Sonnenwende
#1
Die Dunkelheit lächelt, während sie sich ausbreitet, die Lichter erlöschen lässt.
"Warum bettelst du um den Tod? Gefällt dir meine Gesellschaft nicht mehr?"




Die letzten Tage des Sommers waren vorüber, daran konnte es trotz der letzten glutheissen Tage keinen Zweifel geben. Es lag eine Vergeblichkeit in diesem Aufbäumen, die meine Laune trübte sobald die Sonne sich im Westen glutrot dem Horizont entgegenstreckte.
'Alles stirbt.' - flüsterten die Bäume mir zu, während ihre Blätter noch in das prachtvolle Gewand von Rot und Gelb gekleidet waren.
'Alles stirbt.' - murmelte der Bach in seinem halb ausgetrockneten Bett, während er sich an gesammelten Ästen und Zweigen vorbeizwängte, stinkenden Schmutz auf Inselchen aus Sand und Stein abladend.

Als hätte ich die Erinnerung nötig. Als wäre die nahende Dunkelheit nicht schon genug, um das Herz zum rasen zu bringen. Ich hasse es, wie den Tagen jeden Tag ein wenig mehr gestohlen wird.

"Gerald ist ausgeflogen."
Wie gewöhnlich sahen die Marktweiber über mich hinweg, während sie ihren Tratsch zum Besten gaben und ich ignorierte sie auf gleiche Weise. Die einfachen Leute haben ein lange Gedächtnis und wenn auch Einzelne vergeben mögen: Die Menge ist gnadenlos. Vielleicht wäre es anders, wenn ich damals in mein altes Leben zurückgefunden hätte, aber damit verhielt es sich wie mit einem Paar viel zu kleiner Schuhe: Egal wieviel Mühe ich mir gegeben hätte, sie hätten niemals mehr gepasst und wer möchte schon durch das Leben humpeln.

Zur Hölle mit ihnen.

Und dennoch spitzte ich die Ohren.

Es wäre falsch zu sagen, dass ich in der Hütte des alten Jägersmannes willkommen gewesen wäre, aber im Laufe der letzten drei Jahre hatte ich dort mehr als nur einmal Halt gemacht, die Beine auf der krummen Bank an der Südseite ausgestreckt und hinuntergestarrt in das Tal und auf die Häuser die sich dort an die Hänge drückten. Die hübschen roten und gelben Dächer sprachen überdeutlich von der Existenz der beiden Tongruben nördlich der Siedlung, aber das Muster verriet nicht, wie erbittert seit Generationen zwischen den verfeindeten Besitzern gestritten wurde. Sein Dach in Rot oder Gelb einzukleiden war hier mehr als nur die Laune eines Augenblicks und die langen Wintermonde boten hier viel Gelegenheit die Langeweile in Groll umzuwandeln.

Dafür gab es einen einfachen Grund: Der schnelle Passweg Richtung Löwenstein war sobald der erste Schnee das Tal erreichte, unpassierbar und die Hütte des Alten gewöhnlich der letzte Halt für Wanderer, die den Ausführungen der erfahrenen Dörfler einfach nicht glauben wollten.

Mit etwas Glück bekamen sie hier einen heissen Grog.
Mit noch ein wenig mehr davon kam vielleicht die Einsicht, dass hier erst im Frühjahr ein Durchkommen wäre.

Und doch sammelte Gerald Jahr für Jahr die Habseligkeiten der Erfrorenen ein, brachte sie zurück in seine Hütte und von dort aus im Frühjahr hinunter ins Dorf. Wo sie dann neben all den Dingen, die ein einsamer Jäger in zugiger Höhe braucht, auch in Grog umgesetzt wurden. Der Kreislauf des Lebens in voller Pracht.

Ich kann bis heute nicht sagen, wie er mich fand und warum das Leben noch nicht ganz aus mir geflohen war.

"Hallo?"

Erst vor einer Woche hatte ich den mürrischen Jägersmann dabei beobachtet, wie er eine erlegte Gans rupfte ohne dabei auch nur einmal in meine Richtung zu blicken. Alles an seinen Bewegungen verriet Gewohnheit, eine Gewohnheit, die sich durch mich weder stören noch beeinflussen liess. Er möchte mich aus dem Schneefeld gezogen haben, aber das hatte uns nicht .. verbunden. Was es an Worten zu wechseln gegeben hatte, war bereits vor einem Jahr besprochen worden und seitdem hatte sich an den Umständen wenig geändert.
Er war damit zufrieden und ich war es auch.

Der Frühling kam und dann der Sommer, die Blätter fielen und dann herrschten die langen Nächte.
Ein Jahr. Ein weiteres Jahr. Und noch eines in dem ich darauf wartete, dass die Wunden heilten.

Und nun war die Hütte verlassen.
An einem anderen Tag hätte ich dem kaum Aufmerksamkeit geschenkt: Wie ich war der Jägersmann ein Zugvogel, den seine Berufung durchaus für Tage, bisweilen sogar Wochen von seinem Wohnsitz entfernte, aber dieses Mal war es anders.

Ich wusste es, noch bevor ich die Details bemerkte: Die nicht ganz geschlossene Türe. Die nicht fortgeräumten Teller auf der Fensterbank. Das blanke Beil im Baumstumpf hinter der Hütte. Andere Kleinigkeiten, die das Bild vervollständigten.

Und sonst nichts.
Keine Kampfspuren. Keine Schäden. Nichts, was als Beweis getaugt hätte, nichts, was beim örtlichen Ritter für mehr als ein Stirnrunzeln sorgen würde.

