Die Saat des Irrtums
#1
Erinnerung gleicht einem Speicher;
Mit jedem Tag füllt er sich neu –
An Weizen leer, ist überreich er
Gar oft an inhaltsloser Spreu.
Um jede Thorheit fortzubringen,
Braucht' es der Säcke Legion –
Die Körnlein von gedieg'nen Dingen –
Die trüge leicht ein Spatz davon.


~Verfasser unbekannt
Quelle: Aus den »Fliegenden Blättern« (1845-1928)

Kyron betrachtete das abgegriffene, schartige Buch mit übermüdeten Augen und durch filzige, spreuverdreckte Strähnen. Er musste die Schrift nicht sehen um zu wissen wie der Titel lautete, und die abgeblätterte Prägung der Goldletter auf dem zerkratzten, verbleichten Leder hatte schon bessere Zeiten gesehen, als er das Buch vor mehr als zehn Jahren das erste Mal in die Hand genommen hatte. Es fühlte sich noch genauso an, wenn auch kleiner, als hätte sein jugendlicher Verstand sich jede Kurve, jeden Knick und jeden Riss eingeprägt, und selbst der Geruch nach Pferdeschweiß und Waffenöl am Einband war unverändert - wenn auch milder - geblieben.
Vielleicht hatte er deshalb auf dessen Existenz vergessen, weil er der schönen Idee auferlegen war, den Inhalt ins Herz übernommen zu haben. Doch nun, nun war er sich nicht mehr sicher, nicht unter dem Druck der tausenden zerfaserten Erinnerungen, die alleine das Gewicht des Wälzers in seiner Hand durch seinen Geist schickte.
Eine Böe, kaum heißer als die sowieso schon dürr-stickige Luft im Stall, fegte eine Wolke aus feinsten Streustücken über ihn, den frisch gefegten Boden und das Buch in seinen Händen. Staub und Weizenkleie verbargen die reliefartigen Zeichen, die einst "Die Tugenden des Kriegers" geformt hatten, und nun höchstens den Fingerspitzen noch ihre Bedeutung mitteilen konnten. Kyron strich die Spreu vorsichtig ab, hob einen Mundwinkel zu einem müden Schmunzeln und schlug das Buch vorsichtig auf, und seine Finger erkannten die Kanten und Ecken des Papiers wieder als hätte er es nie aus der Hand gelegt. Wie von selbst blätterten sie zum mittleren Drittel des verblichenen Werks, zu einer Seite, die quergestreift von staubigen Fingern war, immer wieder den selben Zeilen folgend. Die linke Hand hebend strich er einmal mehr über die verblichenen Zeilen, Wort für Wort lesend wie er es als kleiner Junge getan hatte.
"Die Wahrheit ist ein Schwert mit dutzend Klingen, doch ohne Griff an dem man sie greifen und beanspruchen könnte."
Die Worte, deren Hall, die Geste, sie alle brachten Erinnerungen zurück, Gerüche einer Vergangenheit, die wegweisend für seinen Weg gewesen waren. Biergetränkte Sägespäne, die in der Sonne hinter der Taverne gärten, durchsetzt mit Flecken von Erbrochenem und Urin, ein Gestank wie ihn kein bäuerlicher Misthaufen jemals erreichen konnte. Er fühlte die Bank, bestehend aus einem halbierten, Holzwurmzerfressenen Baumstamm, unter seinem Hintern, die Zugluft, die stetig durch die Taverne seiner Jugend geblasen hatte, und die ihm dort, auf der Bank neben dem Hintereingang direkt unter dem Küchenfenster, die Gerüche von frischem Eintopf und Schweiß zugetragen hatte. Er erinnerte sich sogar an die vielen Male an denen die Sonne seine Haut verbrannt hatte, seine viel zu blasse, kränkliche Haut, weil er vom Lesen derart gefesselt worden war dass er alle Warnungen seiner Mutter vergaß. "Was sitzt du ständig dort," hatte sie gehässig gezischt, "geh mit den anderen Jungen spielen! Sei einmal normal, Kyron! Warum kannst du nicht wie die anderen Jungen sein!"
Träge ließ der inzwischen erwachsene Mann die Zunge vom Gaumen auf den Unterkiefer klicken. Seine Mutter hatte ihn zu früh und zu krank auf die Welt gebracht, und die stickige Tavernenluft hatte ihr übriges dazu getan ihn kränklich und schwach zu halten. Er hatte sich stets gefragt ob sie ihn spottete, wenn sie ihn zu den anderen Jungen schickte. Er hatte sie gehasst, und er hatte Rat in seinem einzigen Besitz, dem Buch, gesucht.
"Die Wahrheit schneidet stets in beide Richtungen, und wird nur vom Lügner geführt," murmelte er, halb auf die Seiten blickend, halb aus der Erinnerung an die abertausenden Male, in denen er zu sich selbst gelesen hatte. Es war nicht unrecht, seine eigene Mutter zu hassen, soviel hatte er sich aus dem Buch zusammenreimen können. Natürlich stand in einem Handbuch für die romantischste Art des Kriegertums kein Hinweis darauf, wie ein zwölfjähriger mit seiner Mutter umgehen sollte, aber die Absätze über den Frauendienst hatten ihn zumindest in eine Bahn gelenkt, die ihn vom Muttermord abhielt.
Seine Mutter war eine Lügnerin gewesen, und eine Hure. Mit zwölf Jahren waren diese beiden Worte die schlimmsten Beleidigungen gewesen, die er sich vorstellen hatte können, und jeder der diese Worte benutzte, gar seine Mutter ins Spiel brachte, hatte sich einem schwächlichen, keuchenden Balg zügelloser Wut gegenüber gesehen. Kyron war als Junge derart oft verprügelt worden, dass es beinahe schon zum inoffiziellen Freizeitspaß der anderen Dorfkinder verkommen war, aber im Gegensatz zu all den anderen Momenten, in denen seine Mutter versucht hatte ihn dazu zu bringen sich körperlich zu betätigen, schien kein Maß von Prügeln jemals ausreichend, um ihn eines Besseren zu belehren. Besser noch - die häufigen Schlägereien vollbrachten am Ende, was keiner im Dorf ihm noch zugetraut hatte, und stählten seinen Leib wider allen Erwartens.
Am Ende hatte selbst der junge Kyron erkannt, dass kein Schlag dieser Welt etwas an der Wahrheit ändern konnte. "Sie ist ohne das Tun des Kriegers, und sie bleibt beständig, selbst nach seinem Tode," murmelte er, und hielt eine Hand schützend an den Rand des Buches als eine weitere heiße Windböe durch den Stall fegte. Wie er diesen Absatz gehasst hatte, wie er sich darüber aufgeregt hatte! Und doch war er immer und immer wieder dazu zurück gekehrt, hatte ihn nochmal gelesen, nochmals verflucht, das Buch von sich geworfen, es nur wenig später panisch wimmernd wieder aufgesammelt, und den Vorgang so lange wiederholt bis die Worte ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren.
"Der Krieger nutzt die Wahrheit nicht als Schwert, sondern als Nordstern, dem zu folgen wichtiger ist als ihn den Blinden vor Augen zu führen." Es war falsch gewesen, den anderen Jungen das Wort verbieten zu wollen indem er sie verprügelte. Am Ende, kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag, da waren selbst die Mütter der Kinder vor ihm geflohen, hatten ihre Brut vor seinem stetig zornigen, stetig brodelnden Blick versteckt und seine Mutter beschuldigt, ein Monster heran zu ziehen. Die Hure die ihn geboren hatte jedoch wollte die Hand nicht gegen ihn erheben, und als es der Wirt - ihr Arbeitgeber - tat, da war Kyron geflohen, ungeachtet der blutigen Striemen auf seinem Hinterteil, fort von daheim, fort von allem was er kannte. Seine Mutter hatte ihm nachgeblickt, und ihn nicht aufgehalten, so wie sie ihn zuvor nie aufgehalten hatte. Er hatte nie wieder zurück geblickt, niemals bedauert, nie gefragt was aus seiner Mutter wohl geworden war.
Mit einem kontrollierten Luftstrom blies Kyron die Staubkörner und Strohreste zwischen den Seiten heraus, und rezitierte die letzten Worte zu dem leisen Klappen von Buchseite auf Buchseite.
"Wahrheit ist dort zu finden, wo sie nicht gesprochen werden muss, um erkannt zu werden."

Wie hatte er all das nur vergessen können?
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(Life - Charlie Crews)
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#2
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.


~ Dylan Thomas, And death shall have no Dominion
Quelle: New English Weekly, 1933 (Übersetzung: Erich Fried)

Manch ein Mann beging sein Leben in trauter Ignoranz darüber, warum er manchen Menschen leiden mochte, und einen anderen nicht. Es mussten glückliche Männer sein, die so leben konnten, bedachte man welch Elend das stetige Denken und im Kreise Drehen der Gedanken so mit sich brachte.
Kyron stieß auf und schniefte missmutig gegen den vergorenen Geschmack von Bier mit einer Prise Kornbrand. Besser als Brocken zu speien, etwas das zu seiner Laune sehr gut gepasst hätte, nicht aber zu seinem bevorzugten Geschmack im Mund. Nein, noch mehr Freitagserbrochenes war nicht erstrebenswert. Hätte er Lawin doch nur das Gesicht verdellt, wie er es sich gewunschen hatte, dann müsste er nun nicht im Wald an einen Baum gelehnt sitzen, und hoffen dass sein Rausch verging bevor die Sonne - das elende Biest - aufging und die Welt einmal mehr in einen Hochofen der Höllenhitze verwandelte.
Ja, Männer die nicht wussten warum sie jemanden nicht ertragen mochten, hatten ein glücklicheres Leben. Vielleicht hatten alle Menschen, die das verdammte Buch in seinem Gepäck nicht gelesen hatten, ein glücklicheres Leben, wer vermochte das schon zu sagen? Seit er es wieder aufgeschlagen hatte, sprangen die Zeilen der Belehrung in den unpassendsten Momenten in seinen Kopf, und machten es ihm unmöglich, menschliche Unzulänglichkeiten zu ignorieren. Da ist kein Stein in einem Wort, und kein loses Geröll im Angesichte eines Mächtigen.

