Zwei Leben
#31
Konklave 1403 - Nach Hause, nur nach Hause

Cahira dämmerte in einem Zustand von Wachen und Besinnungslosigkeit dahin. Dort unten gab es kein Sonnenlicht und sie hatte recht schnell jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hätten erst Stunden aber auch schon Tage, Wochen in den Untiefen der Gefängnisinsel verweilen können - es hätte sie nicht gewundert. Mit dem Nachlassen der Wirkung des Heiltranks kamen auch die Schmerzen wieder. Vor allem dröhnte ihr Kopf, ab und an musste sie dunkle Schlieren vor ihren Augen und Schwindel selbst im Liegen wegblinzeln, und jeder tiefere Atemzug sandte Pein von ihrer Brust in jegliche Faser ihres Körpers.

Als sie sich schließlich doch aufraffte und mit Lionel, der die meiste Zeit an ihrer Seite oder mit Cois verbrachte hatte, in den Gefängnishof trat war die Sonne bereits wieder am Untergehen. Rotes, warmes Licht spiegelte sich in den Zinnen deren lange Schatten wie Finger wirkten, die nach ihr zu greifen schienen. Cahira erschauderte und versuchte sich stattdessen eine Übersicht über die Lage zu schaffen. Die Angreifer hatte sich den Tag über nicht gezeigt und Magda war bereits in dieser Sicherheit nach Ravinsthal aufgebrochen, während Isabelle nach einer durchwachten Nacht ihrem zerschundenen Körper Tribut zollen musste und schlußendlich doch in heilsamen, tiefen Schlaf gefallen war. Auf der Brüstung hatten sich die übrig gebliebene hohe Gesellschaft versammelt, um Pläne für das weitere Vorgehen zu schmieden. Eigentlich wäre auch sie am liebsten gleich durch das Tor gestratz, um ihren Sohn in Sicherheit zu bringen, aber davon wurde ihr aufgrund der fortgeschrittenen Stunde abgeraten. Man erwartete, dass die Vampire bei Anbruch der Dunkelheit wieder einen Angriff starten würden.

Nach einem kurzem Abstecher zum Tempel - dort wollte man sich mit den Mithrasdienern, die sich hinter den dicken Mauern verschanzt hatten, zusammentun - kehrte sie mit den Grauwölfen und Cois doch wieder auf die Insel zurück, um dort den Fürsten und den Reichsritter vor möglichen Übergriffen zu schützen. Sie wäre auch im Tempel geblieben, aber sie wollte bei Cois und ihren Leuten bleiben und man konnte über die Söldner sagen was man wollte, sie verstanden ihr Handwerk. Falls sie es nicht schaffen würde, wären Cois und die Wölfe Garantien für Lionels Überleben. Axis, dessen persönliches Lager eine kleine private Armee hätte ausstatten können, hielt auch für sie ein paar Rüstungsteile und Waffe und Schild parat. Zwar war es ein Sammelsurium aus verschiedenen Materialien und Größen, aber immerhin besser als vollkommen ungeschützt im zerrissenen, blutbefleckten Kleid.

Die Gefängnisinsel wirkte nun ruhig, verlassen, wie ausgestorben. Sie absolvierten Wachdienst am Tor und unternahmen einen kurzen Ausfall auf die Brücke, um ein paar in der Abenddämmerung aufgetauchten blassen Gestalten zurück zu schlagen. Das harte Leder der Rüstung hielt sie aufrecht und das kurze, siegreiche Gefecht hinterließ eine Art Hochstimmung bei ihr. Doch im Grunde genommen hielt sie nur ein Gedanken auf den Beinen, unterdrückte ein Gedanke jeglichen Schmerz: Sie musste ihren Sohn schützen und wenn es das Letzte war, was sie tun würde. Er musste wohlbehalten nach Hause kommen. Sie hatte es ihm schließlich versprochen. Die restliche Nacht verlief ohne weitere Zwischenfälle. Die hohen Mauern, das gusseiserne Tor hielt jeglichen Angriffen stand.

Am Morgen des nächsten Tages, kaum dass die Sonne aufgegangen war, machte auch sie sich nach einem kargen Frühstück aus harten, übriggebliebenen Resten auf den Heimweg. Noch einen weiteren Tag konnte, wollte sie nicht in Löwenstein verbringen. In einer Hand die gezückte Waffe, in der anderen Hand Lionel, streifte sie durch die totenstillen, menschenleeren Gassen der Stadt. Vor zwei Tagen herrschte hier noch Hochstimmung wegen den bevorstehenden Feierlichkeiten zur Konklave und jetzt hätte man eine Stecknadel fallen hören. Falls sie doch auf einen Angreifer treffen würden, würde sie hoffentlich lange genug eine wehrhafte Ablenkung darstellen, dass sich Lionel davon machen konnte. Ganz gewiss nicht ihr bester Plan.

Genauso wie sie hoffte, dass Kalvas noch im Stall stehen würde. Doch die Löwenwacht war abgeriegelt. Verzweiflung flammte auf, als sie ihre Faust gegen die Mauern schlug. Du musst Dir Deine Umgebung besser einprägen, Soldat. “Dann eben zu Fuß.” An jeder Straßenecke verharrte sie, blickte nach rechts und links, dann erst zog sie ihren Jungen weiter. Sie schwitzte, obwohl es ein kühler Wintermorgen war, und ihr Herz pumpte unablässig Blut durch ihre Fasern. Diese ängstliche Erregung dämpfte ihre Schmerzen, die ansonsten verhindert hätte, dass sie überhaupt irgendwo hingegangen wäre, geschweige denn zu Fuss nach Ravinsthal!

Auch in den Straßenschluchten war es zu Kämpfen gekommen. Eilig zusammengebaute Barrikaden versperrten die Wege, bereits getrocknetes Blut war zwischen die Pflastersteine gelaufen, bildete dunkle Lachen und bildete an den Mauern pittoresk wirkende Muster. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg. Ein paar Mal mussten sie innehalten, um zu verschnaufen. Lionel übernahm dann die Wache, spähte aufmerksam um sich. Der Drang umzudrehen und in die Sicherheit der Gefängnisinsel zurückzukehren, war in solchen Momenten beinahe übermächtig. Wie sollten sie diese Strecke bis nach Hause nur schaffen? Auch ohne Zwischenfälle, ohne körperliche Gebrechen und ohne Kind war es ein schierer Gewaltmarsch. Doch der Wunsch, das vermaledeite Löwenstein hinter zu lassen, ihren Sohn in Sicherheit zu wissen, Mann und Tochter wiederzusehen, im eigenen Bett die Wunden ausheilen zu lassen, war stärker.

In Zweitürmen verließen die junge Frau beinahe die Kräfte, als sie in einer Hecke abseits des Weges zusammenbrach. Ihr Sohn rüttelte sie erregt an den Schultern wieder auf die Beine. Der Harpienpass war glücklicherweise frei, doch hatte sie Lionel zuvor die Anweisung gegeben, die Beine in die Hand zu nehmen, falls sich eine Vogelfrau oder Wegelagerer blicken lassen sollte. Als Passwacht in ihr Sichtfeld kam, konnte sie die Tränen der Erleichterung kaum zurückhalten. Ein paar gewechselte Worte mit den Wachen, die natürlich gehört hatten, was in der Reichshauptstadt passiert sein soll, dann ging es auch schon voran, immer voran. Jetzt übernahm allerdings Lionel die Führung und zerrte die Mutter, die wie willen- und kraftlos hinter ihrem Sohn herstolperte, beharrlich Richtung Hof. Noch einmal die letzten Kraftreserven mobilisiert, dann traten sie unter dem hölzernen Torbogen des Eichenhofs hindurch. Aufschluchzend fiel Cahira auf die Knie und zog ihren ebenfalls vollkommen ermatteten Sohn an sich. “Den Göttern sei’ Dank. Wir sind zu Hause!”