Aber ich wusste Bescheid.
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#2
Es ist still, es ist heiss, es ist finster und sie wagt kaum zu atmen in der Furcht, dass allein das schon genug wäre um die lauernde Dunkelheit zu wecken. Momente reihen sich aneinder und werden zu Minuten, Minuten wachsen und dehnen sich zu Stunden. Und als sie es erstmal wagt die verspannten Glieder zu lockern, klingt das leise Lachen in ihr Ohr.
"Aber ich war niemals fort."






"Name?"

"Delahne Magreid."

"Wohnhaft?"

"Eine kleine Hütte gerade ausserhalb von Eigen am Gamsensteig."

Für den robusten Charme Eigens kam die Amtsstube des Schreibers einer Offenbarung gleich. Die Erinnerung an meinen ersten Besuch vor so vielen Jahren ist noch immer verbrämt vom warmen Gefühl des Staunens und dem Duft der weiten Welt: Über die Jahrhunderte hinweg waren Kleinode aus allen Lehen zusammengetragen, dann sorgsam dekoriert, beschriftet und ausgestellt wurden.
Da gab es einige ausgestopfte Singvögel aus Candaria, die ganz lebensecht in einem Käfig aus Kupferdraht saßen, sogar an die Wasserschale war gedacht worden und direkt daneben thronte in einer Vitrine ein Krummschwert aus Nortgard, das die gravierte Zinnplatte dem Besitz des Barons Sigismut Alteros von Eberklamm zuordnete. Essgeschirr aus Inhdarim, die Maske eines Ravinsthaler Werwolfs, eine aus Granit gehauene Hand von erstaunlichem Detailgrad, der Federschmuck eines garantiert echten Galatiers und natürlich der in Silber gefasste Fingerknochen des Magiers Reonard Parges, der Eigen zu seinen Lebzeiten in Angst und Schrecken versetzt hatte.

"Das ist ein eigenartiger Name. Habt ihr Wurzeln in Indharim?"

Die Schreiber wechselten regelmässig, einige pflegten die Schaustücke mit mehr, andere mit weniger Enthusiasmus, aber niemand wagte es etwas an der festgeschriebenen Ordnung zu ändern. Dieser hier war neu: Ein Mann gerade jenseits der Dreissig und mit einem hungrigen Ausdruck mühsam gezügelten Ehrgeizes in den Augen.
Für Eigen war das nicht ungewöhnlich, denn auch wenn jeder der hierher Verbannten "um eine wertvolle Lektion zu lernen", sich als Unikat dünkte, hatten die Eigener sich bald daran gewöhnt, dass der Baron das Dorf als seine persönliche Abfallgrube benutzte. Ich vermute die Einsicht sorgte hier und da sogar für einen gewissen Stolz.

"Nein. Hier geboren, hier aufgewachsen. Aber es gibt eine kurzweilige Geschichte dazu, wie der Name entstand."

"Bestimmt, Fräulein .. Magreid. Aber die Zeit des Ritters ist kostbar und so ist es auch die Meine. Was kann ich für Euch tun?"

"Frau."

"Bitte?"

"Frau Magreid. Ich war verheiratet."

Wenn er verärgert war, liess er es nicht erkennen, stattdessen fiel die Aufmerksamkeit des Mannes herab auf das Bündel an Pergament, das er offenbar als Vorbereitung auf das Gespräch hatte herbringen lassen. Ein Bündel, das ich ohne Zweifel besser kannte als er und das mir verriet, dass er bereits gewusst hatte wer ich war, bevor mir erlaubt worden war die Schreibstube zu betreten.

"Ihr .. ja, verheiratet mit Peter Magreid. Verstorben bei .."

Und da war er: Der Blick, der das Gelesene, aber Unausgesprochene als grosse Frage in den Raum stellte.

"Ja."

"Lieber Herr Mithras. Ihr seid das also. Mein Vorgänger hat eine hübsche Akte über Euch angelegt. Hier steht auch, Ihr hättet ihn geohrfeigt."

"Das war ein Missverständnis."

"Zweimal."

"Beim zweiten Mal war es Absicht."

"Und Ihr wurdet aus Eigen verbannt für .. ein halbes Jahr."

"Ich kam zurecht."

"Offenbar."

Dieses Mal schätzte er mich genauer ab, suchte nicht allein den Finger der Linken nach einem Ring ab, den ich schon lange zwangsweise eingetauscht hatte.
Ich wusste, was er sah: Die fransig geschnittenen blonden Haare, denen man die Spuren des Messers ansah, die gebräunte Haut, die ihm verraten musste, wie oft ich unter der freien Sonne unterwegs war. Ein Gesicht in dem Unterordnung und Herausforderung miteinander stritten. Robuste, aber abgetragene Kleidung, zweckmässig und schlicht.

"Ihr zieht Euch an wie ein Mann. Ihr gebärdet Euch wie ein Mann. Aber der Verstand verrät doch unfehlbar das Weib und führt Euch in die Irre. Wenn Ihr gekommen seid um darum zu bitten, dass der Bann vor der Zeit aufgehoben wird, dann habt Ihr meine Zeit verschwendet. Ein halbes Jahr. Kein Tag weniger."

"Ich bin nicht deswegen hier."

Die Hände, die bereits dabei waren die Akte zu schliessen, verharrten.

"Was dann?"

"Ich will einen Vorfall melden."

"Ihr wollt mich auf den Arm nehmen. Schon wieder?"
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#3
Sie will aus ihrer Haut schlüpfen, denn das ist die einzige Weise in der sie den Schmerz begreifen kann: Er hat eine absurde Körperlosigkeit, als wäre die Seele selbst angeekelt von der Hülle, die sie bewohnt. Aber alle Glieder sind so schwer und steif wie Holz, fremd wie die Prothese eines Kriegsversehrten.
"Du bist wach." flüstert die Dunkelheit und die Zufriedenheit in diesen wenigen Worten lässt sie erzittern. Aber es gibt keinen Fluchtweg.