Eine Spinne kroch über die brüchige, pockennarbige Borke der Eiche, verhedderte ihren Spinnfaden in Kyrons ungekämmtem Haar, und ließ sich mit aller insektischer Eleganz von einer Strähne, um vor seinem Auge hin und her zu baumeln, während sie ihr Gepäck neu sortierte.
Lawin. Der Mann hatte sich das ungesündeste Kommentar zur unpassendsten Zeit ausgesucht, soviel war sicher. Nicht nur, dass Belshira ihr versoffenes Gesicht just an diesem Abend wieder gezeigt hatte, nein, auch Isabelle war da gewesen, und sie alle drei hatten zuvor den liebevollen Hass des Meisters zu spüren bekommen. Der Hass des Meisters war der sicherste Weg dazu, Kyron aufgekratzt und reizbar zu hinterlassen, und dann war da noch Marek gewesen, der sich erstaunlich nahtlos in die kleine Gesellschaft eingefügt hatte. Bah. Wie ein Freund war er gewesen, fast unglaublich. Kyron und Freunde, pah. Oder besser noch, Marek und Freunde - beinahe so lachhaft. Und dann hatte Lawin diesen einen, bissigen Kommentar geschoben. Über Knien und Winseln. Die Worte hatten alle Hebel in Kyrons hysterischem Verstand umgelegt, und im nächsten Moment waren Fäuste geflogen. Zwar keine zielgenauen, und keine effektiven, aber Fäuste.
So war das mit Männern, die nicht wussten was eine Tugend war. Ein gebeugtes Knie ist kein gebrochenes Glied, ein verlorener Kampf kein verlorenes Gesicht, und kein Zorn im Herzen genügend Rechtfertigung dafür, die Haltung zu verlieren.
Beinahe hätte Kyron aufgelacht, aber bereits der erste Windstoß brachte die kleine Spinne zum Schwingen, und sie schlug gegen seinen trägen Augapfel und ließ ihn zucken. Zu klein um ihn zu beißen, glücklicherweise. Nicht zu klein, um im Mondlicht zornig in seinen Wimpern zu zappeln, unglücklicherweise. Eine ungezielte, volltrunkene Ohrfeige ins eigene Gesicht - die eigentlich ein Fortwischen sein hätte sollen - behob das nervositätsschürende Gezappel rasch.
Haltung. Bah. Hatte er die Haltung verloren? Nicht wirklich, gemessen daran dass er eigentlich berauscht gewesen war. Er war erstaunlich aufrecht gestanden, eine Zierde für jeden Seefahrer oder Säufer. Aber das war es nicht, was Haltung aussagte, oder?
Ein dumpfes Pochen erklang in der stickig stillstehenden Nachtluft, als Kyron seinen Hinterkopf milde gegen den Baum schlug. Haltung, Haltung,... Was war es gleich gewesen? Irgendwas mit Demut, und Zorn, aber die Götter alleine wussten, wie der ganze Satz lautete.
"Meh," brummte Kyron, und grinste für einen Moment als die Erinnerung an Liam, den galatischen Fischer, in ihm hochkam. Liam hätte ihn für bescheuert erklärt, wie er da so neben dem eigenen Erbrochenen im Wald saß, zu besoffen um wach zu bleiben, zu verängstigt davor was seine Frau sagen würde, um heim zu kriechen. Liam war ein guter Mann.
Es war nicht kalt, und unbequem war der Baum auch nicht. Mit einem letzten Brummen schloss Kyron die Augen, und wie ein flüchtender Nachsatz schoss ihm die zuvor so unwillig gesuchte Zeile durch den Kopf. Ein Krieger fällt wie er siegt, mit Mäßigung, Demut und Stärke, und der Herrschaft über seinen Zorn, Neid und Stolz.

Hah. Er blieb eben doch ein Versager.
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#3
Es ist ein Wahn zu glauben,
daß Unglück den Menschen besser macht.
Es hat dies ganz den Sinn,
als ob der Rost ein scharfes Messer macht,
der Schmutz die Reinlichkeit befördert,
der Schlamm ein klar' Gewässer macht.


Quelle: Friedrich Martin von Bodenstedt (1819 - 1892) - "Lieder der Klage"

"Nein."
Es war kein Wort, das der fleischgewordene Diener des bleichen Herren allzu oft zu hören bekam, und es war kein Wort, das Kyrons Lippen ihm gegenüber allzu oft als Entscheidung aussprachen. Bei Fragen, wo ein 'Nein' eine Information war, sicherlich, da hatte er es ohne Bedenken von sich gegeben, aber seit langer Zeit nicht mehr, wenn es um eine Entscheidung ging. Es war eine dumme Antwort, unbedacht und impulsiv, aber sie besiegelte den Rest des Gesprächs. Kyron war stets wie ein Fels zu den Worten gestanden, die er sprach, und nun war der Würfel gefallen und kein Weg führte zurück, fort davon.
Wo das eine Wort die Saat gesät hatte, da waren die darauf folgenden Worte sein Untergang. Hätte er den Mund gehalten,... ja, hätte er nur den Mund gehalten.
Die rechte Entscheidung hat aus der Ruhe des Geistes zu entstammen, anstatt aus den Feuern des Herzens.
Als der Abyss durch seinen Verstand heulte wie ein Sturm aus kreischenden Stimmen, ganz so wie er sich an die grausamen Klänge des Abgrunds erinnerte, da wusste er bereits was für eine Dummheit er begangen hatte. Es änderte allerdings nichts, denn eine Entscheidung rückgängig zu machen wäre nur ein Beweis dessen gewesen, dass er nicht an die Richtigkeit des Gedankens dahinter glaubte. Es war dumm gewesen seine Meinung zu sagen, ohne Frage, aber seine Meinung war nicht falsch gewesen, war auch jetzt noch nicht falsch. Eine einfache Handlung im Affekt hatte ihn um Wochen zurück geworfen, zurück an den Anfang, an einen Punkt an dem er in den ätzend scharfen Blick der Aufmerksamkeit seines Herren geriet, statt seine Zeit in den Schatten abzusitzen er es eigentlich geplant hatte. Ein paar Worte, in der Hitze des Moments gesprochen, würden ihn mehr kosten als die Fläche Haut, die seine erste Strafe ihm nehmen würde.
Es war eine gar seltsame Stimmung, die zwischen ihm und den zwei Kultisten herrschte, als ihr Herr und Meister in die Nacht verschwand. Weniger Hass und Zorn, als eher schon Mitleid und Mitgefühl schienen seine zwei widerwilligen Kerkermeister zu regieren, und auch dies ließ Kyron aufmerken. Alle drei wussten sie zwar, was mit dem Morgengrauen in dem feuchten, dunklen Keller zwischen den paar Habseeligkeiten und den Steinmauern geschehen würde, und alle drei hatten sie Erinnerungen an Zeiten, in denen solche Keller Tod und Verderben bedeutet hatten, und doch... Die alles verschluckende Angst wollte sich nicht einstellen. Sie würde kommen, später dann, und vielleicht würde er auch bereuen, wenn ihn die Peitsche das erste Mal traf, aber nicht jetzt, noch nicht.
Wie konnte ein Mann Widerstand leisten, wo keine Zwingkraft einwirkte? Konnte überhaupt ein Widerstand entstehen, wenn kein Zwang zu bekämpfen war? Widerstand gegen Nichts war kein Widerstand, sondern schierer Starrsinn. Irrsinn. Wahnsinn?
Die Antwort liegt nicht im Pfad den der Gegner erklomm, und nicht in der Länge des eigenen Weges, nicht in der Laune und nicht im Gestern oder Morgen.
Und als die Sonne ein weiteres Mal auf die Erde schien, da hatte auch die Erinnerung wieder eingesetzt, das Gedenken daran, dass er nicht mehr der junge, naive Tölpel war, der glaubte mit eingesteckten Prügeln etwas zu beweisen. Schmerz war einfach nur Schmerz, eine Konstante im Leben wie man sonst keine zweite fand, aber ohne tiefere Offenbarung. Die Strafe war zu einer tatsächlichen Strafe geworden, hatte ihm keine neue Erkenntnis über die eigenen Stärken und Schwächen gebracht, die er nicht schon gekannt hätte, nur das übelschmeckende Wissen darum, dass er immer noch nicht gelernt hatte, sein Temperament zu zügeln, wenn er schon keine Einsicht dazu zeigen wollte, einmal gesprochene Torheiten zurück zu nehmen.
Der Herr kam, und der Herr war verständnisvoll, aber entschlossen. Grausig und schrecklich in seiner Sanftheit und Geduld, hassenswert ob seiner kühlen, profunden Logik. Seine schiere Existenz, die Aufeinanderfolge von Ereignissen und die Art wie der Herr und Meister damit umging, soviel eleganter als Kyron selbst, schürten seinen Hass auf ein Neues an. Es war ohnmächtiger Hass, vergleichbar mit jenem eines problematischen Sohnes, der nicht akzeptieren konnte was ein Vater verlangte, und alleine die Idee, den Meister mit einem Vater zu vergleichen, versetzte Kyron insgeheim in Panik die sein Herz umschloss.
Eine kleine Stimme in seinem Inneren warnte ihn davor, sich von dieser Panik leiten zu lassen, aber diese Stimme blieb ungehört. Wenn Kyron eines gelernt hatte, dann dass es richtig war, jene zu zerstören, die Angst einflößten. Anders konnte man sich von der Furcht nicht befreien.
Nur aus der Kühle der Mäßigung kann die rechte Entscheidung zur rechten Zeit das rechte Gehör finden.
Dies war die Lehre, die Kyron niemals vollständig verinnerlicht hatte.
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#4
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.

Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.


Stimme eines jungen Bruders - Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Die Sandkörner staken wie hungrige Schnecken an Kyrons verschwitzten Fingern, und bissen in die stetig über den Stein streichende Haut seiner Fingerkuppen. Leises, beständiges Schaben begleitete jeden vorsichtigen Strich seiner Hand über den klammfeuchten Steinboden, ab und an ersterbend wenn er den Handrücken hob um allzu garstige Schweißtropfen von der Stirn zu wischen, bevor sie in die Tiefe fallen konnten.
Das Blut war starrsinnig nicht in seinen Kopf zurück gekehrt und beließ ihn entrückt und an der Kippe zur Ohnmacht, nur um sich dafür umso vehementer in den Adern seiner Arme und Beine zu sammeln, und den schleichenden Beugeschmerz dort noch zu verschlimmern. Wäre die Situation irgendwie anders gewesen, Kyron hätte die Aufgabe mit dem ersten Tropfen seines Blutes in die Salzspirale für verloren erklärt und aufgegeben. In diesem Fall jedoch hatte er endgültig eingesehen, dass die Konsequenzen einer Aufgabe etwas waren, was er nicht am eigenen Leibe herausfinden wollte.
Schlimm genug, dass er in fast völliger Finsternis eines Kellers winzige Körnchen finden sollte, wo er schon Mühe hatte, die Zehen seiner nackten Füße zu identifizieren - nein, sein Peiniger saß einen Raum weiter, und schien keine Pläne zu haben, seinen Warteplatz aufzugeben.
Der Gedanke an Kyrthon Dureth trieb ihm beklemmende, bodenlose Enge die Brust hinauf, trieb ein der kopflosen Panik nicht unähnliches Gefühl von unmittelbarer Lebensgefahr durch seine Glieder, und mit einem Schaudern und einem Kopfschütteln vertrieb er den Gedanken. Nur um die Augen zu schließen als der Anblick des Meisters sich prompt wieder in seinem Kopf einnistete, und ihm den Atem abschnürte.
Wie erstaunlich gut er die letzten Wochen geschlafen hatte, wurde ihm erst jetzt bewusst, wo der Schlaf fern blieb. Es mussten drei, vielleicht vier, vielleicht mehr Stunden vergangen sein, seit er mit dem Reparieren des aus Salzkörnern gestreuten Musters auf dem Boden angefangen hatte, und doch fand die Tätigkeit kein Ende, konnte er die Spirale nicht zu jener Perfektion zurück sortieren, die sie zu Anfang gehabt hatte. Mit zunehmender Müdigkeit begann er zunehmend neue Unschönheiten in das Muster zu streichen, und verlängerte die Arbeit somit auf eigene Faust in die Unendlichkeit. Nur sein Herz, das pochte schmerzhaft hart und unerbittlich in seiner Furcht weiter gegen seine Rippen, pumpte adrenalingeflutetes Blut in seine erschöpften Venen.
Wie gerne hätte er nun geschlafen, wie gerne nur einen Moment Pause gemacht, nur für einen Augenblick die Lider geschlossen und sich der Schwärze hingegeben... Aber jeder Herzschlag war heilig, jede Pause entfernte ihn weiter von dem einen Ziel das er um jeden Preis erreichen musste, wenn er jemals wieder von hier fort gehen können wollte.
Es war ein ewiger Kreislauf, der in einer ganz dem Salzmuster ähnlichen Spirale in den Abgrund führte. Müdigkeit, Schmerz, davon fließende Zeit, nichts davon würde sich bessern, alle drei Schlingen um seinen Hals würden sich nur enger ziehen, und doch war er nicht gewillt, aufzugeben.
Nicht gewillt, eine Aufgabe abzubrechen, die er niemals erfüllen können würde.

'Hätte Cois mir das Schwert in die Brust gerammt, wäre ich nun frei', teilte sein Kopf ihm mit und ließ ihn scharf ausatmen. Der eine Windstoß trieb ein paar Salzkörner endgültig aus seiner Reichweite, und für einen Moment quoll kaum zu beherrschende Wut in ihm hoch, und ließ ihn einen frustrierten, langgezogenen und durchdringenden Schrei von sich geben, der erst abriss als er sich die rechte Hand ins Gesicht presste. Unter dem Gewicht der Finger sank sein Kopf in den Nacken, und einige der längeren, unfrisierten Strähnen verfingen sich in den Ringen des Kettenhosensaums. Das Rupfen der ausgerissenen Haare konnte gegenüber dem pochenden Schmerz in seinen abgewinkelten Knien kaum einen Funken von Aufmerksamkeit erwecken.
Kyron fragte sich nicht, wieso Dureth ihm eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte, die Frage war völlig überflüssig. Allgemein waren Wortbeiträge seinerseits nicht mehr nötig, das hatte sein Häscher überaus deutlich gemacht, und es ging auch nicht darum, ein hübsches Muster wiederherzustellen; es ging um exakt das, was Dureth von ihm gefordert hatte. Die Bereitschaft, das zu tun was ihm gesagt wurde, egal was er davon hielt.
Früher waren solcherlei Dinge ihm leicht gefallen, er hatte sie regelrecht begrüßt. Nicht denken zu müssen war eine wundervolle Freiheit gewesen. Nicht denken zu müssen war allerdings etwas, das er sich nun nicht mehr leisten konnte, wollte, und gerade das machte die Situation zwischen ihm und Dureth so schwierig. Er hatte Cois nicht angreifen können, weil Kordian nicht da war um "seine Leute", Kyrons Leute, vor den Konsequenzen zu schützen. Cahira war zwar für die Öffentlichkeit die Anführerin eines Regiments, aber sie hatte nie die notwendige Härte und Kälte besessen, um unangenehme Entscheidungen zu fällen. Nein, sie war stets die Politikerin der Klinge gewesen, die Diplomatin. Und Cois tat, was man ihm befahl, wachte wie ein Perpetuum Mobile über alle, die unter seinen Schutz fielen, kümmerte sich sonst aber nicht sonderlich um die größeren Zusammenhänge.
Nein, es gab nur einen, der als Ersatz für Kordian in Frage kam, und das war Kyron selbst. Wie wahr dieser Fakt war, hatte er erst an diesem Abend erlebt. Wäre er nicht von Dureths Tun abgelenkt worden, er hätte die Situation sicherlich anders geregelt, aber ein Hund konnte nicht auf zwei Pfiffe hören, und Kyron konnte nicht auf zwei Fronten gehen. Der erste und einzige Versuch das zu tun hatte ihn in diesen Keller geführt, in diese Spirale aus Salz gesetzt.
Kordians Schuld. Sein Hiersein, Cahiras Kommando wider Willen, all das war Kordians Schuld. Kordian, der mit seiner Frau durchgebrannt war und sie alle im Loch sitzen hatte lassen, das er zuvor für sie geschaufelt hatte. Wenn er denn mit seiner Frau durchgebrannt war. Was, wenn er nur irgendwo festgehalten wurde, und wartete dass die Klinge ihn da rausholte? Was, wenn er schon lange tot war?

Was wenn er tot ist?

Dann war Kyron alleine mit dem Salz, der Spirale, den brennenden Fingern, den stechenden Knien, dem flatternden, panischen, gefangenen Herzen, und seinem Häscher, der einen Raum weiter in völliger Stille saß und lauschte, und lauerte.

Es war der letzte Gedanke, an den Kyron sich bewusst erinnerte. Der Rest der Nacht war ein verschwommener Schemen aus Salz, Schaben, panischem Atem, und am Ende einem paar Stiefeln, die am Rande des Salzmusters erschienen um sein Urteil zu fällen.
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#5
Noch einmal, eh' die Nacht
Erdrückend mich umfängt,
Hat eines Auges Sonnenpracht
Mir einen Blick geschenkt.

Es traf ein lichter Funkenstrahl
Mein Dornendiadem,
Ich möchte gern ein letztesmal
Noch beten! – doch zu wem?