Wie sie dann ins Haus, ins Obergeschoß und ins ersehnte, sichere Bett gekommen war, konnte sie sich nicht erinnern. Einige abgeschmissene Rüstungsteile, blutverkrustetes Kopftuch und Stiefel lagen wie Brotkrumen Richtung Schlafzimmer auf dem zurückgelegten Weg. Als sie ihren vor Schmerzen pochenden Körper auf die Lagerstatt bettete, war es ihr, als ob Matratze und Kissen sie verschlangen und nie mehr hergeben wollten. Sie hätte nichts dagegen gehabt. Der Sohn rollte sich schnaufend ein und sie schaffte es gerade noch so, die Decke schützend über sie beide zu ziehen. “Mama?”, hörte sie den Kleinen noch murmeln, ehe sie sich der nun überwältigenden Ohnmacht hingab. “Wir müssen nie wieder zu einer Konklave gehen, oder?”
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#32
Konklave 1403 - Nachwehen

Den nächsten Wochenlauf hievte Cahira ihren geschunden Körper nur aus dem Bett, wenn es unbedingt sein musste. Zum Beispiel um die Tiere zu versorgen, sich frisch zu machen oder wenn der Hunger sie quälte. Dann suchte sie in der Küche, eingehüllt in der Bettdecke, nach etwas Essbarem, was keine großartige Zubereitung benötigte und stieg mit ihrer Beute wieder leise fluchend die hinderliche Leiter ins Schlafzimmer hinauf. Auch wenn der Heiler vorbei sah, um den Fortschritt der Wundheilung zu begutachten raffte sie sich auf um ein paar freundliche Worte zu wechseln.

Kyron hatte den armen Mann zum Hof geschleift und dieser hatte sich wohl kaum getraut eine andere Diagnose als “Na, das wird schon wieder!” zu verlautbaren, so wie der Ehemann sich verhalten und geflucht hatte, so dass selbst ihr in ihrem benebelten Zustand die Wangen eröteten. Und er war erst abgezogen, als der Heiler ihm bestätigte, dass die Wunden von Cahira zwar ernst, doch nicht lebensbedrohlich waren.

Er hatte einen festen Verband um ihre Brust geschlungen, damit der Rippenbruch heilen könne und eine tiefere Platzwunde am Hinterkopf genäht. Dafür hatte die junge Frau einige Locken lassen müssen, aber unter ihrem üblichen Kopftuch, welches sie trug, um Haare bei der Arbeit aus dem Gesicht zu halten und im Winter das Haupt nicht allzusehr auskühlen zu lassen, würde die kahle Stelle später gar nicht auffallen. Alle anderen Kratzer und schmerzenden Beulen wurden dick mit einer stark kräuterduftenden Wundsalbe bedeckt und schlußendlich Ruhe verordnet.

Diese Ruhe kostete Cahira, dank der Umsicht ihres Ehemannes, dessen Sorge um das Wohlergehen seiner Familie ihr die Tränen in die Augen trieb, vielleicht etwas über Gebühr aus. Er hatte die Kinder nämlich unter Ghalens Obhut gestellt. Zum einen war Lionel nicht mehr mit seiner geschwächten Mutter und damit den Erinnerungen an Löwenstein konfrontiert, zum anderen würde der junge MacLoscann mit seiner heiteren Art den Jungen schnell auf andere Gedanken bringen.

Sie wusste, dass die faule Untätigkeit weder dem Genesungsprozess zugute kam noch einer Klinge würdig war, doch nach den Strapazen der Konklave - und nicht nur den körperlichen, sondern auch der enormen Verantwortung, ihren Sohn wieder heil nach Hause zu bringen - fühlte sich die junge Frau wie ausgelaugt, geschwächt, und war einfach nur froh, sich die Decke über den bandagierten Kopf zu ziehen und die garstige Welt "draußen" lassen zu können … Jedenfalls für eine geraume Weile.
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#33
Es war spät, als noch eine einsame Kerze die neuen Räume der Verwaltung im Obergeschoß des Bankgebäudes leidlich erhellte. Sanft glitt der Schein über einige lose Pergamente, ein Tintenfass, die passende Feder, umschmeichelte das müde Gesicht der jungen Frau, die nun schon eine geraume Weile an diversen Schriftstücken saß. Ab und zu musste sie ihre Hand entspannen, streckte die vom Schönschreiben verkrampften Finger, ballte sie zur Faust, nur um kurze Zeit später wieder den Federkiel mit kratzendem Geräusch über das Hadern zu ziehen und Einladungen, Aushänge und sonstigen Verwaltungsschreiben ein Gesicht zu geben.

Ein größeres Fest stand in Rabenstein an, neue Gebäude sind im Hafen entstanden und alles musste dokumentiert und in Akten festgehalten werden. Eigentlich erledigte sie diese Arbeiten gerne; entgegen der körperlichen Tätigkeit am Hof war das Schreiben von Briefen beinahe schon so etwas wie Entspannung, aber die Worte wollten nicht so recht fließen. Vielleicht war sie schon zu lange an den Schreibtisch gefesselt, vielleicht lag es an den Geschehnissen der letzten Tage oder aber auch an dem Empfänger der Nachricht, der ihren Fluss störte und unliebsame Bilder der Vergangenheit heraufbeschwor.

Bernados deRune. Sie hatte den Namen, kein gewöhnlicher wie er zuhauf auf den Straßen zu hören ist, zuerst auf einem Hausschild erkannt und hatte sie dies schon für einige Momente in eine atemlose Starre versetzt, dann war der Schrecken, diesen verfluchten Namen ein zweites Mal an jenem Tag in der Kataster Datei zu lesen, um ein vielfaches tiefer, gründlicher und so erschütternd, dass sie daran gedacht hatte, die Statthalterin zu bitten, sich um diesen speziellen Mieter selbst zu kümmern.

Doch das hätte vielleicht Fragen nach sich gezogen, die sie nicht beantworten hätte wollen. Im Nachhinein hätte dies aber vielleicht dazu geführt, dass er aus Rabenstein verbannt worden wäre, aber wäre dies nicht wider ihres stummen Einverstädnisses? Und wer ahnte es schon, vielleicht hatte er sich geändert nach all dieser Zeit ...

Cahira wusste nicht, ob sich der Mann überhaupt noch an sie erinnern würde - immerhin war auch ihr entfallen, dass er Isabelles Vater war oder war dies nur ein Ränkespiel? - aber sie wusste um jeden Augenblick, als der rot Gerüstete sie gefangen genommen und anschließend der Folter überlassen hatte. Die Narben hielt sie stets verdeckt; sie wusste nicht mal, ob ihre Kameraden der Klinge die Zeichen dieser dunklsten Periode in Silendir jeh zu Gesicht bekommen hatten. Und nun war auch diese Person der Vergangenheit entstiegen und mit ihr eine ganze Reihe rigoros begrabener Erinnerungen.

Doch nicht nur die unliebsamen Geister kamen wieder, auch zwei innig vermisste Gesichter fanden sich ein: Erst Anouk und kurze Zeit später, als hätte ein Band von den Göttern selbst geschmiedet, ihn herbei gezogen, auch Kordian. Das anschließende Beisammensein verlief jedoch weniger harmonisch. Cahira freute sich über alle Maßen, das wohl, aber einen Jahreslauf konnte man nicht einfach weglächeln oder mit Wein und Brot hinunterschlucken und dort weitermachen, wo man aufgehört hatte.

Der Hauptmann hatte wenig Taktgefühl - aber hatte er dies eigentlich jeh gehabt? - und stach mit seinen Fragen nach Dureth und dem Kult gleich am ersten Abend ins sprichwörtliche Wespennester, jedenfalls was Cahira anging. Sie wollte die Freude des Wiedersehens, vor allem für die junge Jägerin, nicht mit einem Gefühlsausbruch schmählern, aber dennoch konnte sie nicht an sich halten und verwies Kordian, dass er kein Recht hätte, diese Fragen zu stellen. Die Gründe behielt sie in ihrem zitternden Leib und wahrscheinlich würde die Zeit kommen, darüber sprechen zu müssen. Vielleicht aber auch nicht.
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#34
Ein paar Münzen wechselten den Besitzer und schon hatte sie für die kommenden beiden Nächte ein Zimmer. Es war klein, zweckmässig eingerichtet, sauber, wenngleich sich der Geruch der zahlreichen Gästen im Gebälk festgefressen hatte. Nachdem Cahira ihr weniges Gepäck verstaut hatte, öffnete sie die Fensterläden, sog die frische Luft, die bereits eine Ahnung von Frühling mit sich trug, tief in ihre Lungen und lehnte sich an den Rahmen, um müßig die Straße ein Stockwerk unter ihr zu beobachten: ein Päarchen flanierte unter ihrem Fenster, unterhielt sich dumpf, sie kicherte; eine Amsel sang ein Lied auf einem nahen Dachsims; von irgendwo erklangen auch lautere Stimme; das Heulen eines Hundes ... Die abendlichen Geräusche einer Stadt schwappten zu ihr empor und lullten sie ein wie eine wärmende Decke.