Die Schatten wurden bereits wieder länger, als ich Eigen in Richtung Westen verliess und den vertrauten Pfad in Richtung des Passes folgte, aber dieses Mal war die Hütte des verschwundenen Jägers nicht mein Ziel. Wo die saftigen Wiesen des Tales in den Gürtel kalkiger Steine übergingen, die aus der Ferne tatsächlich erschienen als wären sie von der sorglosen Hand eines Giganten hier grosszügig verstreut worden, verliess ich den breiten Pfad und wandte mich in Richtung des aufragenden Dreizacks.

Auch jetzt konnten aufmerksame Augen noch die Spuren jener Steine finden, die einst eine Strasse geformt hatten, aber die vielen Jahrzehnte schweren Wetters hatten die Arbeit der Baumeister beinahe ungeschehen gemacht. Noch ein paar Schneeschmelzen, dann würde auch die letzte Ahnung jenes Weges verschwunden sein, der einst zum rechten Zinken des Dreizacks und der dort aufragenden Feste geführt hatte.
Die Jahre hatten auch an den mächtigen Wehrmauern genagt, aber noch immer reckten sie sich wie die verrottenden Reste eines längst schon toten Zahns in die Höhe, warfen zerfurchte Schatten auf zerklüfteten Fels. Es ist eine Ironie, dass die trutzig aufgetürmten Steine den Ritter von Eigen nicht vor seinem Schicksal bewahrt hatten und die Linie der Klimmsteigs mit ihrem kuriosen Wappen war schon seit Generationen erloschen. Wo einst ehrgeizige Pläne ausgebrütet wurden, duckten sich heute alle Jahre einmal müde Wanderer um ein respektlos entfachtes Feuer.

Anderen Behausungen hatte das Schicksal schlimmer mitgespielt: Von dem kleinen Gesindehaus, das sich kaum mehr als einhundert Schritt von der Feste entfernt am Abhang festgeklammert hatte, war fast nichts mehr zu sehen. Ein steinerner Torbogen war geblieben, wo die Mauern schliesslich eingestürzt waren, die Reste geschwärzter Balken kündeten vom letztlichen Tod dieses Hauses. Die Natur hatte noch nicht begonnen diesen Platz zurück zu erobern: Kein Moos hatte sich auf geborstenen Steinen niedergelassen, keine Gräser hatten sich im Inneren ausgesät, kein Vogel war bereit gewesen sein Nest zu bauen.

Ich war nicht überrascht und auf eigentümliche Weise verspürte ich eine Genugtuung bei dem Anblick: Es war nur gerecht, dass die Grausamkeit, der ich hier beigewohnt hatte ein Echo warf.

Ein böser Gedanke.
Aber es ist so leicht das Gute zu vergessen, während das Schlechte bleibt wie eine ewig schwärende Wunde.

Beinahe konnte ich es vor mir sehen: Ein Schicksal, das nicht von Bosheit und Gewalt durchbrochen worden wäre: Ein karges, aber zufriedenes Leben. Einfach, aber nicht ohne Schönheit. Eine Vertrautheit, die zu Liebe hätte reifen können und dann gewiss Kinder. Drei. Vier. Platz hätte das alte Gemäuer genug geboten.

Stattdessen war es zu einem Scheiterhaufen geworden, in dem sich meine Hoffnungen in gleissende Funken verwandelten.
Ich wünschte, ich hätte die Kraft gehabt mich selbst in die Flammen zu stürzen.
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#4
Der Lärm ist ohrenbetäubend, schrillend und allgegenwärtig - es gibt keine Möglichkeit ihm zu entkommen, ganz gleich, wie sie sich wendet, wie weit sie läuft: Der Lärm begleitet sie und zerfetzt jeden zusammenhängenden Gedanken. 
Der Lärm drückt und würgt, bis sie nicht mehr in der Lage ist, sich auf den Füßen zu halten und fällt.
Stille. Und sie begreift, dass es ihr eigener Schrei war. 
Dann ist das Entsetzen wieder da und wischt die Erinnerung davon. 

Der Lärm ist ohrenbetäubend, schrillend und allgegenwärtig.




Löwenstein war die richtige, die naheliegende Wahl gewesen - das konnte ich nicht aufhören, mir wieder und wieder zu sagen. Das Gefühl von Notwendigkeit war dennoch nicht gewichen, als ich erstmals in die Strassen und Gassen der grossen Hauptstadt eingetaucht war. Nur ein Gesicht unter Hunderten. Nur ein Paar Hände mehr, das die wenigen Habseligkeiten misstrauisch fest hält, wann immer das Wogen der Menge jemanden gegen mich schob. Ein ohrenbetäubender Lärm über all dem: Was normale Gespräche hätten sein können, war Geschrei, durchmischt mit dem Klirren von Waffen dann und wann, mit wütend erhobenen Anschuldigungen und dem Gebell von Hunden. 

Ich hätte mich verloren fühlen sollen, aber es war, als wäre ich heimgekommen.

Ein Gefühl von Notwendigkeit hatte mich hierher getrieben, aber nun, während ich den grossen Strassen entfloh und die engeren Seitengassen wählte, fühlte ich mich rastloser als zuvor. Sieh dir die Häuser an, Delahne: Gezeichnet von der Zeit, die sich Feuer und Sturmfluten zu Diensten machte. Geprägt von Generationen auf Generationen von Anwohnern, die geboren wurden und starben, manchmal so rasch im Wechsel, das ihr Leben kaum mehr sein konnte, als das armselige Flackern eines Irrlichtes.