Noch einmal - Felix Dörmann (1870 - 1928)

Salz, Salz, Salz. Es brannte in den Schürfungen der Fingerspitzen, aber wenn er weniger Druck ausübte und vorsichtiger beim Zusammenhäufen der dämonischen Körner vorging, linderten die Krusten den Schmerz ein wenig. Vorsichtigeres Wischen bedeutete allerdings auch, dass er mehr Zeit verbrauchte, und Zeit war etwas, das Kyron nicht einschätzen konnte.
Die Manschette um seinen Hals war zu Anfang äußerst unangenehm gewesen, und er hatte seine eigene Schlamperei verflucht, ganz in der Annahme, dass er die Kanten nicht gut genug geglättet hatte. Nach einer gewissen Zeit hatte er das Gewicht der Halsschelle und der daran befestigten, massiven Eisenkette allerdings nicht mehr gesondert wahrgenommen, auch wenn der stetige Druck an seinem Hals seinen Atem hörbar pfeifen ließ. Nicht, dass er angekettet war, das nicht. Das Gebilde diente lediglich einem Vorführeffekt, der Verdeutlichung eines Zustands den Kyron nicht vergessen durfte. Wäre er mutiger gewesen, er hätte samt Manschette und der Kette, die er sich inzwischen wie eine Toga um den Oberkörper geschlungen hatte, zur Türe hinaus marschieren können. Das schwere Metallgebilde war es allerdings nicht, das ihn hier festhielt; es war die Angst.
"Wenn du keinen gesonderten Auftrag hast, wir nicht angegriffen werden und ich es nicht anders verlange, dann ist das der Abstand den du zu jeder Zeit zu mir haben wirst. Nicht näher, nicht weiter als das." Kyrthon's Wunsch war eine erleichternde Anweisung gewesen. Kyron mochte Anweisungen. Anweisungen waren einfach, leicht zu merken, leicht zu befolgen, und erforderten keine weitere Diskussion. Es war diese Vorliebe für das geordnete, strukturierte Leben, die ihn zu einem so guten Soldaten gemacht hatte - teilte man ihm eine Regel einmal mit, hielt er sich ganz von selbst daran und musste nur noch in den seltensten Ausnahmefällen daran erinnert werden. Andere Anweisungen waren nicht so leicht zu befolgen, weniger weil er nicht wollte, als eher weil er - seiner Meinung nach - nicht konnte.
Seine Finger begannen zu zittern, selbst als er den Gedanken zu verdrängen versuchte bevor er sich ganz formen konnte, und das Zittern malte feine Wellenlinien in die Salzspur unter seiner Hand. Wenn er die Hand zurückzog, würde die Erinnerung seinen Verstand stürmen, aber wenn er sie nicht zurück zog, würde der nächste Tag eine weitere Strafe, eine weitere Erinnerung einbringen, die er wahrlich nicht erleben wollte. Es war die Wahl zwischen Pestilenz und Keuche, und am Ende gewann die Pestilenz.
"Wenn du nicht still hältst, wird die Strafe nur länger," raunte des Meisters ungnädige Stimme. Quiek, quiek, quiek machten die Ratten im kleinen Topf, während sie über seinen Bauch trippelten und scharrten.
Mit einem rauhen Krächzen krabbelte Kyron aus dem Salzmuster, stützte sich auf alle Viere und hustete und würgte bis ihm die Tränen in die Augen stiegen. Nicht dass da etwas war das noch hochkommen konnte, bis auf etwas rötlich verfärbte, zähe Speichelfäden gab sich nichts die Ehre. Zumindest hatte er dank dieser wiederkehrenden Panikattacken gelernt, wie er mit einem Minimum an Schaden am zu behütenden Muster in eine Ecke flüchten, sein erbärmliches Wimmern erledigen und dann wieder an seinen Platz zurückkehren konnte, denn egal was geschah, am Ende würde nur seine Aufgabe zählen.
Aufgabe, Aufgabe. Ein widerliches Wort war es, zweideutig und einspurig zugleich. Die Aufgabe aufzugeben würde bedeuten, dass die Ratten wiederkamen. Er konnte sie jetzt noch hören, wie sie mit ihren widerlichen kleinen, nackten Pfoten über die Steinplatten des Hauptraums liefen, wie sie nagten und quiekten und krabbelten und kletterten. Keine zehn Dämonen würden ihn freiwillig aus seinem kleinen Raum bekommen, ganz zu schweigen von dem schieren Gedanken, noch weiter zu gehen und zur Türe zu flüchten. Und wohin sollte er auch gehen? Dureth fand ihn überall, und er brauchte keine physikalische Nähe um ihm weh zu tun. Wenn Kyron flüchtete und Dureth ihn fand, dann würde er etwas noch Schlimmeres tun als... das.
Aber aufgeben, und die Aufgabe erfüllen? Aufgabe in ihrer anderen Form?
Die Müdigkeit war verschwunden, schon vor einiger Zeit, schon als die ersten Tropfen des Blutes seinen Magen erreicht hatten, aber sie hatte die Bühne für entrückte Wirrnis, Erschöpfung und Verstörung geräumt, für Durst und für Hunger und für all die kleinen Schmerzen, die ihn immer und immer wieder von seinem Ziel abbrachten.
Ein weiterer Schluck von des Meisters Blut würde ihn vielleicht erfrischen, aufpäppeln, so wie es der letzte getan hatte, ihm die Kraft geben die er für die Aufgabe benötigte, aber die Aussicht darauf war gering. Kyron hatte wahrlich schon widerlichere Dinge geschluckt als Blut, und wahrlich widerlicheres Blut gekostet als das des Meisters. Wenn er das Salz ein zweites Mal zurück in seine korrekte Form brachte, dann war der Meister vielleicht zufrieden genug. Ein zufriedener Meister war eine um Werst bessere, erstrebenswertere Aussicht als ein unzufriedener Meister.
War da nicht noch etwas anderes, an das Kyron denken sollte?
Stirnrunzelnd hielt er im Salzfegen inne, starrte angestrengt auf das kleine Häufchen weißer Kristalle hinab. Etwas nagte an seinem Verstand, ganz weit hinten, hinter den Bildern von Ratten und Spiralen und Blut, lenkte ihn ab. Mit einem leisen Brummen schloss er die Augen, versuchte dem Nagen an den Ursprung zu folgen-
Dureths Gesicht blitzte vor ihm auf. "Das ist die Strafe für den zerstörten Kreis," sprach er, und sein Schatten drückte Kyron auf den Tisch. Im Hintergrund quiekten Ratten in einem Behältnis.
Mit einem panischen Japsen riss Kyron die Augen wieder auf und fuhr fort, zerstreute Salzhäufchen in gebogene Linien zu fegen. Was auch immer dieses Nagen an seinem Verstand war, es war unwichtig. Nebensächlich. Etwas für einen späteren Zeitpunkt, wenn er keine Aufgabe hatte.
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#6
Gleich und gleich gesellt sich gern,
Wer du bist, zeigt dein Begleiter;
Aus dem Knecht kennt man den Herrn,
Aus der Fahne ihre Streiter.
Was du billigst, noch so fern,
Ist nach Tagen oder Wochen
Dein, als ob du's selbst gesprochen.


Gleich und gleich - Franz Grillparzer (1791 - 1872)