Löwenstein hatte sich nicht verändert, war immer noch die Alte. Cahira hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend gehabt, als sie auf Kalvas den ersten Torbogen durchritten hatte und den Wachen einen knappen Gruß zukommen ließ. Ihr letzter Besuch in der Hauptstadt war ihr noch allzu deutlich im Gedächtnis und die Bezeichnung "Blutkonkonklave" erschein ihr beinahe noch zu poetisch für dieses Gemetzel. Doch die Barrikaden waren fort, die Leichen wohl begraben und die Pflastersteine von jeglichen Schmodder gesäubert. Darin glichen sich wohl auch die Löwensteiner wie alle anderen Bewohner im Reich: Man machte weiter, denn sonst blieb einem nichts übrig. Und das geregelte Leben hatte wieder Einzug in den Straßen gehalten ...

Cahira hatte nicht vor, lange zu bleiben. Sie hatte ein paar Besorgungen zu tätigen und dann wollte sie so rasch wie möglich wieder nach Hause, zu Familie und Hof. Dennoch konnte sie nicht umhin zuzugeben, dass diese kleine Pause, fernab von ihren sonstigen Pflichten, ganz gut tat. Über Arbeit durfte man sich nicht beschweren, besagte ein alter galatischer Spruch, und wohl wahr, es wäre schlimm, wenn es anders herum wäre, sie nichts und niemanden hatte, zu dem sie zurückkehren konnte oder der sie vielleicht vermissen würde und doch waren diese kleinen Ausreißer aus ihrem sonstigen Alltagsleben wie tiefes Durchatmen um Kraft zu schöpfen für die Aufgaben, welche sie erwarteten.

In der Tat hatte sie sich in Rabenstein nach ihrer Rückkehr einer neuen Begebenheit zu stellen. Gerade hier, in den schlichten vier Wänden mit dem fremdartigen Geruch, die große Stadt im Blick, kam ihr Carmelinas Besuch und die Kunde, welche sie ihr überracht hatte, geradezu unwirklich vor. Und noch unglaubwürdiger war ihr eigenes, rasches Zusagen. "Ich mach's!", hatte Cahira nach einigen Schreckmomenten geantwortet und vermutlich begriff sie die Tragweite dieser wenigen Wörtchen auch jetzt, zwei Tage dannach, nicht vollständig. Vielleicht hätte sie sich mehr Zeit nehmen sollen, mit Kyron reden oder Cois, am Schrein ihren Göttern opfern um ein Zeichen zu erbitten, das Für und Wider abwägen, eine Münze werfen ... Doch sie wusste, dass die Zweifel in ihrer Grübelei überhand genommen hätten und sie Hasenfuß am Ende vielleicht abgesagt und eine so großartige Chance verpasst hätte.

Zwar war ihr noch nicht so ganz deutlich, was eigentlich von ihr verlangt wurde - "Stimmungen auffangen, viel auf Reisen sein.", hatte Carmelina selber etwas vage fomuliert - und sie hatte im Grunde genommen keinerlei Ausbildung, außer den jahrelangen Dienst in diversen Verwaltungen und der Klinge. Ein Schmunzeln glitt über ihre Lippen, als sie daran dachte, dass sie damals in Guldenach mit leeren Taschen als Rattenfängerin ihre ersten Heller gemacht hatte und nun dies! Vermutlich würde der Fürst nach einer Audienz seine Meinung nochmals ändern und schließlich hatte auch der Rabenkreis nicht wenig Gewicht bei dieser Entscheidungsfindung ... Doch schon allein in Erwägung gezogen zu werden, war eine immense Ehre.

Cahira atmete durch, tief und fest, um das nervöse Flattern im Bauch leidlich zu dämpfen. Unter Umständen war es vielleicht doch nicht so verkehrt gewesen, nicht mit dieser Neuigkeit herauszuplatzen, gleichwohl jeder, der sie nur ein bisschen kannte, die aufgekratzte Hochstimmung, in welcher sie sich befand, sofort bemerken würde. Falls doch nichts draus wurde, konnte sie weiterhin ihren normalen Dienst versehen und musste niemanden Rede und Antwort stehen, nur ihrer eigenen Fehlbarkeit. Umgekehrt hätte sie eine gravierende Nachricht zu verbreiten ...
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
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#35
Steh nicht am Grab mit verweintem Gesicht
ich bin da - ich schlafe nicht.
ich bin im Wind, der weht über die See,
ich bin das Glitzern im weissen Schnee.
ich bin die Sonne auf reifender Saat,
ich bin im Herbst in der goldenen Mahd.
Wenn Du erwachst im Morgenschein,
werde ich immer um Dich sein.
Bin im Kreisen der Vögel am Himmelszelt,
ich bin der Stern, der die Nacht erhellt.
Steh nicht am Grab in verzweifelter Not,
ich bin nicht da - ich bin nicht tot!

~ irisches Grabgedicht ~

Grillen zirpten ihren Nachtgesang. Die kühle Luft trug nur noch die Ahnung der Wärme des vergangenen Tages mit sich, so dass sich Cahira, auf den Stufen zur Veranda ihres Hauses hockend, eine einfache, wollene Stola um die Schultern geworfen hatte. Die gedämpften Geräusche der Tiere in den Koppeln, der seichte Wind, der in den Ähren der Felder spielte vermischte sich mit dem typischen Aroma von feuchtem Matsch, Dung, Heu und frischem Gras zu einer vertraut, heimeligen Weise.

Doch Cahira, die nach dem Tagwerk und wenn die Kinder zu Bett gebracht worden waren, sonst gerne dieser vertrauten Melodie lauschte, während sie darauf wartete, dass ihr Ehemann vom Dienst nach Hause kommen würde und sie sich mal leise unterhaltend, mal einfach schweigend gemeinsam den Tag schlussendlich ausklingen ließen, hatte weder Ohr noch Auge dafür. Das Haar lose auf den Schultern, der Blick trüb in die Ferne gerichtet, schwenkte sie gedankenverloren einen halb getrunkenen Becher Wein in ihren von der Feldarbeit gezeichneten Händen.

Es schien, als ob das Jahr mit Beginn der Blutkonklave wie verflucht war. Zuerst griffen sogenannte Vampire an, Wesen, welche sie nur aus Schauergeschichten der Alten auf Svesur belächelt hatte, und stellten die bekannte Ordnung über Kopf, lebende Pflanzen bedrohten die Bewohner von Rabenfeld, fanatische Mithrasanhänger kamen ins Land gestampft und wollten ihre heiligen Stätten zerstören, ein Wolfsrudel plagte die Landwirte und war mit bekannten Mitteln nicht aufzuhalten. Diese Unruhe und Verluste der letzten Zeit ließen sie einfach nicht zur Ruhe kommen.

Aygos Schreiben, dass er in seinem jüngst bezogenen Haus in der Ortschaft eine kopflose Leiche gefunden hatte, löste Besorgnis aus, die Zeilen, dass es sich dabei um Ghalen handeln würde, tiefe Beunruhigung. Aber noch hatte sich die junge Frau an die Hoffnung klammern können, dass der ehemalige Löwensteiner sich irrte. Zwei nachfolgende Schreiben - von Isabelle in ihrer Eigenschaft als Gardist und Cois als Friedhofswärter - ließen diese Hoffnung zerplatzen wie eine der schillernden Seifenblasen, welche Lionel zur Freude Brynjas in die Luft bließ. Doch diesmal folgte kein kreischendes Kinderlachen, kein Rudern von speckigen Ärmchen. Verzehrende Leere nahm ihren Verstand ein, der zu begreifen versuchte, dass ein geliebter Mensch zu den Göttern gerufen worden war. Die Tränen würden später kommen.

Ghalen. Sie hatte nach nur wenigen Treffen das Gefühl gehabt, ihn schon ihr ganzes Leben lang zu kennen. Sie hatte ihm ihre Kinder anvertraut und er hatte Lionel mit seiner heiter unbeschwerten Art den Schrecken der Blutkonklave genommen. Und nun war er nicht mehr. Natürlich fragte sie sich, ob sie sich nach dem Tod von Morana mehr um ihren Freund hätte kümmern sollen und die Frage war wohl die quälenste von allen.

