FSK-18 Bevor ich sterbe
#11

25. Gilbhart 1402

‘Sie ist wie du. Ist das nicht köstlich?’
Laub raschelte, trieb gegen Shae’s schwarze Locken, während sie die Augen auf den schlammerdigen Untergrund fixiert durch den alten Hafen stapfte. “Nicht wirklich. Eher traurig. Dass es von jedem Menschen eine Kopie in Hell oder Dunkel geben könnte, das treibt einen Keil in den Gedanken der göttlichen Schöpferkraft,” erklärte sie der Stimme in ihrem Kopf halblaut, achtsam, dass der Wind ihre leisen Worte schlucken mochte, bevor jemand sie hörte, und annahm, sie spräche zu sich selbst.
Die Stimme hatte allerdings Recht, so ungerne Shae es zugab. Der kurze Besuch im Heilerhaus hatte sich von kalt-zorniger Neugier zu einem Desaster und schließlich zu einer teuflisch-glücklichen Fügung gewandelt. Die Vogtin hatte ihr tatsächlich allen Grund gegeben, sie zu hassen, vom ersten Moment an, so wie Shae es angenommen hatte, damals, als Axis vorgeschlagen hatte, sie könnten einander ja kennenlernen. Und dann war es ihr wie ein Schleier von den Augen gefallen.
‘Die perfekte Rache,’ schnurrte die Stimme wohlig wie ein fettgefressener Kater durch ihren Geist.

“Die perfekte Rache,” stimmte Shae wispernd zu, und sonnte sich in dem automatischen Lächeln, das mit den Worten kam. Ihm den Preis zu nehmen, den Pokal, das, wess’ er sich so sicher gewogen hatte, alles, wofür er sie stehen lassen hatte, sodass er nun mit nichts zurück blieb. Sand, der durch seine Finger floß. Asche, die bald durch seine Finger fließen würde.
Oh ja, zuerst hatte die Vogtin sich von genau der Seite präsentiert, die Shae erwartet hatte. Es war leicht gewesen, sie zu hassen, sich an dem schmerzlichen Zucken ihrer Pupillen zu erfreuen, an dem Heben und Senken ihrer Schultern, die sich kaum um Haaresbreite bewegten, und doch eine so laute, klare Sprache sprachen. Es war leicht gewesen, den eigenen Hass hinter seidigen Worten zu verbergen, noch leichter, die Worte in intimste Wahrheiten zu kleiden, die sie sonst niemals ausgesprochen hätte. Altbekannte Koseworte zu Waffen zu formen, Schwüre zu Dolchen, und sie alle mit einem milden Zungenschlag in das Herz der Vogtin zu rammen, tief hinein, ohne ein Haar an ihrer fleischlichen Hülle zu krümmen.
Leicht, so leicht, so einfach, bis sie ein Schwesterfeuer in deren Augen flackern sehen hatte.
Für einen Moment, wenn auch nicht für lange, da hatte sie einen Funken Mitleid für Axis empfunden.
‘Ist es nicht obszön, dass du ihm mit dem Zorn dieser Frau so viel schlimmere Dinge angetan hast, als sie dir jemals eingefallen wären?’ wisperte die Stimme mit schadenfrohem Geckern, und trieb Shae einen Schauder über den Rücken, der das Lächeln kurzzeitig ersterben ließ.
“Ich weiß nicht was du meinst,” leugnete sie, aber die Erkenntnis war bereits da. Und die Stimme in ihrem Kopf war schwer von ihrem Bewusstsein zu trennen, war vielleicht gar ihr Bewusstsein. ‘Natürlich weißt du was ich meine. Du hast Jahre der Rachlust hinter dir. Du bist ein Veteran der Harpien.’
Zähnebleckend rollte Shae die Schultern, straffte sich bewusst etwas mehr, um sich nicht um diesen eigenen Gedanken zu kauern. Natürlich, sie hatte tatsächlich Jahrzehnte damit verbracht, ihre Rache auszuleben, die schrecklichen Ergebnisse zu beobachten, zu weinen und sich die Haare zu raufen, und schließlich mit dem Bewusstsein zu leben, was sie einem Menschen anzutun fähig war. Was Rache, Hass einem Menschen antun konnten. Es war weit schlimmer als alles, was diese Männer, Frauen, Sterblichen, ursprünglich getan hatten. Und manchmal, da war ihre Rache weit über das Ziel hinaus geschossen, hatte Tote zurück gelassen.
Sie hatte gelernt, ihren Hass zu zähmen, ihre Rache so minutiös zu planen, dass solcherlei Nebenwirkungen inzwischen fast ausgeschlossen waren. Aber… hatte ihr Zwilling im Geiste das auch gelernt?