Was also suchst du? Was du verloren hast, findest du nicht in einer schmutzigen Gasse oder am blanken Metall der Klinge eines Messers.

Messer.

Die Alten in Eigen hatten sich stets unablässig über die Gefahren des Lebens in Löwensteins ausgelassen, ein Leben, das - so ihrer gebildeten Meinung nach - jeden Tag durch Raub und Mord ein Ende finden konnte, ja finden musste. All die Taschendiebe und Strassenräuber, all die Totschläger, Ketzer und Mörder, so hatte man es mir versichert, zogen nach Löwenstein, um dort unter sich zu hausen und zu brüten mit dem einzigen Zwecke neue Halsabschneider zu produzieren.

Ich vermisste diese Tage. 

Eine ganze Schar des so arg geschmähten Volkes hatte sich hier wie ein Rudel Ratten um einen verirrten Spaziergänger versammelt, den es durch irgendein Unglück oder Ungeschick hierher verschlagen hatte: Der Mann war fett genug, um vermutlich die ganze Bande von abgezerrten Halbwüchsigen aufzuwiegen, die ihn in eine Ecke getrieben und umstellt hatten - als bestünde die ernsthafte Gefahr, dass das auserkorene Opfer fliehen konnte. Auch jetzt floss unablässig Schweiss vom beinahe kahlen Schädel herab, jeder der rasselnden Atemzüge stellte für sich die Frage, wie der Mann es überhaupt geschafft hatte, bis in diese dunkle Ecke zu gelangen.

"Auseinander ihr kleinen Ratten oder ich mache euch Beine!"

Da war es: Einer dieser Momente, in der alles auf einer Nadelspitze zu balancieren scheint. Natürlich legte ich die Hand an den Griff meiner Waffe, bleckte die Zähne zu einem selbstbewusst herausforderndem Grinsen, das grossspurige Gewissheit versicherte. All das würde keine Rolle spielen, wenn der Anführer der kleinen Bande entschied meinen Bluff zu prüfen. 
Drei, vier, fünf Herzschläge verstrichen, während ein Halbdutzend Augen mich lauernd anschaute - und dann war der Moment vorüber und die abgerissenen Wegelagerer räumten das Feld. Nicht für lang - um das zu wissen, brauchte man kein erfahrener Veteran der Löwensteiner Gassen zu sein.

"Kommt nun, kommt!"

Den Fetten wieder auf sicheres Pflaster zu bekommen, war im Rückblick die schwierige Aufgabe - nicht nur, weil seine Knie die Festigkeit von Pudding zu haben schienen und ich beinahe zusammenbrach, als er sich dankbar auf meinen angebotenen Arm stützte, sondern in erster Linie wegen des unaufhörlichen Quells von Worte, der ohne Unterlass von seinen Lippen floß. In der Zeit die es brauchte um den Mann aus der Enge bis zum Schuldentor zu bringen, hatte ich nicht nur einmal, sondern gleich zweimal in allen Details die Geschichte seiner Familie erfahren, sondern auch noch sämtliche ihm bekannten Scherze, bis ich darüber nachdachte, ihn einfach selbst aufzuschneiden um zu schauen, ob sich in diesem Wanst etwas menschliches verbarg, oder nur ein unaufhörlich plappernder Dämon der Unterwelt.

"Bis hierher, Herr Areng. Bitte achtet darauf, nicht wieder vom Wege abzukommen."

"Das sagt ihr so einfach, Fräulein Magreid. Ich habe das Herz eines Künstlers und das will sich nicht in ein Gefängnis erlaubter und verbotener Strassen sperren lassen. Das liegt daran, dass etwas Feenblut in meinen Adern fliesst. Das erwähnte ich noch nicht, oder?"

"Frau Magreid. Und nur drei Mal, Herr Areng. Nur drei Mal. Ich fürchte die Feen sind ausgestorben, weil sie sich nicht von dunklen Gassen fernhalten wollten."

"Ihr klingt so biestig, Fräulein Magreid. Man muss von der Grösse träumen, nach der man einst streben will!"

"Frau Magreid. Träume verbinden keine Wunden, sie flicken keine Kleider und sie machen auch nicht satt."

Ein paar Lidschläge lang war ich überzeugt ihn erreicht zu haben: Das was sich in den Augen des Fetten wandelte, musste Einsicht sein, Akzeptanz. Dann begriff ich, dass er aus meiner treudoofen Hilfsbereitschaft irgendwie die falschen Schlüsse gezogen hat.

"Nein. Nein. Nein. Ich bin nicht interessiert, Herr Areng, also tut Euch einen Gefallen und starrt ein glasiertes Spanferkel auf diese Weise an."

"Ich bin die beste Partie dieser Stadt, Fräulein Magreid."

"Frau Magreid. Ich bin verheiratet."

"Wart verheiratet."

Für einen Moment stand ich wie vom Donner gerührt. Atemlos, da ich das Gefühl hatte von meiner eigenen Vergangenheit erwürgt zu werden, unfähig eine schnippische oder höhnische Antwort zu geben. Und das, was niemals fern war, rührte sich, trieb mir erst die Tränen in die Augen und dann die Scham auf die Wangen. 
Ich war so weit gelaufen, aber nicht weit genug. Ich würde niemals weit genug laufen können. Der Makel würde bleiben, denn er kam mit mir. 

"Sucht Ihr eine Arbeit? Ich bräuchte jemanden, der sich um meine Sicherheit kümmert. Jemand, der verhindert, dass ich versehentlich falsch abbiege. Erwähnte ich, wie ich letzten Mond beinahe in diesem Ungetüm von Pfütze ertrunken wäre, das sich auf schauerliche Weise genau vor meiner Türe auf die Lauer gelegt hatte?"