Die Erinnerung an jenen Tag in Löwenstein, an dem die Gefährtin des jungen Mannes als Hexe verbrannt worden war, stand ihr nur allzu deutlich vor ihrem inneren Auge. Es war bis auf ein paar Fanatiker, die sich bei solch’ einem Ereignis immer einfanden wie die Motten zum Licht, recht ruhig gewesen. Danach zu gieren, eine vermeintlich böse Hexe brennen zu sehen, und dann tatsächlich die Flammen zu beobachten, wie sie das Fleisch von den Knochen schmolzen, den brutzelnden Geruch in Nase und Mund zu schmecken, dazu die Schreie der Agonie zu vernehmen, von einer Person, die bis auf die weiße, weite Robe und dem blass ausgemergelten Gesicht der vorherigen Gefangenschaft im Kerker des Tempels und der Panik im flackerndern Blick nicht bösartiger, fremdartiger aussah als jeder andere dort auf dem Platz, beinahe schon bemitleidenswert  - das war eine andere Sache, bei denen der brave Bürger gerne wegschaute.

Doch sie hatten hingesehen, bis zum Schluß, und hatten dann etwas Asche vom Scheiterhaufen zusammengeklaubt. Cahira hatte Morana nicht gut gekannt, doch sie war stets höflich, zuvorkommend und beflissen gewesen, in Rabenstein Fuß zu fassen. Sie hatte um die Frau getrauert, aber mehr noch um Ghalens Willen.

Unwillkürlich kamen die Erinnerungen an andere Verstorbene hoch. Freunde, Verwandte, Bekannte. Und mit jedem Gesicht, welches in ihrem Geiste dahin zog, durchlebte sie den Trauerschmerz aufs Neue. Dieser war selbstverständlich nicht mehr so intensiv wie beim ersten Mal, aber er war noch da, lauerte in der hintersten Ecke des Gedächtnisses und wartete auf Gelegenheiten wie jene, um sie erneut zu peinigen, um daran zu erinnern, dass der Tod allgegenwärtig war.

Lionel hatte sich nach der Nachricht mit seinem Hund verzogen und war mit einigen Blümchen, vornehmlich Löwenzahn, zurückgekehrt, von denen er sagte, er hätte sie bei seinen Streifzügen mit Ghalen gemeinsam gepflückt. Cahira hatte an den roten Augen, der schniefigen Nase erkannt, dass der Junge geweint hatte, aber wie ein richtiger kleiner Soldat wollte er sich das nicht anmerken lassen, zumindest nicht vor ihr. Vermutlich würde er sich bei der nächsten Gelegenheit zu Vater oder seinen Onkeln schleichen. Der kleine Strauß indes stand nun auf der Küchenanrichte und brachte wie Ghalen selber einen freudigen Farbtupfer in das Zimmer.

Über ihre Grübelei hatte sich der Abend zur Nacht gewandelt. Dunkel ragten die Gebäude des Eichenhofes in den mattblauen Himmel. Der Leutnant war wohl in Rabenstein aufgehalten worden, wie es so oft schon der Fall gewesen war. Die Ravinsthaler pflegten ihre Umgangsformen in herzlichen Kneipenraufereien wie einen Volkssport und der Griff zur Geldkatze des nächsten gehörte schon beinahe zum guten Ton - was nicht heißen sollte, das keine Probleme entstanden, bei denen die Garde einschreiten musste

Mit einem Male kam ihr der Hof so verlassen vor. Sie hatte auch die anderen Bewohner die letzten Tage kaum zu Gesicht bekommen und ein unwohles Frösteln ergriff sie. Sie zog rasch das Schultertuch enger, trank in einem großen Schluck den Wein und drückte sich hoch. Eine kleine Öllampe leuchtete ihr den Weg hinein.

Das Licht umschmeichelte die bekannte Einrichtung der Wohnküche - ein kurzer Seufzer, dass der Sohn seinen Malkasten wieder nicht zurück geräumt hatte -  und streifte das Blumengebinde. Sie musste an ihren verstorbenen Freund denken, der es gewusst hätte, ihre Laune mit wenigen Worten wieder zu heben. Das Jahr hatte nicht nur schlechtes gebracht. Die Kinder waren gesund und gediehen prächtig, der Hof florierte, sie hatten ein gutes Auskommen, Kordian und Anouk hatten zur Familie zurückgefunden, Kyron hatte seinen Stand in der Garde gefestigt und war dabei, diesen Weg noch weiter zu gehen, vom verfluchten Mann keine nennenswerte Spur; sie selber war in den Adel aufgestiegen und in wenigen Tagen stand die Audienz beim Fürsten bevor, bei der sie erfahren sollte, wie ihre weiteren Aufgaben aussehen mochten …

Obwohl ihr nicht danach zu Mute war, musste die junge Frau unwillkürlich auflächeln.

Oh, Ghalen.
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#36
Leise schnaufend erklomm sie die schmale Leiter, welche auf den Dachboden führte. Es war ein dunstiger Tag, der nicht richtig hell werden wollte. Regen fiel in dicken Strippen auf die Erde und verwandelte die Wege in Morast. Die Auswirkungen des vergangenen Unwetters.

Zwei Stockwerke unter ihr hörte sie gedämpft Lionels Beschwerden. Dem Jungen zerrte das Wetter am Gemüt. Der Höhepunkt seiner schlechten Laune ließ sich eindeutig an dem Punkt festmachen, als Cahira ihm verboten hatte, sich mit seinem Hund im Matsch zu tollen und diesen Dreck dann noch im Haus zu verteilen. Schließlich hatte sie ihn überzeugen können, seinen Malkasten hervorzuholen. Mit einer lustlosen Grimasse hatte er sich an den Küchentisch gesetzt, um einige unmotivierte Striche auf das Papier zu bringen.

Brynja hatte sich derweil am Tisch hochgezogen und machte sich einen Spaß daraus, ihrem Bruder die Stifte zu klauen oder gleich mit ihren dicken Fingerchen in Lionels Zeichenbahn zu grätschen. “Brynni, leig e! Was soll das? Wie soll ich so etwas zeichnen? Màthair! Lass das, sam bith …” Die Abwehrversuche des Bruders schienen die Kleine erst so richtig anzustacheln. Nachdem sich Cahira über die Kabbeleien ihrer Kindern amüsiert hatte, hatte sie sich mit einem neckenden: “Ich sehe, ihr kommt zurecht. Ich gehe mal auf den Boden ... “, entfernt.

Mit ihren Schritten wirbelte sie Staub auf, der träge in der dicken Luft unter dem Dach im Schein ihrer mitgebrachten Öllampe zirkulierte. Sie wunderte sich jedesmal über die vielen Kisten, Truhen und Körbe, eingerollten Teppichen und mit Tüchern geschützten Möbelstücken, die sich dort stapelten. Einige Sachen gehörten Kyron oder hatten sich während ihrer Zeit in Ravinsthal angesammelt; das meiste jedoch hatte sie aus Zweitürmen mitgebracht. Neben viel Nützlichen war auch eine Menge Tand dabei. Dinge, welche sie aus dem Hirschenheim lediglich der Andacht an einen Freund aufbewahrt hatte; Dinge, von denen sie sich angesichts einer unsicheren Zukunft in einem damals vollkommen unbekannten Lehen, von dem man aus allen Ecken nur Schlechtes hörte, nicht trennen hatte können oder wollen.

Heute war es allerdings nicht ihr Ziel, die Sachen zu durchforsten und Brauchbares von wertlosen Platzverschwendern zu trennen. Sie zog stattdessen das löchrige, für den Hausgebrauch unnütz gewordene Laken vom großen Standspiegel, der im Haus einfach keinen Platz gefunden hatte, und stellte die Lampe auf einer nahen Truhe ab. Es war vielleicht ein dummer Einfall gewesen, der sich zu einem fixen Gedanken entwickelt hatte: sie musste sich sehen - und zwar in Gänze. Sie hatte auch einen Spiegel in der Schlafkammer auf ihrem Toilettentisch, aber jener war zu klein, zu schmal um ihre gesamte Gestalt widerzuspiegeln.

Die taxierenden Blicke von Rielaye, der Heilerin und Hebamme, welche sich jüngst in Rabenstein niedergelassen hatte, waren vermutlich nur ihrer Profession geschuldet, dennoch war der Gedanke, die Frau könnte sie in anderen Umständen vermuten, irritierend und amüsant zugleich. Nicht, dass es nicht im Bereich des Möglichen gelegen hätte … Doch dies war nur der letzte, kleine Anstoß gewesen, der ihr Vorhaben auf den Boden zu steigen, um vor den Spiegel zu treten, letztendlich gefestigt hatte.