Kyron wusste nicht, wie oft er eingeschlafen war. Es mussten ein halbes Dutzend oder mehr Schreckmomente über die ganze "Nacht" - war es denn Nacht? - verteilt gewesen sein, in denen er mit einem scharfen Atemzug hoch schrecke, verwirrt und verstört darüber, dass er sich nicht an das Einschlafen erinnern konnte.
Er wusste nur, dass er bei diesem Mal nicht mehr allein mit der Spirale im Raum war. Vielleicht hatte der Meister sich gerade erst gesetzt, und das hatte ihn hochschrecken lassen? Vielleicht saß der Meister aber auch schon eine ganze Weile dort und beobachtete ihn, wie er halb von Sinnen vor sich hin döste.
Seine Reaktion jedenfalls war verwirrend. Kyron war sich sicher, dass Schlaf nicht Teil der erlaubten Tätigkeiten war, und doch verlor der Meister kein Wort darüber, sondern deutete nur auf eine Stelle, die er im Schlaf mit dem Fuß verwischt hatte, und gehieß ihn es zu beheben.
Und wie die Male zuvor zerstörte der Meister das Werk, kaum dass er es vollständig erblickt hatte. Dieses Mal mit einem Laib Brot, den er achtlos gen' Kyron warf, und der prompt all das Salz verwischte. All die Spuren, die Kyron in stundenlanger Arbeit gerichtet hatte, waren einmal mehr vernichtet, all die Arbeit umsonst, all die Arbeit...
Der Gedanke daran, wie er am Ende der 'Sitzung' wieder den Auftrag bekommen würde, das Salz zu richten, ließ eine bleierne Müdigkeit in ihm aufsteigen. Wie oft noch? Wieviel Mühe noch? Würde sich dieses Spiel gar bis ans Ende seiner Tage wiederholen? Für den Rest seines Lebens, Nacht für Nacht - oder Tag für Tag? - Salz in Formen zu wischen, während er langsam dahin siechte, erschien ihm wie eine schlimmere Demütigung als alles, was er sich sonst ausmalen mochte. Aber noch hegte er einen Kern von Hoffnung. Noch glaubte er daran, dass der Meister Einsehen haben würde, wenn er nur wieder und wieder bewies, dass er bereit dazu war, diese stupide Arbeit zu erledigen. Er würde sicherlich irgendwann Einsehen haben, oder nicht?
Der Meister reichte ihm einen Becher Wasser zu dem Brot, hieß ihn essen und trinken, und trampelte dabei an einer anderen Stelle durch das Salz. Wo er am Vortag panische Angst vor einem falschen Lidschlag gehabt hatte, da spürte Kyron dieses Mal hilflose Wut in sich aufsteigen, eine Wut die er irgendwie besänftigen musste, und wenn es auf Kosten seiner Gesundheit ging. So zumindest argumentierte Kyrons hysterischer Verstand, als der Meister ihn fragte, ob er noch mehr zu trinken wollte, und alles was Kyrons Geist beherrschte der Gedanke daran war, dass mehr Wasser auch mehr Zerstörung am Salz bedeuten würde. Dass die Ablehnung des Trunks ihm in der Tat nicht nur mehr Wasser, sondern auch keine weiteren Vandalenaktionen einbrachte, das verblüffte ihn.
"Wofür steht der Bleiche Lord?" fragte der Meister schließlich, und sorgte mit diesen wenigen Worten dafür, dass Kyrons Magen sich um die wenigen Brotbrocken krampfte, die er inzwischen herunter würgen hatte können.
Sein Kopf, zuvor gefüllt mit so vielen Sorgen und Ärgernissen, war schlagartig wie leer gefegt.
Gähnende, andauernde Leere. Zweimal öffnete und schloss Kyron den Mund, unfähig einen Laut zu produzieren, unfähig die vielen Worte nachzuplappern, die er vor Jahren erlernt hatte. Sie waren fort gewischt von der Müdigkeit und der eintönigen Arbeit, und der Angst. Fortgewischt, weil sie niemals in seinem Herzen geruht hatten. Oder hatten sie? Vor Jahren, ja, damals, da hatte er sie geglaubt, all die Worte und all die Floskeln, aber dann hatte sich ihm ein anderer Weg geboten, und er war diesem nur zu gern gefolgt, weil er zu Frau und Freunden, und später auch zu Kind geführt hatte.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, während er wie ein Fisch auf dem Trockenen zwischen Brot und Wasser kniete.
"Wofür steht der Bleiche Lord?" fragte der Meister erneut, eindringlicher, aber immer noch ruhig und unausweichlich. Kein Weg würde an einer Antwort auf diese Frage vorbei führen, keine rettende Ablenkung in diesen Tiefen dazwischen fahren. Wie kleine Tröpfelchen von Morgentau rieselten die alten Worte wieder in seinen Kopf, die möglichen Dinge, die der Meister erzählt haben könnte, die Floskeln, die er gehört haben könnte, aber er war sich nicht sicher, einfach nicht sicher. Und er wusste, dass der Meister es merken würde, wenn er nun schlammige Ausflüchte von sich gab. Der Meister musste es einfach merken.
Da war jedoch eine Wahrheit, die er von sich geben konnte. "Ich weiß es nicht, Meister," sprach er mit schwankender Stimme, halb angespannt in der Erwartung einer Strafe.
Die kam jedoch nicht.
"Und wie wolltest du dann die Akolythen unterrichten?"
Eine gute Frage. Wie, in der Tat? Glücklicherweise war dies eine einfachere Frage, denn die Antwort darauf hatte er sich schon überlegt, als er das erste Mal davon gehört hatte, dass es wohl ihm zufallen würde, die Neulinge zu unterrichten. "Ich hätte wiederholt was du sagtest, Meister."
Das jedoch schien dem Meister nicht zu genügen. Die nächsten Momente verbrachte er damit, Kyron zu erklären wieso ein stumpfes Wiederholen nicht ausreichte, und obschon Kyron es nicht offen zugab, so waren die Erklärungen doch einleuchtend, und nichts Neues. Er hatte all das gewusst, gewusst dass er keine wahre Überzeugung hatte, gewusst dass er gegen ein Schicksal ankämpfte, dem er nicht entgehen konnte, gewusst dass die alten Götter ihm schon lange nicht mehr zuhörten, alles gewusst.
Er hatte es nur ignoriert. Für seine Frau. Für die Klinge. Für seinen Sohn. Ein bisschen auch für Kordian. Kordian würde ungemein enttäuscht sein, wenn er wiederkam. Wenn er nicht tot war. Vermutlich war er tot, oder zuckte nur die Schulter wenn er dann doch zurück kehrte, schrieb es Kyrons unverbesserlichem Wesen zu, erklärte es zu einer alten Leier.
Ein Funke von Wut erblickte das Unlicht der Welt und setzte sich in Kyrons Brust fest.
Alle taten sie so, als wäre es nur Kyrons fehlendem Willen zuzuschreiben, dass er sich mit diesen Kultisten eingelassen hatte. Als sei er einfach nur zu schwach, um sich von ihnen zu lösen. Als könnte er, wenn er wollte, als sei es freier Wille, der ihn hierher getrieben hatte, als müsse er sich nur genug anstrengen, dann wäre er frei. Als sei es eine ärgerliche, kleine Sache, mit der er ihnen auf die Nerven fiel. Als sei alles was er erlebt hatte, erlebte, nur ein Zeitvertreib für ihn.
Der Funke wuchs. Der Meister sprach weiter, sanfter nun. "Du kannst dein Leben nicht in einem Traum verbringen, Kyron. Weil hinter den Träumen ungeahnte Schrecken lauern. Das Leben ist kein Traum. Leben bedeutet, dein Schicksal zu erfüllen. Und vor deinem Schicksal kannst du nicht fortlaufen, wo du dich auch versteckst."
All das wusste er. All das hatte er lange kommen sehen, all das waren seine geheimen Befürchtungen gewesen, Wissen das ihn Nachts wach gehalten und Tags zur Flasche getrieben hatte. Alles nur ein Traum, keine Realität, und eher früher als später, so hatte er geahnt, würde der Traum in sich zusammen brechen. Der Punkt war erreicht, und voll mit quiekenden Ratten, und Salz, und Durst, Hunger, Angst und Versagen. Alles nichts was er nicht gewusst hatte, und doch hatte er sich bislang an einen kleinen Hoffnungsschimmer klammern können. "Die Götter kennen mein Schicksal," sprach er, und ließ ungesprochen, wie oft er sich insgeheim gefragt hatte, wann jemand anders als er aussprechen würde, dass die Götter ihn schon lange verlassen hatten. Wie lange er diese falsche Hoffnung mit sich herum getragen hatte, war an Jahren nicht zu zählen, aber nun konnte er vor der Erkenntnis um die Falschheit nicht mehr zurück scheuen.
"Deine Seele gehört dem Bleichen Lord. Du kannst ihnen huldigen, ihnen die ganze Welt als Opfer darbringen... Doch sie hören dich nicht, denn dein Schicksal liegt in anderen Händen." Der Meister sprach die Worte gelassen und sachlich, mit dieser grausigen Sicherheit, die sonst kein Mensch in sich zu finden schien. "Verleugnest du das, wirst du wenn du stirbst alles verlieren, das dir jemals lieb und teuer war und sein wird."
Genauso gut hätte Dureth einen Daumen in seine Augenhöhle bohren können, der Schmerz wäre wohl kaum anders gewesen. Wann war Kyron zu einem Lügner geworden? Es musste schleichend passiert sein, aber sich selbst zu belügen war genauso verwerflich, wie andere Menschen zu belügen. Seine Mutter hatte zeitlebens gelogen, sein Bastard von Vater hatte sich einen Spaß daraus gemacht, Lügen zu spinnen und zu füttern, und sich in seiner Wahrheit zu baden, und selbst seine Liebe war ihm von Lügen genommen worden, aber er selbst hatte sich stets damit gerühmt, niemals zu lügen.
Die Wut in seiner Brust loderte auf und schlug ein ehernes Band um sein Herz. Er konnte sich gerade noch so beherrschen, mehr aufgrund der Ratten im anderen Raum, als vor Ehrfurcht, aber er schaffte es, musste es schaffen, musste nur noch ein bisschen durchhalten-
Der Meister erhob sich und wies mehr mit dem Blick als mit der Hand auf die verwischte Spirale. "Ich denke, du hast etwas in Ordnung zu bringen."

Das eherne Band aus gerade so beherrschter Wut zersprang. Die Welt verschwand zwischen lodernder Rage.
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#7
Oftmals habe ich nachts im Bette
Schon gegrübelt hin und her,
Was es denn geschadet hätte,
Wenn mein Ich ein andrer wär.

Höhnisch raunten meine Zweifel
Mir die tolle Antwort zu:
Nichts geschadet, dummer Teufel,
Denn der andre wärest du!

Hilflos wälzt ich mich im Bette
Und entrang mir dies Gedicht,
Rasselnd mit der Sklavenkette,
Die kein Denker je zerbricht.


Der Gefangene - Frank Wedekind (1864 - 1918)