"Nur zwei Mal, Herr Areng."

"Ihr seid so eine gute Zuhörerin! Schlagt ein. Träume machen Euch nicht satt, aber gutes Silber sorgt dafür, dass Ihr in Löwenstein bekommt, was immer ihr sucht. Ein zwei Jahre und ich stelle Euch ein Empfehlungsschreiben aus, mit dem ihr überall mit Handkuss genommen werdet."

Und so schlug ich ein. So trieb das Schicksal Wurzeln.

War es schon immer so?
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#5
Die Wege sind überall und sie flieht in die Tiefe des Labyrinthes, ohne zu zögern. Jeder Pfad ist so gut wie der Andere, alles was zählt, ist die Dunkelheit abzuschütteln, den beissenden Atem nur für einen Moment nicht im Nacken zu spüren. Aber natürlich gelingt es nicht.
Wie kann sie abschütteln, was sie an sich trägt?




"Es tut nicht mehr so weh."

Wie gern hätte ich diese Worte in den Spiegel gesprochen, in das Antlitz hinein, das mir von dort entgegenblickte und sich vergeblich an einem Lächeln versuchte. 

Es tut nicht mehr weh.

Aber nichts verblasste von der Vergangenheit. Nichts verblasste von den Erinnerungen, die mir ein treuerer Begleiter waren als die allmählich auseinanderfallenden Stiefel, die mich von Eigen nach Löwenstein begleitet hatten. Spätestens mit Beginn des Sommers würden sie das Zeitliche segnen, ersetzt durch hübscheres Schuhwerk und bald schon vergessen sein. Die Vergangenheit blieb: Beständig. Präsent. Fordernd.

Denke an Eigen. Denke an deinen Mann. Denke daran, warum du fortgegangen bist. Denke an das Ende.

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Es war leicht gewesen sich an Löwenstein zu gewöhnen. Glockentor, Schuldentor. Steinenbrücke. Zweimal täglich in Sichtweite des Schafottes vorbei, das dieser Tage in einem erbärmlichen Zustand war: Wo sich sonst die schaulustige Menge ergötzte, warteten dieser Tage enttäuschte Raben in der Kälte des nur widerwillig weichenden Winters.
Dass es keine Hinrichtungen gab, hiess nicht, dass die Stadt sicher war - bestenfalls gab es einen Hinweis auf die Motivation der Stadtwächter und die Gewitztheit jenes Volkes, das im Armenviertel die Köpfe ausserhalb der Sichtlinie hielt. 

"Langsamer, bei der Gnade Mithras! Du sollst mich am Leben halten und nicht zu Tode bringen!"

"Gewiss Herr. Und Ihr wisst, was ich davon halte."

Ich bemühte mich gar nicht erst darum den Vorwurf aus dem Tonfall zu verbannen: Diese Besuche noch vor Sonnenaufgang hatten nicht nur etwas Anrüchiges, sondern waren auch unbequem: Der Frühling mochte kommen, aber zu dieser Stunde gehörten die Strassen der Kälte, die ohne Eile Frost auf die Pflastersteine und an die Fenster zeichnete. 
Auf der anderen Seite wunderte es mich nicht, dass Areng nicht fror: Seine Wangen waren nicht etwa wegen der Witterung gerötet, sondern als Tribut an die Anstrengung. Das viele Fett schützte ihn besser als mich mein wollender Wappenrock.

"Da sind wir. Lasst uns kurz verschnaufen, dann kläre ich dich auf."

Natürlich. Verschnauft nur. Rasselt mit dem Atem so laut, als wärt ihr ein sich schüttelnder Kettenhund. Wenn Ihr euch dabei besser fühlt.

Ich hütete mich diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen, aber etwas an der beleidigten Miene des Bankers verriet, dass er meinen Blick korrekt gedeutet haben musste. Umso besser. Er wusste genau, wie sehr ich diese Ausflüge missbilligte.

Wieder ein anderes Haus: Dieses hier konnte kaum mehr als ein Dutzend Jahre alt sein: Der Putz war nicht abgedunkelt, die Balken trugen keine Zeichen von Feuer oder Flut, die Fensterbänke waren so gerade, wie es nur bei einem Bau sein konnte, der noch nicht begonnen hatte in den gierigen Untergrund der Stadt einzusinken. Dennoch waren Versäumnisse unübersehbar: Über das steile Dach, hatte die eingesetzte Schneeschmelze einen Weg auf die in den Keller hinabführende Treppe gefunden und die dort liegenden Räumlichkeiten eiskalt überflutet. Im vagen Licht des anbrechenden Morgens war lag der Spiegel des Wassers still und dunkel, nicht einmal vollkommen gefroren - ein kleines Rinnsal bahnte sich durch die Pflastersteine den Weg in Richtung des nahen Kanals.

"Wer wohnt hier?"

"Im Augenblick: Niemand. Es ist eine Investition in die Zukunft, Delahne. Schau es dir an: Mit nur ein wenig Fantasie kannst du die Menschen hier schon ein - und ausgehen sehen. Kinder, auf der Schwelle spielen, der Vater - vielleicht ein Schuhmacher, der sein Geschäft von hier aus betreibt. Ah, ich kann das Leder schon beinahe riechen und bekomme Lust mich selbst hier niederzulassen."

"Ihr passt nicht durch die Türe, Herr Areng."

"Du bist unverbesserlich! Öffne dein Herz ein wenig, Delahne. Kannst du es nicht sehen, nicht spüren? Das Versprechen von Leben wurzelt an diesem Ort."