Ihre Ausflüge, die dazu dienen sollten, sich dem größten Teil des restliches Adels vorzustellen, waren eher eine schleppende denn eine amüsante Angelegenheit. In der Hoffnung, in Zweitürmen freundlich aufgenommen zu werden, war ihre ehemalige Heim- und Wirkungsstätte das erste Anlaufziel gewesen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Obwohl Arthar eher reserviert gewirkt hatte, sicher begründet in seiner Verletzung, welche er sich beim Kampf mit einer obskuren dunklen Rittergestalt zugezogen und welche Cahira dann selber verbunden hatte. Schumann, den sie damals nach Zweitürmen geholt hatte, hatte absolut keine Reaktion gezeigt. Ein klein wenig wehmütig war ihr dennoch zumute gewesen, als sie dort im “Hirschen” saßen. Es schien, als ob die Zeit im Thal stehen geblieben war: Noch immer die selben guten, treuen Leute umrund des jetzigen Freiherren; früher hatte sie auch einmal zu ihnen gehört …

In Südwald hatten sie niemanden angetroffen außer diesen Holzfäller, der beinahe schon erschrocken ob Aygos volltönender doch vollkommen korrekter Vorstellung ihrer Person seine Arbeit prompt eingestellt und bar weiterer Worte seinen vom Schopf gerupften Hut in den Händen gefaltet hatte. Vielleicht hatte sich zu jenem Zeitpunkt, anhand dieser kleinen Geste des Respekts, frei und unschuldig gewährt ohne dass sie gefordert oder gewollt war, klamm und heimlich die Saat der Erkenntnis festgesetzt, dass ihr Stand nicht nur ein Privileg war, sondern vielmehr eine Bürde, die abverlangte, dass sie sich ihrer Rechte - und wenn es sich auch nur um die angemessene Begrüßung handelte - würdig erweisen musste, sie sich verdienen musste.

Und dann kam Löwenstein …

Als sie die Stadttore passierten, hatte sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. In Ravinsthal war sie die Weite des Rabenfeldes gewohnt, den freien Himmel, die frische Luft. Hier fühlte sich eingeengt, von den hohen Häusern begraben, beobachtet. Zudem mischte sich das Unwohlsein, was sie hier erwarten würde, mit den Erinnerungen an die Blutkonklave und ließen ihre Gliedmaßen erstarren.

Auch in der Stadt trafen sie nicht auf die Gesichter, welche Cahira im Kopf hatte. Irgendwie erleichternd, wenn auch der Gedanke, noch einmal den langen Weg auf zu sich nehmen, sich noch einmal in relativ kurzer Zeit den kalten Mauern Löwensteins und seiner Bewohner stellen zu müssen, ihren Mund ganz trocken werden ließ. Auf dem Marktplatz, auf dem wohl angedacht der schon fortgeschrittenen Stunde ein paar Händler eher halbherzig ihre Waren den wenigen Passanten feilboten und die meisten ihre Buden zugunsten eines warmes Abendessen schon verrammelt hatten, machte sie dann dennoch die Bekanntschaft eines Herren aus Ser Seysbalds Gefolge.

In ihren Augen war er das Paradebeispiel eines Löwensteiners: Flink mit der Zunge, die scharfen Worte trotz Anerkenntnis ihres Titles am Rande der Dreistigkeit, arrogant, selbstbewusst. Doch dieses kurze Zusammentreffen war eine gute Lehre und hatte bei ihr die lose Frage hinterlassen, was er eigentlich gesehen hatte.

Seinem Blick und den Worten nach zu urteilen eine unbedarfte Landpomeranzen aus dem hintersten unbekannten Winkel des ohnehin unzivilisierten Ravinsthal, welche sich getraute in Reisekleidung ihre Aufwartung in der Hauptstadt machen zu wollen. In ihrem Gefolge Subjekte, die sich nicht zu benehmen wussten: Silja, Aygos jüngere Schwester, die zufällig dazu gestoßen war, verpasste dem Mann aus zunächst unersichtlichem Grund einen Tritt vors Schienbein und ehe sie nochmal zur Attacke ansetzen konnte, weil ihr seine Worte nicht gefielen, hatte Cahira sie am Schlafittchen gepackt und war mit verzeihendem Lächeln abgezogen.  

Die Last auf ihrem Herzen, welche sie seit dem kurzen Intermezzo mit dem Holzfäller nieder drückte, wog wieder schwerer als sie durch die Strassen Richtung Stadtgrenze zogen. War sie ab jetzt nicht nur für ihr eigenes Tun verantwortlich sondern fiel jegliches Verhalten in ihrer Umgebung auf sie zurück? Nach diesem Ausflug folgten zunächst keine weiteren mehr.

Und nun stand sie vor ihrem Spiegelbild. Eine junge Frau blickte ihr mit leiser Beunruhigung in den großen Rehaugen entgegen, das Haar in einem eher unordentlichen Zopf geflochten, Sommersprossen auf der Nase. Die von der Feldarbeit schwieligen Hände spielten mit den Falten ihres einfachen Wollkleides, welches sie gewöhnlich unter einer Schürze trug. Sie füllte das Kleid mit voller Büste und Hüften aus und auch ihre Wangen waren in den letzten Mondläufen runder geworden. Das zusätzliche Gewicht ließ sie weicher, jugendlicher erscheinen. Wann sie das letzte Mal Schürze und Wassereimer gegen Rüstung und Katzbalger ausgetauscht hatte, wusste sie selber kaum zu sagen.

Falls ihrem Ehemann diese Veränderung aufgefallen war, hatte er nichts gesagt. Auf der anderen Seite hatte er ihr Aygo als Leibwächter zur Seite gestellt - vordringlich als Bewährungsprobe für den Eintritt in die Garde. Früher hätte sie dagegen protestiert. Als Klinge hatte sie selber auf sich aufpassen können. Und auch jetzt noch, sollte man sich die Mühe machen, erkannte man den Soldaten anhand ihrer kraftvollen Bewegungen, in ihren Reaktionen - nur in Watte gepackt.

Doch im Grossen und Ganzen wirkte sie in diesem Aufzug und wohl auch in der ledernen Reisekluft in der Tat weniger wie eine Adlige als wie eine freundliche, warmherzige junge Frau mit wilden Lockenhaar. Cahira atmete tief gefasst die staubige Luft ein. Sie hatte die Lektion gelernt: Locken gebändigt, das Gesicht gewaschen und gekleidet in eines der feinen Gewänder, welche Carmelinas geschickten Finger gefertigt hatten, würde sie immerhin äußerlich annähernd dem Bild einer Baroness entsprechen und den Leuten wenigstens in dieser Hinsicht geben, was sie von ihr erwarteten. Es war ein weiterer Kokon von so vielen, in die sie sich im Laufe ihres bisherigen Lebens gehüllt hatte - vom einfachen Bauermädchen über den Soldaten zur Schultheiß und nun Adligen - ohne sich bisher selber verloren zu haben.

Von unten ertönte ein jubelnder Schrei, der sie im ersten Schreckensmoment zusammen zucken ließ:Athair ist gekommen!” Mit gerunzelten Brauen blickte sie zur Bodenluke, aus ihren gedankenvollen Beobachtungen gerissen und antwortete verspätet: “Ich bin gleich unten!” Sie griff Öllicht und Laken, um es wieder über den Spiegel zu ziehen, und erhaschte dabei ein Bild ihrer vor Freude leuchtenden Augen und diesem ganz speziellen Lächeln. Als ob die pure Anwesenheit des Mannes, der wahrscheinlich gerade die Stufen zur Veranda nahm und vom Sohn begrüßt wurde, ein Licht in ihrem Inneren angezündet hatte, welches sämtliche ihrer Hüllen zu durchfluten schien. Und dieser Anblick, der gefiel ihr.

~O~

Cahira drehte herum, um die Leiter zurück in die Schlafkammer hinabzusteigen. Zu ihrer Überraschung stieß sie mit ihrem Fuß gegen etwas hartes, was unrund gegen eine der Truhen kullerte. Eindeutig keine Ratte. Sie beugte sich hinab, um nach dem Ding zu hangeln und beleuchtete es mithilfe ihrer Lampe. Langsam richtete sie sich wieder auf und starrte dem Holzsoldaten in ihrer Hand verwirrt entgegen. Sie hatte sich schon gefagt, wo Kordians Geschenk geblieben war; Lionel war die erste Zeit kaum von seinem neuen Spielzeug zu trennen gewesen. Die Verwirrung wuchs, mischte sich mit leiser Bestürzung, als sie im zärtlichen Licht ihrer Öllampe den Ruß an ihren Fingern erkannte und an Stelle des Kopfes lediglich einen verbrannten Stumpen.
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#37
“Das Weinfest fiel aber mager aus, hm?”