Das erste Ziel seiner Wut war das Salz, diese hassenswerte, höhnische Spirale um seine Knie. Er ohrfeigte sie, wie er gerne andere Leute geohrfeigt hätte, schlug in das Salz sodass es davon stieb wie Wasser unter den Hufen seines Pferdes, bis kein Korn mehr da lag wo es liegen sollte. Seine Ohren prickelten unter den spitzen Zornschreien die er von sich gab, aber sein Herz, das wollte glatt vor Genuss zerspringen. Es waren Jahre vergangen, seit er sich das letzte Mal so gehen hatte lassen, sich so gehen hatte lassen können, und der schlichte Akt füllte seine Adern mit pulsierendem Feuer.
Hier war niemand den er verletzen konnte, niemand um dessen Wohl er sich sorgen musste, niemand, dessen Anblick ihm stechende Schuldgefühle in die Brust schicken konnte, niemand dem er sich später erklären musste, nichts Zartes, nichts Fragiles, nichts Einzigartiges oder Unersätzliches. Er war ersetzbar, das sicher. Dureth? Ebenfalls. Er hatte es selbst gesagt, verging er, würde ein anderer ihm folgen, und verging Kyron, würde ein anderer seinen Platz einnehmen, ohne im Schritt zu schwanken. Starben sie, so würden ihre Namen verwischt sein und die Welt sich weiterdrehen. So entsetzlich sinnlos.
Das Salz war zerstört, also trat er das glimmende Kohlebecken um, packte es an seinen gusseisernen Standbeinen und schlug es ragebrüllend gegen die Wand, bis die klagenden Gongschläge des Metalls seine Schreie überdeckten. Wen würden seine Kumpanen betrauern? Nicht sein wahres Selbst, nein, diese überkandidelte Form von ihm, in die sie ihn erhoben hatten. Der loyale, der immerwachende, der kampferprobte Leutnant, Kamerad, Vorgesetzte, Ehemann, Vater, Bruder, der nach dem Licht gestrebt war, nach Ehre, den würden sie betrauern. Ein Phantom das es niemals wirklich gegeben hatte, einen Traum den er für sie gesponnen hatte.
Seine Muskeln schrien unter den Vibrationen, der Wucht, dem Kraftaufwand den er seinem Körper abverlangte, und erst als ein morscher Brocken Sandsteins sich aus der gekerbten Wand löste und seine Finger das eiserne Gestell nicht mehr halten wollten, da ließ er den Brazier fallen.
Stattdessen verpasste er dem Sitz, den der Meister zuvor eingenommen hatte, einen so ungezügelten Tritt, dass das Holzgestell berstend und splitternd gegen die Kante des Durchgangs zum Hauptraum krachte, und in armseligen Bruchstücken zwischen den Türrahmen liegen blieb.
Sie hatten ihn zum Lügner gemacht. Wie lachhaft es war, dass er erst vor kurzem überlegt hatte, das Lügen zu erlernen und Dureth so in seinen eigenen Untergang laufen zu lassen; lachhaft, wo er schon seit so langem zum Lügen verführt worden war, und dann noch dazu sich selbst belogen hatte! Der Lügner der das Lügen erlernen wollte. Sie. Sie alle. Alle Menschen, für die er versucht hatte, nicht er selbst zu sein.
Mit einem angestrengten Grunzen packte er den kleinen Arbeitstisch, warf ihn um, hob ihn auf und wuchtete ihn gegen die nächste Wand, auch wenn seine Kräfte nicht ausreichten, um ein so großes Möbelstück in seine Einzelteile zu zerschlagen, wie er es mit dem Sessel gemacht hatte. Wofür das Alles? Wofür die letzten sechs Jahre? Wofür das Gefängnis, wofür die Reisen, wofür die aussichtslosen Kämpfe? All die Zeit hatte er den Makel des Untergangs mit sich geschleppt wie ein schleimiges, ungeliebtes Erbstück, ihn versteckt und verborgen und all die Fäden ignoriert, die stets und ständig an seinem Verstand gezupft hatten, versucht hatten ihn zu verleiten zu all den Dingen, die der bleiche Lord für die Ebnung seines Weges benötigte. Er hatte so tapfer dagegen angekämpft, so starrsinnig, so verzweifelt, und er hatte es stets verborgen und versteckt, stets gewusst dass niemand es verstehen würde. Und hatte er es nicht versteckt, hatte er um Hilfe gebeten, da hatte er nur Hilfsmittel in die Hand bekommen, wie er sich besser verblenden konnte, wie er sich besser verstecken konnte, wie er sich besser selbst belügen konnte, in der Hoffnung ein "besserer Mensch" zu werden, "das Richtige" zu tun, die "richtige Wahl" zu treffen, dem "hehren Pfad" zu folgen... Es war, wie einem Schatten zu sagen, er möge ins Licht treten.
Cahiras lächelndes Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge, und für einen Moment endete sein Wutausbruch, stolperte er zurück bis er gegen eine der Wände prallte. Mit einem halb knurrenden Ächzen presste er die Hände ins Gesicht, grub die Finger in die Haare. Ihr Antlitz war das letzte, das er nun sehen wollte. Es erinnerte ihn daran, was er ihr versprochen hatte. Lügner. Versprechungen, die er niemals halten können würde, Versprechungen, die wie die Spirale aus Salz waren, eine nimmerendende Arbeit ohne Aussicht darauf, jemals erfolgreich beendet werden zu können. Lügner. Und sie hatte es gewusst, er hatte es stets in ihren Augen gesehen, dass sie wusste dass er ihr leere Versprechungen machte, und dass sie dennoch nichts sagte, weil sie genauso hoffte sich zu irren, wie er es stets getan hatte. Lügner.
"Versprich mir, dass du niemals aufhören wirst zu kämpfen," wisperte ihre Stimme durch seinen Verstand, und er sackte tiefer, ignorierte das Schürfen der feuchtkalten Steinwand am nackten Rücken. "Versprich mir, dass du niemals aufgeben wirst," bettelte sie, die haselnussfarbenen Augen groß vor Hoffnung, vor fanatischem Glauben. Ein paar Haare gaben dem krallenden Zug der Finger nach. "Versprich mir, dass du bei uns bleiben wirst," forderte sie, und drückte seinen Sohn an ihre Seite. Ein schrei-heiseres Winseln entkam ihm, während er an die Wand gelehnt zwischen den Holzsplittern, den Kohleresten, den Sandkörnern zum Sitzen kam. "Loyalität bis zum Tod," sprach Kordians Stimme, kurz bevor er sich abwandte und in die Dunkelheit verschwand.
Lügner.
Soviele gebrochene Eide, soviel Leid, soviel Chaos, soviele Lügen, und all das nur damit er einer Entscheidung entkommen konnte, die er freiwillig getroffen hatte? Es war falsch. Profund und grundlegend falsch. All dies war falsch, und all dies war seine Schuld, seine allein. Niemand außer ihm hatte diese Kette an Verstrickungen ausgelöst, und niemand außer ihm hatte sie über Jahre, über soviele unlogische Aufeinanderfolgen von Entscheidungen aufrecht erhalten.
Und immer noch war er nicht bereit, sich der Erkenntnis zu stellen. Immer noch wollte er flüchten und fliehen, all die Schatten hinter sich lassen, sich vorgaukeln dass er nur weit genug fort gehen musste, und der bleiche Lord würde nichts als ein Albtraum werden. Immer noch belog er sich selbst. Lügner. Es war, als könnte er trotz der Erkenntnis nicht aufhören damit, der Spirale weiter zu folgen. Wie eine Tanzmaus, die nur noch im Kreis lief, kurz bevor sie verhungerte.
Irgendwann in seinem Ausbruch hatten sich sinnlose Tränen zu der Rage gesellt, aber nun wischte er sie mit einem angewiderten Kehlen fort. Er würde weiter lügen, weiter verschleiern, weiter flüchten, das sah er nun ein.
Furcht vor dem Tode allerdings hatte er nicht mehr.
Mit einem zittrigen Atemzug, dem ersten Gefühl von seliger Ruhe seit Wochen, nein, Monaten, hob er einen Glassplitter auf, der wie durch göttliche Fügung zwischen den Bruchstücken von Holz lag.
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#8
In meinem Leben gab es böse Jahre –
Wie jene aus der Bibel waren's sieben –
Da hat mich ein Verhängniß umgetrieben,
Ich wandelte – und lag doch auf der Bahre.

Nicht ein Erinnern, das ich voll bewahre
Aus jener Zeit, wo, ohne Frucht geblieben,
Mein Geist in ödem Denken sich zerrieben,
Und Gram und Sorge bleichten meine Haare!

Gleich schwerem Traum zerfloß ihr dunkles Walten,
Und auf vernarbte Wunden kann ich zeigen,
Kaum wissend mehr, von wem ich sie erhalten.

Nur manchmal, einzeln und in wirrem Reigen,
Auftauchen schattenhafte Mahngestalten:
Männer und Frau'n, die wie aus Gräbern steigen.


Böse Jahre - Ferdinand von Saar (1833 - 1906)