"Nein. Und es ist kalt. Wenn Ihr fertig seid, können wir wieder gehen."

Dieses Mal schüttelte der Fette den Kopf und schob sich nach vorn. Meine Schätzung, das wurde mir klar, als er sich der Türe näherte, war korrekt gewesen: Er würde in der Tat nicht hindurch passen.

"Noch nicht. Ich habe das hier für dich ausgesucht. Die zwei Jahre sind beinahe um und um ehrlich zu sein, habe ich keinen Schuster hinter diesem Fenster gesehen, sondern dich. Mit einer ganzen Kinderschar."

Zu einer anderen Stunde. An einem anderen Ort. Unter anderen Umständen: Ja, ich hätte mich geschmeichelt fühlen können, aber der letzte Satz wischte all das davon, rief stattdessen die sorgsam gezügelte Flamme von so oft angestoßenem Zorn wach, dass er mehr nach Müdigkeit als nach Wut schmeckte.

"Ich habe meine Meinung dazu klar zum Ausdruck gebracht, Herr Areng. Nein. Ich bin nicht interessiert. Warum versucht Ihr Euer Glück nicht bei einer dieser Frauen, die Euch und Eure stattliche Gestalt aus der Ferne bewundern und alles für eine nähere Bekanntschaft mit Euch geben würden?"

"Ich habe Ansprüche, Delahne. Mein Herz gibt sich nicht mit der Erstbesten zufrieden."

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte: Die ehrliche Überzeugung in dem feisten Gesicht war beinahe genug, um mich an meinen eigenen Erinnerungen zweifeln zu lassen und die Kälte vertrieb die Laune für eine grimmige Antwort. Ich wollte einfach nur zurück in die Wärme, die Füße noch eine Stunde vor dem Kamin betten und ein wenig dösen, bis dann das Tageswerk des Bankers anstand und damit der erneute Gang vor die Türe anstand.

"Ich habe übrigens meine Beziehungen spielen lassen. Wenn du möchtest, ist für dich ein Platz in der Stadtwache frei. Wie es meine Art ist, habe ich dich überschwenglich gelobt und der Hauptmann möchte dich gern kennenlernen. Ein kleiner Rat allerdings: Du solltest dir einen anderen Namen wählen. Eigen ist so weit fort von hier, dass es schon mit einem Dämon zugehen müsste, aber .. man weiss ja nie. Tratsch wandert auf leichten Füßen."

Eine Zeitlang stand ich nur so, lauschte auf die Geräusche der erwachenden Stadt, frierend und unschlüssig, bis mein Blick wieder auf das schwarze Rinnsal fiel.

"Ich weiss etwas."
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#6
Sie fällt und sie fällt in undurchdringlicher lichtloser Finsternis. Eine Ewigkeit, bis die Panik selbst verblasst, ausgeblichen wie die Erinnerung an jenen Sommer vor ungezählten Jahren. 

"Nur, bis du dich daran gewöhnt hast." flüstert die Dunkelheit und sie ist zu müde, um sich noch zu erschrecken. 

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"Es ist schön, dass Ihr Euch die Zeit nehmen konntet, Leutnant."

Die Löwenwacht war im Laufe der Zeit wieder und wieder umgebaut worden, ehrgeizige Architekten hatten ihren Namen in den Mauern hinterlassen und das Büro, in welches das formelle Schreiben des Stadtrates mich bestellt hatte, war eines der gern verschwiegenen Opfer dieser Bestrebungen: Mit einer Deckenhöhe von deutlich über fünf Schritt hätte der Raum Weite atmen können, wenn er eine entsprechende Grundfläche gehabt hätte, aber tatsächlich gab es hier drinnen kaum genug Platz für den Bittsteller (mich), das erhöhte Podest auf dem ein kolossaler Schreibtisch thronte, die drei Stühle dahinter und natürlich die groteske Wanduhr, die alles mögliche anzeigte, aber gewiss nicht die Zeit.

Schon als ich den Brief geöffnet hatte, war zu erahnen gewesen, was für eine Art von Gespräch dies werden würde: In das Büro von Stadtrates bestellt zu werden, speziell in dieses Büro, das eine beinahe schon höhnische Geste gegenüber der Bürgervertretung war, hinterliess gewöhnlich blaue Flecken auf der Seele und bisweilen auch am Leib. 
Nicht, dass der Stadtrat sich selbst die Hände schmutzig gemacht hätte: Trotz der wuchtigen Erscheinung mit dem breiten Kreuz, den fleischigen Schultern und dem machtvollen Schmerbauch, überliess er solcherlei lieber seinen persönlichen Bediensteten - wie zum Beispiel dem Mann, der rechter Hand des nun über mir residierenden Rates auf einem der Stühle wartete. 

"Ich habe Euch persönlich hierher gebeten, da ich das Gefühl habe, dass Euer Bericht nicht ganz vollständig ist, Leutnant. Ich frage mich .."

Ein kreischendes Scharren von der Standuhr unterbrach die Einleitung des Rates, ein gewaltiger Bronzezeiger rückte vom Symbol eines niedergestreckten Hasen auf das eines Raben mit blutendem Schnabel vor. Bedeutungsvolle Blicke wurde getauscht, während alle warteten, dann nahm der Stadtrat den Faden wieder auf, als wäre er niemals unterbrochen worden.

"Ich frage mich, ob ihr mir etwas genauere Details über die Rolle des Hauptmannes geben könnt."