‘Ich gebe dieser Hinsicht in Sachen der Härte ein spezielles Lob. Auch wenn sie in Sachen der Grausamkeit niemals an das heran reichen wird, was du mit Kordian treibst,’ informierte die Stimme sie genüsslich.
Nicht dass Shae jetzt noch etwas ändern konnte. Nicht dass Shae etwas ändern wollte; Eirene hatte ihre Rache mindestens genauso verdient, wie sie selbst. Vielleicht sogar noch etwas mehr, hatte sie solcherlei Lügengespinst scheinbar noch nie zuvor erlebt, wo es für Shae das sechste oder siebte Mal in Folge war. Mann kam, Mann sah, Mann wollte, Mann wurde gelangweilt und zog zur nächsten weiter, wie jemand der auf zwei güldenen Straßen zugleich zu marschieren versuchte.
Mit einem Ruck kam Shae zwischen den zerschlissenen Zelten zum stehen, nur halb vom entfernten Lagerfeuer beleuchtet. Ihr Blick war auf die wenigen Häuser fixiert, die das Armenviertel jemals aus den Untiefen seiner schlammigen Eingeweide erbrochen hatte. Eirenes Rache war nicht die Ihre, und auch wenn sie sich sicher war, dass sie Axis dort bluten lassen würde, wo ihre eigenen Hände nicht mehr hin zu reichen vermochten, so war sie auch nicht bereit, der anderen Frau nun auch noch ihre Rache kampflos zu überlassen.
Nein.
“Wie Asche wird eine Existenz durch deine Finger rieseln,” wisperte Shae, und lächelte einmal mehr dieses fahle, vergilbte Lächeln.
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#12


11. Julmond 1402

Gute Rache muss sein wie ein guter Wein. Spät geerntet, mit Füßen weich getreten, an einem kalten, dunklen Ort vergoren, bis sich Trester, Weinstein und Schaum absetzen, und eine klare, schwere, zungenschmeichelnde Komposition zurück bleibt. Und wie Wein muss eine gute Rache ruhen, ungestört, ohne Trubel, ohne Aufwühlen, für eine längere Zeit als die Geduld eines Menschen normalerweise erlauben würde. Ruht der Wein - oder die Rache - allerdings zu lange, so wird er bitter, säuerlich, ungenießbar, Essig. Rache darf niemals bis zur Vergällung ruhen, denn so entstehen verbitterte Hexen.

Die Axt auf der Theke war auf den ersten Blick ein durchaus verlässliches Werkzeug. Der Stahl des Axtkopfes war geölt worden, die Schneide geschliffen und poliert, der Griff geharzt gegen Wasser. Zudem fiel das Gerät nicht auseinander, wenn Shae es probehalber hob und etwas schüttelte, und das war immerhin schon etwas. Eine Axt sollte nicht zerfallen, wenn man sie nur anhob, soviel Bauernschläue besaß selbst eine Schwangere. Dennoch… dennoch.
Trotz des beginnenden Bäuchleins lehnte Shae sich vor, mit einer behandschuhten Hand kritisch das Kinn reibend, während sie die Axt aus nächster Nähe beäugte. “Ich sehe selbst von hier, dass der Stahl zu weich ist,” teilte sie dem Händler mit, der prompt einmal mehr missbilligend die Zähne bleckte. Der Mann mochte sie nicht, das hatte sie schon in dem Moment festgestellt, als er das erste Mal ihren Akzent gehört und eine angewiderte Miene gemacht hatte.
“Der Stahl ist zu weich,” wiederholte sie, und richtete sich wieder auf. Und dieses Mal bekam sie auch eine Antwort. Es war nicht die Antwort, die sie gerne gehört hätte, aber eine.
“Dann kauf doch wo anders, dreckiges Inselweib!”