Die Stimme klang heiter, milde tadelnd. Und Cahira lachte leise, zustimmend auf.

“In der Tat. Auf Svesur hätten wir getanzt und getrunken bis zum Morgengrauen. Aber dort sind auch nicht die Indharimer eingefallen.”  

Nach einem kurzen Moment, in dem nur das leise Geräusch ihres Messers auf dem Schneidbrett, das blubbernde Köcheln des Gebräus auf dem Herd samt dem Knacken der Holzscheite, welche das Feuer darunter verzehrte, zu hören waren, fügte die junge Frau ohne sich umzudrehen an: “Gerade zu den Feiertagen vermisse ich meine Familie. Vermisse ich Dich. Wissen die Götter, warum.”

Mittagszeit. Brynja und Lionel dösten in der Schlafkammer und Cahira hantierte in der Küche, um die heutige Mahlzeit für die Flüchtlinge und Tagelöhner zu bereiten. Eigentlich waren die Kinder, zumindest der Junge, über die Zeiten des Mittagsschlafs hinaus, aber gerade heute Morgen hatte ein übereifriger Hahn den Tag besonders früh begonnen und die junge Frau war alarmiert, mit wirren Gedanken von Die Indharimer kommen! bis Die Wölfe plündern wieder in den Ställen! aufgerumpelt und in die klamme Morgenluft gestolpert. Falscher Alarm. Aber an Schlaf war für die Familie danach nicht mehr zu denken.

Am liebsten hätte sich auch Cahira hingelegt, aber für Müssiggang hatte sie keine Zeit. Es war somit nur ihrer tranigen Schläfrigkeit zu verdanken, dass der Mann sich in ihre Gedanken stehlen konnte. Obwohl sie zugeben musste, dass sie oft an ihn dachte; öfter, als ihr lieb gewesen wäre, aber gesprochen hatte sie mit ihm eigentlich noch nie. Immerhin war er ihr Freund gewesen. Mehr noch als das: Lebensretter, Kamerad, Vertrauter, Verlobter … Bevor sie jedenfalls erfahren hatte, dass er ein größenwahnsinniger Hexer war und sie nach seinem vermeintlichen Tod nach Amhran gereist war, um nach ihrem Ehemann und den Überbleibseln der Klinge zu suchen.

Cahira konnte sich das Bild, wie Aidan gerade hinter ihr auf der Bank sass, deutlich ausmalen: die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, das rotblonde Haar wie stets immer etwas unordentlich verstrubbelt, der Blick aus seinen hellen Augen klar wie Wasser, das Lächeln jungenhaft, Wams und Hose einfach, doch hervorragend geschneidert. Dies war nicht der Mann, der ihr über drei Jahre hinweg ziemlich erfolgreich alles genommen hatte, was ihr zuvor lieb und teuer gewesen war. Dies war der Mann, der sie gerettet hatte und mit dem sie über alles hatte reden können.

Oben rumorte es und nicht viel später ging die Klappe zur Schlafkammer auf und Lionel kletterte die Leiter hinab. “Bin nicht mehr müde”, murmelte der Kleine, zog einmal die Nase empor und steckte seine Hemd in die Hose. Cahira ließ von ihrem Gemüse ab, wischte sich die Hände an der Schürze und trat zu dem Jungen, um über sein vom Schlaf zerrauftes Haar zu streichen. Er ließ die Liebkosung der Mutter mit einem widerwilligen Schmunzeln zu. “Darf ich mit meiner Schleuder üben?”

Sie zögerte. Seit dem die Invasoren auch in Ravinsthal gesichtet worden waren, keinen Stundenlauf Fußmarsch vom Hof entfernt, hatte sie die Kinder wie eine Henne ihre Küken unter ihre Fittiche gehalten. Dermassen erdrückend, dass es zwischen Mutter und Sohn zum ersten, ernsthaften Streit gekommen war - Brynja war noch zu klein, um wirklich zu verstehen, was da vor sich ging oder sich über die Überfürsorglichkeit der Mutter zu beschweren.

Diese Angst, die ihr den Magen umdrehte, die Luft nahm, war nach dem Gespräch mit Kordian zwar nicht gänzlich verschwunden, doch leidlich milder geworden. Er hatte ihr vor Augen geführt, dass sie als ausgebildete Kriegerin einen Vorteil gegenüber all’ den anderen Müttern hatte, die wohl dieselbe Furcht verspürten. Und dass sie mit der Klinge wohl einige der gemeinsten, gnadenlosesten Kämpfer an ihrer Seite hatte, die man sich nur vorstellen konnte. Außerdem befolgte sie seinen Rat, mit den Kindern ein Versteck in der Nähe des Hauses zu suchen. Falls irgendetwas geschehen sollte, sollte Lionel die kleine Schwester schnappen und sich im nahen Minenschacht - sicher, warm und trocken - verstecken, bis Mutter, Vater oder Onkel sie holen kommen würden.

“Aber bleib in Sichtweite. Und pass’ mit diesem Ding auf. Du könntest Dich und andere ernstlich verletzen!” Der Junge war über die mahnenden Worte der Mutter schon freudig zu seiner Kiste gesprungen und hatte Schleuder und Geschosse hervorgekramt. Ihn mit zur Essensausgabe nach Rabenstein zu nehmen, hatte zur Folge, dass er mit den Straßen - und Flüchtlingsjungen den Kopf zusammensteckte und unliebsame Ausdrücke oder eben jene Zwinge mit nach Hause brachte.

“Ein guter Junge.”, murmelte Aidan und rieb gedankenverlorenen Blickes die Hände ineinander.

Lionel war schon beinahe über die Türschwelle, als er sich noch mal umdrehte und stirnrunzelnd in die Wohnküche zurück blickte. Doch was immer ihn aufgehalten haben mochte, es war nicht wichtiger als nach seinem Hund zu rufen und hinter dem Haus seine Schießübungen aufzunehmen. Ab und an hörte man ein dumpfes Klock gegen die Hauswand, gefolgt von einem reumütigen “ ‘tschuldigung!”, oder Madadhs aufmunterndes Bellen.

Cahira hatte noch zur Tür gesehen, als der Sohn bereits verschwunden war, lauschte gen Decke, ob sich Brynja vielleicht auch schon regte, und war dann wieder an ihr Schneidbrett getreten. “Der Beste. Und Du hattest Recht mit ihm. Er … ist anders als andere Jungen. Und ich weiß nicht, was ich tun kann, was ich tun soll …”

“Vielleicht einmal anfangen, darüber zu reden. Und damit meine ich nicht, mit nur in Deiner Phantasie bestehenden Hexenmeistern, sondern mit Kordian, Cois oder …”

Cahira schnaufte auf und schob die säuberliche zerteilte Karotte in den blubbernden Topf. “Kordian. Sosehr ich ihn kenne und liebe, ich kann ihn in diesem Punkt nicht einschätzen. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Und seitdem Cois von Prenne zurück ist, haben wir keine zehn Worte gewechselt. Und falls Du nun den Rabenkreis anführen willst ... Nein. Sie haben Magda die Tochter genommen und das kann ich bei Lionel nicht riskieren.”

“ … Kyron.” Der Name fiel so sanft wie die Herbstblätter, die sich zu dieser Jahreszeit bunt von den Bäumen lösten und den Thalwald in der Abendsonne in ein rot-oranges Flammenmeer verwandelten. Soweit sie sich erinnerte, hatte Aidan den Namen ihres Ehemanns nie in den Mund genommen und ihn nun zu hören, in dem ihm eigenen weichen Zungenschlag der Inseln, war eigenartig und ließ sie erschaudern.

Doch sie blieb ihm die Antwort zunächst schuldig. Ein Zeigefinger kreiste über den bereitgestellten Korb mit Gemüse und Kräutern, welche sie für die Suppe angedacht hatte, und wählte etwas Salbei aus. Der Mann hatte alle Zeit der Welt, doch meinte sie, das leise Knarren der Bank zu vernehmen, als er seine Position darauf änderte.

“Er würde vermutlich etwas sehr Schlaues oder etwas sehr Dummes anstellen. Ich fürchte, er würde es nicht verkraften, nicht auch noch das.”

