehr von mir als jeder andere Mensch und auch das war bislang nur die halbe Wahrheit. Sie zog mir beständig eine nicht verdiente weiße Weste an. Sie hatte stets Verständnis für meine Lage. Ich war eine Ehe aus reinem Kalkül eingegangen, hatte meine Frau mit einem verheirateten Mann betrogen - nicht, dass Erianna besser gewesen wäre, aber der Eheschwur war nun mal ein Eid vor Mithras - und war feige in ein anderes Lehen geflohen. Selbst dann fand die Priesterin noch tröstende Worte und natürlich wieder Tränen. Sie kannte noch nicht einmal meinen richtigen Namen. Es konnte nur bergab gehen. 

Irgendwann, es war nur eine Frage der Zeit, würde Innes die Entscheidung, dass ich der Mann wäre mit dem sie leben wollte, bitter bereuen. Sie verschwendete ihre besten Jahre an mich und manchmal wünschte ich mir, dass ein anderer Mann, eine andere Frau, irgendjemand kommen und ihr Herz stehlen würde. In meiner Verderbtheit hatte ich nicht den Mut, sie selber wegzuschicken, denn dafür hing ich zu sehr an ihr. An ihrem Lachen, dem roten Haar, ihrem verschmitzten Charme, selbst an ihrer verdammten, unförmigen roten Kutte. 

Wenn sie von dannen gezogen wäre, in ihre verdiente Zukunft, echt und wahrhaftig, wäre ich endgültig ein gebrochener Mann. Aber für wenige Monate in meinem jämmerlichen Leben hatte ich die Illusion einer strahlenden Zukunft vor mir gehabt. Und mehr kann ein Mann wie ich kaum verlangen.
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