Einmal mehr im eisigen Winterwind Löwensteins angekommen warf Shae einen missgünstigen Blick zum verhangenen Himmel. Auch auf einigen Inseln Galatias konnte es selten einmal zu Schnee kommen, aber die Nase für das Winterwetter hatte sie sich erst in der harten Schule Nortgards angeeignet. Und dieser Tag roch nach Frost, und Kälte, und einigen Flocken, die spätestens am nächsten Morgen schmelzen und jeden Erdweg in glitschige, rutschige Moore verwandeln würden.
Gemessen daran, dass sich in Löwenstein auch kein guter Schmied auftun lassen wollte, der etwas von Äxten verstand, waren zwei gute Gründe gefunden, den Heimweg nach Ravinsthal unverrichteter Dinge anzutreten. Der Gedanke daran, die Stadt einmal mehr ohne befriedigende Rauchwolken zu verlassen, mochte ihr den Abend nun zwar nicht versüßen, aber Shins großartige Nicht-Grog-Komposition hatte ihr zumindest die Brust angenehm gewärmt. Es ging nichts über ein paar Schlucke Schnaps mit Frucht, wenn man plante, später weite Fußmärsche zurück zu legen.
Es wird Zeit, dass du deine Angelegenheiten auch einmal zu Ende bringst, Sturmkrähe, wisperte die immer präsente Stimme in ihrem Kopf. Wieviele Faustschüttler, wieviele Drohungen willst du noch ansammeln? Bald nimmt dich keiner mehr ernst… Und wie sollten sie auch? Sieh dich an, du wackelst durch die Landschaft wie eine Fähe kurz vorm Platzen.
Shae erwiderte nichts. Es war schwer, Kritik zu erwidern, wenn man insgeheim von Herzen zustimmte. Wieviele Rachepläne sollte sie noch ansammeln? Da war Kordian, da war Anouk, da war Viktor Veltenbruch, und nun Axis und Eirene, und jeder einzelne Plan musste aufrecht erhalten, gepflegt, wieder aufgegriffen und am Leben erhalten werden. Es war mehr als Zeit, zumindest einen dieser Racheakte zu vollziehen. Und der Leichteste dieser Pläne war Axis.
Sie würde zu Aki gehen müssen. Nicht dass sie etwas gegen Aki hatte, der Mann schien zumindest noch einen Funken in sich zu tragen, eine Lebensflamme, die sich weigerte, von der Amhraner Gesellschaft erstickt zu werden. Aber zu Aki zu gehen beinhaltete auch, dass sie vorsichtig damit sein musste, was sie sagte. Aki war ihr nicht durchschaubar genug, um leichtfertig Pläne zu verkünden, und wenn er am Ende Fäden nach Löwenstein oder Zweitürmen, oder am Ende gar zur Kirche hatte, konnte ihre Rache nur zu leicht zu Essig verfallen.
Wenn du nicht in der Lage bist, deine Charade aufrecht zu erhalten, weil dein Kopf so voll von ‘Na warte, bald..’ ist, dann solltest du vielleicht endlich einmal den Schwanz einziehen, schlug die Stimme in ihrem Kopf vor. Und hatte Recht.
Dieses Mal aber kannte Shae die richtige Antwort auf das stetige Wispern und Raunen hinter ihrer Stirn.
“Halt deine verdammte Drecksklappe!”
Aki. Aki würde es sein. Nun hieß es nur noch, den Schmied im rechten Moment abzupassen, und ordentlich einzubuttern.
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#13
Triggerwarnung bei unerfülltem Kinderwunsch.
Achtung, kontradiktorische Gewaltschilderung.