Das Zögern am Ende des Satzes, gefolgt von einem raschen Blick hinab aus der thronenden Höhe und der gepressten Ergänzung "Leutnant." offenbarte noch etwas Anderes.
Dieses Gespräch fand nicht auf Wunsch meines Gastgebers statt: Wenn er meinen Namen überhaupt in der Akte gelesen hatte, dann nur als nebensächliches, ärgerliches Detail, das keine Rolle spielte vor den Rangabzeichen der Uniform und diese Einsicht öffnete eine ganze Fülle neuer Eindrücke: Der Stadtrat war verärgert, aber nicht über mich. Und während die mitgebrachte Schreiberin nicht das geringste Interesse an etwas anderem, als ihrem Papier zeigte, beobachtete die Hand des Rates mich mit unverhohlenem kühlem Interesse. 

"Gewiss Stadtrat. Ich bedanke mich für die Gelegenheit in einem persönlichen Rahmen Bericht erstatten zu dürfen, da einige der Umstände recht heikel sind. Es gibt starke Hinweise darauf, dass die Schmuggler, die vom Haus Altstadtweg 3 aus arbeiteten, eine Art von Vereinbarung zum gegenseitigen Vorteil mit dem Hauptmann geschlossen hatten. Ein zugedrückten Auge von Seiten der Ordnungshüter gegen die Lieferung schwer zu bekommender Gegenstände. 
Es gab Unregelmässigkeiten bei der Planung von Einsätzen, die den Verdacht erst aufkommen liessen und spätere gezielte .. Umstellungen .., die die Vermutung bedauerlicherweise bestätigten."

Ich schwieg zu den Verbindungen, die sich durch die gesamte Stadtwache zogen, aber der Stadtrat war kein Dummkopf: Ihm musste klar sein, dass auch ein Offizier nicht allein arbeiten konnte. Ohne die Unterstützung der Unteroffiziere und Mannschaften, die Alltäglichkeiten regelten, blieb die Vorstellung einer Deckung von oben eine hübsche Illusion. Der Zugriff auf die Bande war schliesslich unangekündigt im kleinen Rahmen erfolgt.

"Ihr lebt nun schon einige Jahre in Löwenstein, Frau .. Leutnant. Einige Zeit habt ihr für Herrn Areng gearbeitet, der Euch schliesslich in glühenden Farben für den Dienst in der Stadtwache empfahl. Ihr seid .. engagiert."

Ein weiterer Moment des Verstehens: Die Verwurzelung der Schmugglerbunde endete nicht mit dem Hauptmann - es gab noch grössere Fische, die in diesem Teich schwammen. Fische, die nun aufgeschreckt worden waren. Fische, die nicht zögern würden ihre Zähne zu gebrauchen, wenn man ihnen zu nahe kam.

"Natürlich ist das alles nur Spekulation. Indizien. Es war mir wichtig, keinen unnötigen Wirbel zu veranstalten. Die Stadtwache kann keine unnötige Aufregung gebrauchen, aber was unnötig ist .. nun, das liegt beim Stadtrat zu entschieden."

Er verstand. Ich verstand. 

"Eine gute Einstellung .. Leutnant. Ihr seid jung und entschlossen, ich bin zuversichtlich, dass ihr die Karriereleiter noch weiter hinaufsteigen könnt."

Was auch immer er noch hinzufügen wollte: Die Uhr begann ein weiteres Mal zu schlagen, aber dieses Mal blieb der Bronzezeiger unbewegt und stattdessen drehte sich unter höllischem Getöse eine kleine bebilderte Scheibe, die - so mein Eindruck - die Phasen zweier verschiedener Monde anzeigte.

"Noch eines. Solange diese Angelegenheit nicht abgeschlossen und der Hauptmann wieder vollständig im Dienst ist, werdet ihr Euch um die Angelegenheit mit dem Scharfrichter kümmern."

"Scharfrichter?"

"Wir haben einen ausgewählt. Ein Zuwanderer aus Hohenmarschen. Kümmert Euch darum, dass er die Schlüssel zur Dienstwohnung bekommt. Ich schlage vor, dass ihr die Dienstwohnung vorher auf einen tauglichen Zustand prüft und gegegebenfalls Massnahmen ergreift. Der Mann wird morgen früh bei der Hauptwache vorsprechen. Fragen dazu?"

"Keine."

Ganz so einfach würde ich also nicht davonkommen: Die Wohnung des Scharfrichters war verlottert, soviel wusste ich. Sie bis morgen auf Vordermann zu bringen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und eine Blamage Löwensteins würde auf mich als Verantwortliche zurückfallen. Das geeinte Lächeln auf der Gegenseite besagte, dass sie alle Bescheid wussten, selbst die Schreiberin beäugte mich nun und ich rang mir mit Mühe ein Lächeln ab.

"Ich kümmere mich darum."
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#7
"Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein."




"Es gibt kein Muster. Nichts, was sie verbindet. Wenn du mich fragst: Er tötet willkürlich, aus einer Laune heraus und ohne sich um das Opfer und dessen Geschichte zu scheren."


Der Sommer war mit Macht nach Löwenstein gekommen, die trockene Hitze, die bereits das ganze Lehen ausgedörrt hatte, konzentrierte sich nun auf die Hauptstadt und diese schwitzte und glühte wie im Brennpunkt einer gewaltigen Lupe. Selbst die Nächte brachten keine Erleichterung mehr - die Wärme steckte in jedem Stein, in jeder Schindel und die schwache Brise von Seiten des Meeres blieb ein unerfülltes Versprechen von Linderung.