Die Stille war atemraubend und der Drang sie mit Worten, Erklärungen zu füllen, war beinahe übermächtig. Außerdem meinte sie in seinem Schweigen eine Art stille Missbilligung ihrer Worte zu vernehmen, welche sie nicht einfach so stehen lassen konnte.

“Ich zeige Dir was.” Damit war sie zur Haustür getreten und hinaus auf die Veranda. Aidan stand im selben Moment neben ihr, als sie ihren Blick über die nahe, wohlvertraute Umgebung streifen ließ. Der Herbstregen hatte Teile des Hofes in Morast verwandelt. Die Schornsteine der Häuser spuckten bereits zu dieser Zeit Rauch in die kühle Luft. Aus den Ställen drangen die Geräusche der Tiere.

Der Mann neben ihr war groß, überragte sie um fast anderthalb Kopf, sein scharfes, ihr so bekanntes Profil stach deutlich hervor. Cahira hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um sie ihm auf die Wange zu legen und unwillkürlich fragte sie sich, ob sie sich auch jetzt warm und etwas kratzig von der morgendlichen Rasur anfühlen würde ...

“Es ist schön hier. Friedlich.”, unterbrach seine Stimme jeglichen Anflug, das Traumgebilde berühren zu wollen. “Ein Heim, in welchem es sich wohl gut und gerne leben lässt und von einer Frau erschaffen, die kaum einen Hefeknoten backen konnte.” Er wollte sie eindeutig necken, doch sie ging nicht darauf ein, schüttelte langsam den Kopf und grub ihre Fäuste in die Falten ihrer Schürze.

“Das ist, was alle sehen. Aber es stimmt nicht. Kyron bezahlt den Preis für diese Idylle, Tag für Tag. Ohne ihn wäre dieses Leben nicht möglich. Und dann soll ich ihm auch noch erzählen, dass ausgerechnet sein Sohn diese verfluchte Gabe hat?!”

Ravinsthal war ein Neuanfang gewesen, in jeglicher Hinsicht. Die Spirale drehte sich seit dem Umzug auf das Rabenfeld immer nur hinauf und hinauf: Der Posten als Schultheiß, Kyron in der Garde, die Rückkehr von Kordian und Anouk, die Kinder gesund und munter, ihre Adelung … Natürlich hinterließen die Blutkonklave oder das Einfallen der Feinde aus dem Süden eine Kerbe in diesem Bild, aber sie waren zusammen und taten, was die Klinge schon immer getan hatte, wofür sie damals gegründet worden war.  

“Ich halte still, um dies alles nicht zu gefährden. Und wenn ich ihm hier nicht den Platz biete, den Du gerade siehst, den alle sehen - still, geruhsam, mit einer warmen Mahlzeit, vielleicht einem Bier, munteren Kindern, meinem warmen Leib unter den Fellen, keine Gespräche über Dureth oder den Taten, die er vielleicht gerade vor wenigen Stunden in seinem Namen begehen musste, um unsere Sicherheit zu gewährleisten - dann wäre alles umsonst. Und ich habe Angst, das selbst das nicht genug ist, dass ich nicht genug bin … Das hätte ich Kordian vermutlich sagen sollen, als er mich fragte, was in mir vorgeht: Das es zu schön ist, um wahr zu sein. Und deshalb bist Du hier, Aidan, um mir dies vor Augen zu führen, nicht wahr?”

Sie drehte den Kopf herum. Der Mann an ihrer Seite war fort. Weggeblasen wie das einsame Blatt, welches der aufkommende Wind über den Hof trieb.
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#38
An jenem Morgen kam ihr das Haus so schmutzig vor und sie sah in jeder Ecke Dreck und Chaos. Nach einem kräftigen Frühstück bewaffnete sie sich mit Putzlappen, Wassereimer, Seife und Besen und begann zunächst die Schlafkammer auszufegen, dann feucht zu wischen, schließlich die Wohnküche. Brynja wedelte quietschend mit einem Staubbesen herum und wirbelte wohl mehr Dreck auf als das sie wirklich zum plötzlichen Reinigungswahn der Mutter beigetragen hätte und Lionel räumte murrend seine Sachen und die der Schwester auf und aus; die beiden hatten, nach Cahiras Meinung, Kram für fünf Kinder und könnten bei der Kleidersammlung am Ende des Wochenlaufs gut und gerne etwas beitragen.

Nach dem Mittagessen fiel die Tochter in einen tiefen Schlaf und der Sohn verflüchtigte sich nach draußen, um die Hühner zu füttern und dem Auftrag, Feuerholz mitzubringen. Cahira ahnte, dass er sich extra lange Zeit lassen würde, aber es störte sie auch nicht sonderlich. Auf den Knien bearbeitete sie einen besonders hartnäckigen Fleck im Holz direkt vor der Küchenanrichte.

“Frühjahrsputz zum kommenden Winter, Liebes?”

Für einen Moment versteiften sich ihre Schultern und sie biss sich auf die Unterlippe. Nein, diesmal würde sie der Versuchung nicht nachgeben und mit ihm sprechen. Stattdessen tauchte sie den Putzlappen energisch in den Wassereimer.

“Unser Haus war dann immer am saubersten, wenn wir uns gestritten haben, Eris und ich. Du kannst Dich an meine Eris erinnern?”

Natürlich wusste sie genau, wer Eris war. Aidan hatte von seiner verstorbenen Frau immer mit solcher Wehmut gesprochen - seine hellen Augen wurden dann stets Dunkel wie das Meer nach einem Sturm - dass sie das Gefühl hatte, sie hätte Eris persönlich gekannt.

“Wir haben uns nicht gestritten!”, platzte sie dann doch heraus und stöhnte resigniert auf. So schnell hatte sie eigentlich nicht aufgeben wollen. Aber nun war es schon mal geschehen ...

“Ach, Du sprichst also doch mit mir, wie schön!”, gurrte die bekannte Stimme mit mildem Spott.

“Wir haben nur … geredet. Einige Dinge ... mussten angesprochen werden. Es war gut, dass sie auf den Tisch gekommen sind … das Gespräch war …”, gestikulierte Cahira etwas hilflos umher und verstieß nun vollends gegen ihr vorheriges Schweigegelübde.

“ … reinigend?”, lachte Aidan.

Sie widerstand dem Drang, ihm entweder die Zunge rauszustrecken oder den Putzlappen ins Gesicht zu klatschen und erklärte mit mehr Nachdruck in der Stimme: “Das Gespräch war nötig. Du hast es doch selber gesagt. Und nun … können wir nach vorne sehen, weitermachen, die Dinge anpacke. Und nichts hat sich zwischen uns geändert!” In ihren Ohren klangen die Worte wahr, machten Sinn und sie straffte ihre Haltung, während die Finger sich um den nassen Lappen klammerten.

“Liebes. Wenn doch alles so schön und gut ist, warum hockst Du dann hier und schrubbst Dir die Hände blutig?” Aidan klang ehrlich besorgt, der Tonfall so sanft und weich wie Samt.

Cahira sah blinzelnd auf ihre Hände hinab. Die Feldarbeit hatte eindeutige Spuren hinterlassen; die Handflächen waren rauh, die Finger voller Schwielen. Natürlich hätte sie Handschuhe tragen können aber durch Leder oder Stoff fühlte sie sich in ihrer Arbeit eher behindert. Seifenlauge und heißes Putzwasser hatten ihren ohnehin zerschundenen Händen nicht gerade gut getan und in der Tat waren einige Schrunden aufgeplatzt, die Knöchel blutig geädert.

“Ich kann Dir sagen, warum. Ich kann Dir sagen, was gestern passiert ist.”

“Bitte nicht …”, wehrte sie nur schwächlich ab; sie wusste ja ohnehin, was nun kommen würde und sie wollte es nicht hören.

“Die zwei Männer, die Deinem Herzen so nah stehen wie sonst nur wenig andere, sind gestern Abend rüstungsstarrend mit ihren grellen Wappenröcken in Dein erschaffenes Heiligtum eingedrungen. Sie haben Dich zu etwas überredet, dessen Notwendigkeit Du zwar erkennst, Dich im Grunde genommen aber vollkommen anwidert. Dann wurden Geheimnisse, die Du so lange ängstlich behütet hast und von denen Du Dir selber nicht schlüssig warst, mit wem und wann und wie Du sie teilen sollst, gnadenlos hervor gezerrt. Und zwar nicht sanft und behutsam, wie Du es Dir vielleicht gewünscht hättest, sondern mit der sprichwörtlichen Axt im Walde und schließlich ….”