Intro

18. Lenzing 1403

Ein Baumstumpf diente als Rückenstütze in finsterer, nebeliger Nacht. In der Ferne rief ein Käuzchen sein verwirrtes ‘Huuu, huuu’, und irgendwo flüchtete eine Maus vor dem drohenden Tod. Das Laub war feucht und myzeldurchwachsen und jede Bewegung, jedes Winden und Sträuben, ließ den scharfen Geruch nach Verfall und Erde aufsteigen. Kahle Bäume wiegten ihre knospenbesetzten Äste im Frühlingswind, gebeutelt von dem kurzen, heftigen Sturm, der Schneeregen auf die Landschaft hinab erbrochen hatte wie ein besonders boshafter Geist. Hier und da sammelten sich sogar noch ein paar fragile Klumpen tropfender Pracht auf den Astgabeln, bereit, sich spöttisch auf die geplagte Frau hinab zu ergießen, wann immer sie zu fest gegen die Stämme stieß.
Es war nicht richtig. Sie sollte nicht allein sein, nicht in so einem Moment. Nicht hier draußen in der Wildnis, blutend und wehrlos, ein gefundenes Fressen für Wölfe oder besonders ausgehungerte Bären.
Nicht richtig, aber die Realität.
Wochenlang war sie ins Unterholz Ravinsthals uns Servanos gewandert, sorglos und auf der Flucht vor all den Bemutterungen, die sie in Gesellschaft über sich ergehen lassen musste. Natürlich war jedes Kind ein Segen, natürlich benötigte jede Mutter Hilfe, aber die ständige Bevormundung hatte es ihr unmöglich gemacht, sie anzunehmen. Es war nicht ihr erstes Kind, nicht einmal ihre erste Geburt; als Heilerin hatte sie mehr als genügend kleinen, schreienden Wesen auf die Welt geholfen, manchmal den besonders starrsinnigen mit einem kleinen Klaps auf den Hintern und ordentlichem Reiben deutlich gemacht, dass sie dem Leben nicht so einfach entkommen konnten. Sie wusste was sie tat. Sie hatte es selbst schon einmal getan. Sie hatte dutzenden anderen Frauen geholfen, es zu tun, und doch war sie entmündigt worden. Verständlich, alles war verständlich. Als Mutter benötigte man dreimal soviel Geduld mit Anderen, wie diese mit der Mutter benötigten.
Dennoch, Shae hatte es zu weit getrieben. Der Beweis dafür hatte sich vor keiner halben Stunde über ihre Schenkelinnenseiten ergossen, und tränkte nun ihren Rock. Sie hatte es versucht. Sie hatte versucht, nach Hause zu kommen, bevor die Schmerzen zu schlimm wurden, aber das kleine Wesen in ihr war wie sein Vater: Es wusste was es wollte, und da konnten selbst die Götter nicht im Wege stehen.
Die Entscheidung war schwierig gewesen, aber ein besonders steiler Erdhang hatte sie ihr abgenommen. Mit dem Kopf schon fühlbar hatte sie keinesfalls einen Sturz riskieren wollen, egal ob nach vorne oder nach hinten, und selbst wenn sie den Hang hinab gerutscht wäre, das Kind hätte dennoch nicht bis nach Rabenstein gewartet. Statt also weiter wimmernd durch den Thalwald zu torkeln, und am Ende wirklich ein Raubtier anzulocken, hatte sie sich an die trockenste Stelle gesetzt die sie finden hatte können. Und nun nahmen die Dinge ihren Lauf.
Das Stoßgebet - oder der Stoßfluch? - an die Götter kam ihr erst über die Lippen, als die winzigen Füße des Säuglings sie verließen, und sie mit klamm-kalten Fingern nach dem dreckigen, fröhlich schreienden Knäuel frischen Lebens griff. Es in ihren Schoß zerrte, hastig in ihren Überwurf wickelte.
Ein Blick auf die Hände, auf die Füße, um zu sichern dass alles so war wie es sein sollte. Kurze Erleichterung, dann ein Blick ins Gesicht.
Shae’s Herz stockte für drei Schläge, als habe der Muskel plötzlich vergessen, wie er sich zu gehaben hatte. Zu den Tränen des Schmerzes und jenen der Erleichterung gesellten sich stille Tränen des Kummers.
Keine Zeit, keine Zeit lange darüber nachzudenken. Mit ungeschickten Fingern zupfte Shae einen Faden aus ihrer Tasche, schnürte die Nabelschnur, und schnitt sie mit einem hastig abgeleckten Kräutermesser. Mechanisch nahm sie sich der Nachgeburt an, wickelte sie in ein Stück Tuch und legte sie in den Korb, dann wurde der Säugling auf dem Boden abgelegt und betrachtet.
Sie wusste, was sie zutun hatte. Wusste, wie ihre Familie solcherlei ‘Probleme’ behob. Es war eine Pflicht, eine, die sie bei anderen beobachtet hatte. Natürlich hatten sie geweint, natürlich hatten sie gelitten. Aber die Alternative war um so Vieles schlimmer, oder nicht?
Shae’s Finger fanden den faustgroßen Stein fast wie von selbst, als triebe sie ein anderer Geist, ein hasserfüllter Geist an, der mit ihren Gedanken nichts zutun haben wollte. Das Kind war ein Zeichen von Schwäche. Das Zeichen eines Fluchs, eines bösen Geists, einer finsteren Macht, die sich ihres Leibes bedient hatte. Schlechte Sterne, schlechte Zeichen, schlechte Zukunft. Nicht für sie, oh nein, nicht für sie. Für das Kind, das die Götter gestraft hatten, bevor es sie überhaupt kennenlernen durfte. Bevor es Schicksalsgötter hatte, bevor es einen Namen hatte, bevor es Milch gekostet hatte, oder ein warmes Bad erlebt hatte. Die Spreu hatte aus dem Weizen gefegt zu werden, und umso länger sie wartete, umso schwerer würde es werden.
Es ist deine Pflicht. Tu es.
Die Finger krampften sich härter um den Stein.
Tu es. Es hat noch keine Seele, die Götter haben ihm noch keine Teile von sich gegeben.
Shae hob den Arm mit dem Stein, kaum fähig, durch die Tränen zu sehen.
Tu es.

Der Stein fiel zur Seite und rollte den Hang hinab. Die Stimme in ihrem Kopf erklang das erste Mal seit Stunden.
‘Erinnere dich an diesen Moment, wenn sie dich fortjagen, Sturmkrähe.’
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