Ebenso unerfüllt wie meine wöchentlich wiederholten zähneknirschenden Durchhalteparolen: Ja, wir verfolgten die Sache weiter. Nein, wir versoffen unseren Sold nicht auf Kosten der besorgten Bürger. Ja, ich war dankbar für die Hauptmannsklappen. Nein, ich brauchte keinen stadtratbestimmten Aufpasser um endlich Ergebnisse zu liefern. 
Nächste Woche. Nächste Woche bestimmt.
Die Rechtfertigung war irgendwann zwischen einer der vielen Wiederholungen zu unbehaglicher Gewohnheit geworden.

Nur in dem kleinen Altstadthaus, durch dessen Türe Areng trotz aller Mühen niemals gepasst hatte, war ich nicht von Erwartungen und Vorwürfen umgeben. Sie alle wollten das Gleiche: Den Kopf des Mannes, der so wahllos andere Köpfe nahm. 

Und mit jedem vergehenden Tag fragte ich mich mehr, ob es mich auch den Meinen kosten würde. 

Denk an Eigen, Delahne. Denk daran, wo du herkommst. Das hier ist nichts. Du brauchst nur ein wenig mehr Geduld. Ein wenig mehr Zeit. Ein wenig mehr Glück.

Das Gesicht im Bronzespiegel wollte sich nicht zu einem Lächeln bequemen, ganz gleich wie sehr ich mich bemühte: Wenn die Mundwinkel sich bewegten, dass zu einer verzehrten, grimmigen Maske, die eher an das Fletschen von Fängen erinnerte als alles andere. 

"Woran denkst du jetzt?"

'Schuld.' 

"Daran, dass wir das Muster nur nicht erkennen können. Weißt du, wie sie ihn mittlerweile nennen? Den 'Rächer von Löwenstein'. Aus unwissender Hoffnung heraus machen sie ihn zu einem Werkzeug höherer Gerechtigkeit. Manche ziehen die Köpfe ein, aus Furcht sie zu verlieren. Andere tragen ihre nur umso höher und posaunen ihre Überzeugung heraus, als wäre das Ende aller Tage gekommen. Wenn wir dem nicht bald ein Ende bereiten können, ist das das Ende. 
Das ist das Ende, verstehst du? 
Wir können einpacken. Wir brauchen keinen Rächer, weil der Stadtrat unsere Köpfe gleich samt Körper an das Tor nageln lassen wird."

Es war so einfach die Schuld in Zorn zu ersticken, sie zu ertränken in flammenden Worten, bis er nicht anders konnte, als zu lächeln und die Arme um meine Schultern zu legen. 

Auch das vertraut.

Sieh in den Spiegel, Delahne. Sieh hin. Denk an Eigen.

"Wir machen Fortschritte, das kannst du nicht abstreiten. Wir wissen, dass es ein Mann ist. Wir wissen von dem Schwert. Mit jedem Tag wird das Bild ein wenig deutlicher, gibt ein wenig mehr Details frei. Lass die Bürger tratschen, lass die Geschichten von Garmelin erzählen - das spielt uns nur in die Hände. Mehr wachsame Augen behalten die Strasse im Auge. Weniger achtlose Passanten bieten sich als Opfer an. Es wird schwerer und er wird einen Fehler machen. Und wenn etwas daran ist, dass er sich durch die Kanalisation bewegt, dann braucht es nur ein Quentchen Glück und er verrottet auf immer in den lichtlosen Tiefen."

Die Kanalisation.

Keine gute Woche war der letzte Besuch in den stinkenden Gemäuern her, aber auch das war etwas, was ich hier nicht sagen, nicht erwähnen durfte. Für meinen Besucher lag die letzte Erkundung bereits einen Mond zurück und war - genau wie die Versuche zuvor, ein fruchtloses Fiasko gewesen: Gänge über Gängen. Abzweigungen und Sickergruben, Ratten, so gross wie Strassenhunde und die heillose Verwirrung, wenn das so hübsch detailgetreue Kartenwerk sich wieder und wieder als so ungenau erwies, dass es genauso gut das Produkt reiner Fantasie hätte sein können.

Denk an Eigen, Delahne. Du kennst diesen Geruch. Es ist eine Witterung, die man nie wieder vergisst.

Ich hatte keine Fackel mitgebracht und keine Laterne, nichts was geeignet wäre meine Anwesenheit weithin zu verraten. Das letzte Licht der Oberfläche war zurückgeblieben, als ich das angerostete Gattertor hinter mir geschlossen und die moosbewachsenen Stufen hinabgestiegen war in einen der weiten Kanäle. Ungezählte Ziegelsteine waren verbaut worden um der Scheiße der Stadt ein gemütliches Bett zu geben, eine Straße unter der Stadt. Aber das war nicht alles: Über die Jahre hinweg war die Kanalisation unzählige Male geflutet worden, hatte Häuser und ganze Straßenzüge verschlungen um eine absurde Wunderwelt zu schaffen, die wie in der Zeit erstarrt schien, während sich die Gülle der Zivilisation hindurchwälzte. 
Es gab Menschen, die hier unten lebten - manche ausgestossen von der Gesellschaft, vertrieben aus der Gemeinschaft wegen furchtbarer Verbrechen, die ihnen nur die Wahl liess zwischen dem Strick oder dem lichtlosen Dunkel hier unten. Andere kamen freiwillig hierher, getrieben von Wahnsinn oder zumindest wahnsinnigen Launen und die Kanäle verschlangen sie alle ohne Unterschied. Ihr Hunger kannte kein Ende.

Ein Licht hierher zu bringen, war der sicherste Weg sie anzuziehen: Die Messerschwinger und die Prediger, die Verfluchten und die Hoffenden. Keiner von diesen trug die Witterung, die mich hierher geführt hatte. Die, die ich suchte, waren Schatten in Schatten: Vorsichtig. Wachsam. Hungrig. 

So wie ich.
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