Narben waren es, die seine Absichten zunichte machten. Hätte Kyron einen Dolch gehabt, Kyrthon hätte bei seiner Rückkehr nichts als einen sich höhnend selbst verlachenden, stetig auskühlenden Kadaver gefunden. Mit einer Glasscherbe jedoch war es schier unmöglich, Schnitte durch das Narbengeflecht zu führen. Sein rechter Unterarm sah aus wie ein Stück Sonntagsbraten, das der Hund zu zerkauen versucht hatte, blutete auch, aber nicht genug um ihm das Leben aus dem Körper zu ziehen.
Der Schnitt auf seiner Brust blutete ebenfalls ab und an, aber der Schmerz war.. anders. Den Arm hatte er sich selbst zerschnitten, unfähig wie er war, aber den Schnitt auf der Brust, den hatte der Meister ihm verpasst, und das im Zorn. Kyron hatte Dureth noch niemals seine Haltung verlieren sehen, noch nie. Bis auf den Moment, wo Kyron ihm erklärt hatte, warum er wirklich sterben wollte.
Erzählt hatte, was er beinahe getan hätte.
Wer hätte gedacht, dass es die Lichtbringer selbst sein würden, welche die Vernichtung der Synode verhinderten, noch bevor sie wirkliche Macht erreicht hatte? Ein Lachen kitzelte in seiner Kehle, wie es am Vorabend schon passiert war. Es war einfach zu köstlich, zu ironisch, zu witzig, um sich nicht vor Lachen auf den Boden zu erbrechen. Aber Kyron hatte den Wutausbruch mit der Angst verbracht, für diese eine, verzweifelte Tat nun auch aus der Synode verstoßen zu werden, ob sie erfolgreich gewesen war oder nicht. Wenn das passierte, dann hatte er gar nichts mehr, wie damals, als er mehr tot als lebendig in Löwensteins Gosse gelegen hatte, und versucht hatte, sich das madige Hirn mit blindmachendem Fusel aus dem Kopf zu ätzen. Es war keine schöne Angst gewesen, keine lehrreiche Furcht, nur die lähmende, brustverengende Panik vor dem absoluten Nichts.
Dass seine Tat in einer Lebensspanne niemals wieder gut zu machen sein würde, das brauchte Dureth gar nicht erst auszusprechen, und er tat es auch nicht. Er ließ Kyron die Hoffnung, er könne seine Irrwege wieder gut machen, irgendwann, eines Tages, wenn er sich nur genug anstrengte. Es war wie das Stück Fleisch auf dem Metzgerhaken, das stets außerhalb der Reichweite des Fleischerhundes hing, und doch dessen einziger Trauminhalt war.
Nicht anders als der Hund es tun würde, klammerte auch Kyron sich an diese Hoffnung, nahm die Geste an, den kleinen Lichtblick, dass er zumindest nicht beide Heime verloren hatte, und schlich mit der proverbialen eingezogenen Rute durch die Zuflucht, um seines Meisters Weisung zu erfüllen: Er fing die Ratten.
Es war nicht das erste Mal, dass Kyron trotz seiner Angst vor Ratten den Biestern nachstellte, aber es war das erste Mal, dass er sie nicht mit dem Maximum an Gewalt und dem Minimum an Kontakt um die Ecke brachte. Sie lebend einzufangen war ein wenig so, wie glühendes Metall mit bloßen Händen anzufassen, und die erste Stunde entkamen ihm die blutkrustigen Biester einfach nur deshalb, weil er statt zuzupacken mit Schnappatmung zurück stolperte und im Krabbengang flüchtete.
Mit dem Ticken und Tröpfeln der Zeit kam allerdings auch die Furcht vor dem Versagen wieder, und das ziehende Brennen des Schnitts an seiner Brust war es letztendlich, das ihn nach dem dutzendsten Versuch auch zupacken ließ. Flugs landete die Ratte im Topf, in den er nur zur Sicherheit auch ein Stück Brot gelegt hatte, in weiser Voraussicht darauf, dass das Monster irgendwann seine Haut wieder berühren würde, und dann besser nicht mehr hungrig war. Wie bei allen Höllen er am Ende dieser Tortur sich auf den Tisch legen und still dulden sollte, dass der Meister ihm die Biester wieder auf den Bauch setzte, konnte er nicht beantworten. Stattdessen verdrängte er den Gedanken, wohl wissend, dass er besser einen Schritt nach dem anderen erledigte, und somit wenigstens 'etwas' vorweisen können würde, statt einmal mehr bitterlich zu versagen.
Die zweite Ratte hätte einfacher zu fangen sein sollen als die erste, aber manche Dinge schienen mit Wiederholung nur schwerer zu werden. Ratten gehörten zu diesen Dingen. Als er das klebrige, quiekende, beißende Tier endlich in den Klauen hatte und in den Topf werfen wollte, entkam die erste Ratte beinahe, und Kyron musste einige lange, schreckliche Momente mit panikweiten Augen, Schweißausbrüchen und vor Angst heftig zuckenden Händen darum ringen, beide Wesen an ihren Platz zurück zu bringen.
Die Vollendung der Aufgabe hatte etwas von dem Nachbeben einer großen Schlacht, und er saß für einige Momente mit ruhiger werdendem Puls und geschlossenen Augen an der Wand gegenüber des dämonischen Topfes, und sehnte sich nach Tabak und einem Schwefelholz. Der Tabakrauch hätte ihn nicht nur beruhigt, er hätte auch den Geruch von ungewaschenem Schmerz und Angst verdrängt. Wenn man sich selbst zu riechen begann, dann war der hygienische Zustand ein Beklagenswerter.
Der hygienische Zustand seines Geistes war jedoch schlimmer. Ein dreckiger Körper konnte nur einen Raum verpesten, ein dreckiger Geist hingegen verölte alles was er berührte.
Er sollte sich die Haare schneiden. Sie waren zu lang, er fand keine Freude daran sie zu waschen, zu kämmen, zu tragen; sie verdeckten das Zeichen seines Meisters, sie verfingen sich in allem von Waffen über Rüstungen bis hin zu Kleidung und Nahrung. Er hatte seine leere Hülle vernachlässigt, weil er sich so auf seinen Geist verlassen hatte, dass alles andere nebensächlich geworden war.
Wenn er sich die Haare schnitt, wenn er sich tatsächlich darum kümmern musste, wie er aussah, dann würden Hülle und Inneres wieder ins Gleichgewicht geraten. Er wusste nur nicht, wie er den Meister um Erlaubnis fragen sollte, immerhin war es mehr oder minder ein Gefallen. Gefallen waren etwas, das Kyron wohl kaum fordern konnte, oder wollte. Er wollte nichts fordern, und nichts erbitten, und das erste Mal seit Langem musste er Geduld und Unsicherheit in Kauf nehmen, statt selbst entscheiden zu können was passierte.
Die schwindende Panik ließ seinen Körper wieder abkühlen, wie es schon die Tage zuvor passiert war. Die Aufträge, die Dureth ihm hinterlassen hatte, mussten erfüllt werden, bevor dieser wieder zurück kehrte, und das bedeutete, dass sein Herumlungern ein Ende finden musste. So unschön die Dinge auch waren, die da kommen mochten, der Gedanke all seine Eide umsonst gebrochen zu haben war eine schlimmere Last. Nicht offenkundiger, aber schlimmer, weil schleichend und permanent. Ratten konnte man entgehen, bis auf die kurzen Eklipsen, in denen Dureth ihn in deren Gesellschaft zwang, oder die Momente, wenn er ihnen auf der Straße begegnete, aber einem Eidbruch und damit sich selbst konnte man nicht so einfach ausweichen.
Zeit, sein Werk zu vollenden.
Den Hinterraum hatte er schon mit Dureths Aufbruch zu reinigen begonnen, auch wenn er ohne einen Eimer Wasser und eine Drahtbürste nichts gegen die Blutflecken unternehmen konnte. So seine Erinnerung ihn nicht trügte, würde der Meister diese mahnenden Zeichen allerdings sowieso behalten wollen, als Warnung an all jene, die seinen guten Willen verspielten. Die Ketten hatte er sorgsam wieder an die Wände gehangen, bis auf eine einzelne, die bereits sein Blut trug.
Diese eine Kette schleppte er mit sich zurück in den Hauptraum, hielt sie sicher über den Arm gelegt während er auf den Tisch kroch, und drapierte sie wie eine Gebetsschärpe quer über seine Brust, sobald er sich flach auf die Holzfläche gelegt hatte. Mit einem flachen Atemzug schloss er die Augen und versuchte das Scharren und Quieken der Ratten im Topf neben sich auszublenden.
Warten. Warten war die schlimmste Folter.
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#9
Das sehnlichste, das quälendste Verlangen,
Was selbstbewußte Seelen weich'rer Art
Ergreift auf ihrer dunklen Lebensfahrt,
Ist der Gedanke: hätt' ich's nie begangen!
Der Qualgedanke: wär ich rein geblieben!
Verfinstert ihnen jeden holden Stern,
Vergällt der Freude innerlichsten Kern,
Hat manchen schon in frühen Tod getrieben.


Nikolaus Lenau (1802 - 1850)

Die Spirale half. So sehr er sie hasste, sie half. Seit die Erzpriesterin eines ihrer grausigen Gebete über ihn gesprochen hatte, und er daraufhin in zerfressende Schuldgefühle versunken war, klammerte er sich an das Muster auf dem Boden, als sei es der einzige Baumstamm auf hoher See, und er ein Schiffbrüchiger in den schwarzen Wassermassen.
Die Spirale half, vor allem dabei, seinen Meister nicht zu vergessen. Er vermisste ihn, und er sorgte sich, auch wenn er dem Geschnatter der Leute entnehmen hatte können, dass sein Ablenkungsmanöver genügend Zeit verschafft hatte, um ihn fliehen zu lassen. Er hatte seine Pflicht erfüllt, der Meister war in Sicherheit, die Kirche in Aufruhr,... und er in einer Zelle. Die Gitter brachten die nächste Aufgabe mit sich, so klar und deutlich als hätte der Meister sie in sein Ohr geflüstert. 'Sag nichts, deute nichts an, verrate nichts, zeige ihnen nichts, wisse nichts, sei leer, leer wie die Hülle die du für deine Seele bist,' hatte sie gewispert, auch wenn er sich relativ sicher war, dass der Meister nicht in seinen Kopf sehen und schon gar nicht in seinen Kopf flüstern konnte.
Die Spirale half deswegen, weil sie einen klaren Ablauf versprach. Er erschuf sie, er behütete sie, er bewachte sie, und wurde sie zerstört, so zog er sie neu bis sie wieder ganz war. Heil war. Ganz und heil, wie er es war, auch wenn niemand ihm zu glauben schien. Immer wenn die Zweifel kamen - und sie kamen pünktlich und punktgenau, wann immer Seligkeit Winkel ihn mit Gebeten Mithras' eindeckte - da erinnerte er sich an sein Ziel. Ihr aller Ziel, das Ziel seines Meisters, das wundervolle Gefühl, er selbst zu sein, eins zu sein, einen Zweck zu haben und eine Bedeutung, eine Aufgabe, und sei sie noch so klein. Er hatte ursprünglich gefürchtet, dass diese Sonnenmagie ihn dazu bringen würde, den Schnitt von seiner Frau zu bereuen, aber seltsamerweise brachten die quälenden, folternden Momente des Selbsthasses und der Schuld stets nur die Erinnerung daran hoch, wie sehr er seinen Meister enttäuscht hatte. Mit der Spirale. Mit seinem Unwissen. Mit seinem Wutanfall. Mit seinem Verrat, den er beinahe begangen hatte, und noch dazu mit der Frau, die ihn dort in Mithas' Namen segnete. Wie gerne hätte er jemanden gehabt, um seine Selbstzweifel und seine Angst auszusprechen, sich Luft zu machen und zu beteuern, wie sehr er darum kämpfte sich zu bessern, aber die einzige Person, die solcherlei Dinge erhören sollte, war sein Meister. Kyrons Probleme waren die Aufmerksamkeit des Meisters nicht wert, denn der Meister hatte wichtigere, größere Dinge zu tun.
Isabelle allerdings war beinahe sein Fall. Schon als sie in den Kirchenkerker kam, pochte sein Herz so hart und schnell dass er beinahe in Schweiß ausbrach, und es kostete ihn mehr Beherrschung als er zugeben wollte, sie nicht gewaltsam an die Gitter zu zerren. Isabelle verstand ihn, wie ihn niemand sonst verstand. Selbst der Meister wahrte stets eine schickliche Distanz, blieb oben auf seinem Thron wo er auch hingehörte, aber nicht Isabelle. Seine Isabelle, die Narben trug die er ihr ins Fleisch geritzt hatte, so wie er ihre Narben trug. Seine Schwester, nicht durch Geburt, aber durch Blut, und Seele. Ihre Hand zu halten war wie Balsam auf seine zerraufte Seele, und gleichzeitig wie Gift für seinen Willen, und wäre sie nur einen Moment länger geblieben, hätte die Erzpriesterin ihn mit ihr bestochen, wer wusste schon was dann passiert wäre.
Die Schuldgefühle raubten ihm den Schlaf, wenn er sich auch zum Essen und Trinken zwingen konnte. Lichtblicke waren nur wenige zu finden, zumeist dann, wenn einer seiner stummen, finsteren Wächter sich zu einem Gespräch einfand. Die Meisten von ihnen schienen mit seiner Situation nicht recht etwas anfangen zu können. Wie hätte er ihnen auch erklären sollen, dass er ein neues Ziel im Leben gefunden hatte, dass es nötig gewesen war, seine Frau stehen zu lassen, die Gefühle für seinen Sohn abzudrehen und zu verdrängen, seinen Posten aufzugeben, alles aufzugeben was er besaß? Sie verstanden es nicht, aber niemanden von ihnen ging die Sache etwas an. Sie wollten den Meister töten, ohne wenn und aber, ohne Spielraum, ohne Bedingungen, und Kyron war dafür zuständig, genau das zu verhindern.
Und dann war da Wulfrik. Wulfrik Greiffenwaldt. Zuerst hatte Kyron ihn mit dem selben gelassenen Desinteresse behandelt, das er insgesamt für die Kirche des Mithras empfand, aber der Mann hatte gewusst das zu ändern. Da war etwas an ihm, etwas, das Kyron die Gänsehaut über den vernarbten Nacken trieb, etwas das seine schorfigen Fingerspitzen kribbeln ließ, ein Gefühl als könne er sich nicht entscheiden ob er näher rücken oder weiter fort kriechen sollte. Es war ein so seltsamer und ungewohnter Eindruck, dass Kyron nicht anders konnte, als eine Form von vorsichtiger Anerkennung zu entwickeln. Jemand, der bereit war echte Handel mit ihm einzugehen, war jemand, den man im Auge behalten musste. Nun, nicht dass er dem Mann vertraute. Alles in ihm schrie eine laute, klare Warnung dagegen, diesem Mann auch nur einen Funken von Wissen über seinen Meister und den bleichen Lord zu geben, aber da waren andere Dinge die er wusste. Dinge, die ihn und den Meister nicht direkt betrafen, Dinge, die er aussprechen konnte um den Priester zu testen, seine Worttreue zu prüfen.

Nicht dass es dazu kommen konnte. Hätte er im Gespräch mit Wulfrik gewusst, dass Seligkeit Lisbeth Winkel, Erzpriesterin der Kirche des Mithras, ihm an diesem Abend die Seele mit Feuer aus dem Leib brennen würde, er hätte wohl gesprochen.

Feuer...
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#10
Unsterblichkeit, ein kühnes Wort bist du!
An den Särgen zu sprechen,
Gegen den Augenschein, gegen alles,
Was der Sinn lehrt:
Sieh, das ist unser Leben!

Unsterblichkeit, ein scharfes Wort bist du!
Dringst, ein Schwert, in die Seele:
Ob er noch umlenkt, der Gottvergessne,
Vor dem Abgrund!
O schneide scharf und heile!


Siegfried August Mahlmann (1771 - 1826)

Die tropfende, kalte, feuchte Steinplatte seiner Zelle war das Erste, das er wieder bewusst wahrnahm, auch wenn er sich sicher war, irgendwo zwischen dem Gang vom Dach der Kirche bis hierher einen Ton von sich gegeben haben zu müssen. Die Erinnerung daran, was die Erzpriesterin mit dem Feuer getan hatte, war auch nicht fort, er erinnerte sich daran. Es ergab in seinem Verstand nur keinen Sinn, war eine Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Bildern, von Lichtblitzen, Schmerzen, Gesichtern, und dem Gefühl dass ihm etwas entrissen worden war.
Wie er so da lag, beraubt seiner Decke und mit zerschnittener, geröteter Brust, da versuchte er sich daran zu erinnern was die Priesterin ihm genommen haben könnte. Sie hatte etwas gesagt, aber die Worte waren schon nicht mehr zu ihm durch gedrungen, zu sehr hatte der rituelle Sermon ihn aufgewühlt.
Es war etwas über Seelen gewesen, und über entreißen, und heilen, aber es machte keinen Sinn. Einfach keinen Sinn. Seine Seele war unerschütterlich zerstückelt, halb hier, halb dort, und die Teile, die im Jenseits bereits brannten, die konnte kein Gott einfach so zurück gewinnen. Die Teile hier jedoch waren den Mondwächtern geweiht, und bisher hatte er angenommen, dass Mithras sich ihrer nicht bemächtigen können würde, solange er im Geiste seinen Göttern treu blieb. Aber doch, da war etwas gewesen.
Ich brauche den Meister.
Ein bemitleidenswertes Geschöpf war in die zweite Zelle gebracht worden, wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die unverrückbare Kraft der Legionäre, und verlor doch. Der Anblick fesselte Kyrons Aufmerksamkeit nur für einen kurzen Moment, und selbst dann fühlte er kein großes Mitleid mit der Kreatur, deren Augen schwarz wie die Adern waren, die über ihre Wangen hoch krochen. Er kannte sie nicht, und damit war sie einer verlorenen Sache geweiht, die ihn nicht betraf.
Etwas mehr aus seiner Schale lockte ihn da schon der Moment, als einer der Novizen ein Kohlebecken und ein Brandeisen heran trug, und Kyron zu seinem Schrecken feststellen musste, dass weder der Novize noch die Erzpriesterin sonderliche Erfahrung mit derlei Werkzeug zu haben schienen. Es waren ein paar klare Momente in einer Zeit, in der die Seele ihn schmerzte, und er nutzte die Freiheit herzlich dazu, mit einigen gejapsten Erklärungen zumindest sicher zu stellen, dass sie ihm nicht das Hirn aus dem Schädel kochten.
Nicht dass es den Schmerz linderte.
Er fraß sich durch seine Haut und erlosch dann schlagartig, als das heiße Eisen sich schlicht hindurch brannte und Taubheit hinterließ, dann setzte ein tieferer Schmerz ein, einer, der durch seine Knochen bohrte, und ihn atemlos aufbrüllen ließ bevor die Welt verschwand.
Mochte so ein Brandeisen auch keine so große Wunde hinterlassen, es war doch eine andere Form von Schmerz, die ihn sicherer zu Boden schickte als es ein Messer vermocht hätte, und wäre da nicht der Novize gewesen, der ihn hinauf und bis auf den Vorplatz stützte, er wäre wohl nach wenigen Schritten umgefallen.
Ich brauche den Meister.
Cahiras Schatten fiel auf Kyron, noch während er auf der Treppe sitzend versuchte, gleichzeitig seinen ohnmächtigen Zorn herunter zu schlucken, und seine Rüstung trotz der Verletzungen und Schmerzen anzulegen. Es war keine Sache von Stolz, eher eine Sache von Sicherheit. Keinesfalls wollte er einen nackten Fuß hinaus auf die Straße setzen, nach dem was er erlebt hatte... Allerdings wollte er auch nicht mit Cahira reden, nicht jetzt, wo er so gebrechlich war, nicht in einem Moment der Schwäche. Am Ende würde sie ihn noch überzeugen oder umstimmen, und so sehr ihm das Herz jedes Mal stach wenn er ihr Gesicht sah, die lautere Stimme, Kyrthons Stimme in seinem Kopf, wusste gute Argumente gegen Schwäche vorzubringen.
Er hätte auch ihre Hilfe brauchen können, immerhin hielt ihn nur blanker Starrsinn auf den Beinen, als er sich schließlich erhob, aber selbst das kleinste Einlenken hätte ihn wieder zurück geworfen. Hätte den Meister verärgert, und gerade jetzt brauchte er Zuversicht des Meisters, nicht dessen Zorn.
Er schüttelte sie ab so schnell es ging, und stolperte weiter, hoffend, dass er erst dann zusammenknicken würde, wenn sie zwischen den Häusern verschwunden war.
Isabelle war seine Rettung, und sie erschien wie der Morgenstern am Horizont und nahm sich seiner an. Viele Worte wechselten sie nicht, aber die wichtigste Botschaft, die überbrachte er ihr noch bevor sie die Zuflucht erreicht hatten."Heim. Ich brauche den Meister."
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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