“... hör’ auf, ich bitte Dich …”, murmelte sie kopfschüttelnd.

“... hast Du erkennen müssen, dass Dein Refugium, Dein kleiner heiler Hof nichts ist im Vergleich zu den Opfern Deines Ehemannes. Und selbst dieses bisschen haben sie Dir genommen, hart und brutal, ohne zu fragen, ohne nachzudenken, indem sie den Mann, den einzigen Mann, den selbst Du hassen würdest, wenn Du nur etwas kaltherziger, etwas erbarmungsloser wärst, in eure Mitte geladen haben: Dureth.”

Cahira kniff die Augen zusammen, während ein Schauer ihre Schultern erzittern ließ. Sie wollte fliehen, um sich schlagen, schreien - und doch hätte alles nichts genützt, um die in ihrem Kopf wispernde Stimme zum Schweigen zu bringen.

“Sie haben diesen Ort, Deinen Ort verunreinigt, geschändet … und Du kannst es immer noch nicht aushalten, diesen Namen zu hören, aber Du musst, wenn du stark sein willst  … Dureth …”

Seine Stimme strich durch ihr Nackenhaar wie eine unaufgeforderte, doch dafür umso zärtlichere Berührung und als Cahira ahnte, wie sich Aidans weiche Lippen schon wieder zur ersten Silbe formten, sein Atem ihre Ohrmuschel umschmeichelte: Du …”, da spie’ sie zur Seite aus mit aller Verachtung, die ihr wirrer Geist in diesem Moment aufbringen konnte: “Wenn Du noch einmal Dein Schandmaul öffnest, dann schwöre ich Dir bei allem was mir Lieb und Teuer ist, werde ich Deinen abyssverfluchten Knochensack aufspüren und endgültig ins immerwährende Nichts befördern!”

Die Befriedigung der plötzlichen Stille ließ ihre Mundwinkel zucken. Doch die Geräuschlosigkeit ballte sich hinter ihrem Rücken unheilvoll wie eine Gewitterwolke zusammen und zerplatzte mit einem rumpelnden Geräusch und einem jehen, erschrockenen Aufschniefen.

Cahira fuhr herum und sah in die schreckensgeweiteten Augen ihres Sohnes, der nach einigen weiteren Herzschlägen, in welchen sie Lionel nur anstarren konnte, verstört murmelte: “Ich habe doch nur gefragt, wo ich das Holz … was ... warum … was habe ich denn getan?” Die letzten Worte gingen bereits in Schluchzen unter und noch ehe die Mutter sich aufrichten konnte, um den Sohn in ihre Arme zu nehmen, zu beruhigen war der Junge bereits über die fallenen gelassenen Holzscheite gestolpert und zur Tür hinaus gerannt.

“Gut gemacht, Liebes. Wirklich gut.”
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#39
~ Zwei Wochen früher ~
Es war weg.
Eiskalte Panik floss in Kyrons Magen während sein scharfer Blick durch die Kommodenlade zuckte, immer noch hoffend dass er sich geirrt hatte, dass es unter den alten Gussformen versteckt lag, oder vielleicht dort unter seiner Sammlung loser Tabakblätter, zerknittert in der Ecke der Lade steckte oder sich in den Innereien der Kommode verfangen hatte. Die Starre in seinem Leib brach erst, als er mit einem Zischen den ausnahmsweise ungepanzerten Arm in den engen Spalt rammte, für einige Herzschläge hastig im Unbekannten herumtastete und den Arm schließlich wieder hervor riss um einmal mehr in herzklopfende Reglosigkeit zu verfallen.
Weg.
Das Papier mit den Zeichnungen darauf, das sein Meister ihm mit der Aufgabe es auswendig zu lernen in die Finger gedrückt hatte, das Blatt für das er keinen sichereren Ort erdenken hatte können als seine eigene Kommode in seinem eigenen Haus, war verschwunden. Fort. Aber wie? Wohin? Warum?
Instinktiv huschte sein Blick nach rechts und zur Eingangstüre. Cahira war draußen und kümmerte sich um die ungelenke Jährlingsherde, deren schlaksigen Übermut man bis ins Haus hören konnte. Lionels Schreie erklangen von weiter abseits, wo er mit seiner Schleuder übte. Beide kamen als Täter in Frage. Lediglich Brynja, die gerade mit großem Ernst eine gesamte Reihe ihrer eigenen Zehen bekaute während sie auf ihre frische Windel wartete, konnte er ausschließen; während sie große Fortschritte in der Kunst des aus-dem-Bett-rollens und dem Abräumen von Tischen gemacht hatte, waren schwere Kommodenladen immer noch zuviel Herausforderung für den kleinen Leib.
Mit einem unsicheren Keuchen schob Kyron die Lade wieder zu und klammerte sich für einen Moment an die Kante des Möbelstücks. Vielleicht hatte er sich geirrt? Vielleicht hatte er das Papier an einem anderen Ort untergebracht?
Eine frische Windel war schnell gefunden, auch wenn das Anlegen immer noch eine Ewigkeit dauerte und der Anblick des hanebüchen gewickelten Stoffs Cahira wie üblich ein Kichern entlocken würde. Mit Brynja unter dem Arm - und ihrem Todesgriff an seinen Zöpfen - erklomm er die steile Leiter wieder, trat zum Fußende des Betts und setzte sie auf die ausgebreitete Decke, zwischen all die Holzfigürchen die er mit Lionel zusammen für sie geschnitzt hatte. Nur weil das Papier im Erdgeschoss nicht aufgetaucht war, hieß das nicht, dass-
Mit flinken Schritten und ebenso flinken Griffen begann er durch die Möbel der Kinder und der Frau zu kramen, immer wieder argwöhnisch über die Schulter linsend um sicher zu stellen, dass Brynja nicht todesmutig zur Luke mit der Leiter krabbelte.
Nichts... Hier auch nichts... auch nichts- du liebe Güte, seit wann hat Cahira ein Kleid mit so einem Ausschnitt!... Nichts.... - Da!
Das Papier knisterte in seiner Faust, die Erleichterung war auf der Zunge zu schmecken. Einen Herzschlag später erlosch sie allerdings wieder. Wie war der Schrieb von seinen persönlichen Sachen unten in Cahiras Schrank hier oben gelangt?
Brynja gurgelte fröhlich hinter ihm und Kyron wandte sich automatisch ab um sie hochzuheben und zurück zu ihrem Platz zu tragen, die Stirn gerunzelt und die Lippen verzogen als er sich neben sie auf den Boden setzte. Cahira hatte keinen Grund durch seine Sachen zu wühlen, aber Lionel ließ sich schwer davon abhalten. Lionel hätte das Papier allerdings dorthin zurück gelegt wo er es gefunden hatte, sofern nicht Cahira ihn dabei erwischte. Und Cahira war klug, klüger als er. Sie würde das Papier hier zwischen ihren Kleidern aufbewahren, wo Lionel nichts Interessantes fand und somit nicht noch einmal darüber stolpern würde.
Während seine Hand ein Holzpferdchen über die Decke galoppieren ließ und seine Zunge die angemessenen Geräusche dazu produzierte, starrte Kyron zu den Fenstern und wog ab. War es vielleicht Zeit, Cahira zu erzählen was vorgefallen war? Was das Papier bedeutete? Dass sie sich keine Sorgen mehr um Lionel zu machen brauchte? War es gar Zeit, den Jungen einmal beiseite zu nehmen und ihm alles zu erklären?
Aus den Gedanken gerissen wurde er erst als er Brynjas sabbrige Lippen an seinen Knöcheln fühlte, dicht gefolgt von einem herzhaften Biss der kleinen, neuen Zähnchen. "He, au. Beiß das Pferd, nicht mich," murmelte er und schüttelte sich und gleichzeitig die dunklen Sorgen ab. Brynja gab ein fröhliches Blubbern von sich, dicht gefolgt von einer ihrer typischen Nonsenserzählungen, eine Mischung aus Vokallauten und Gegurgel das selbst ihm ein Grinsen entlocken konnte.
Nein, es war noch Zeit. Ein wenig Zeit konnte er allen noch geben, bevor es ernst werden musste. Ein paar Tage konnte er noch die Idylle genießen. Was war schon das Schlimmste was passieren konnte?
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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#40
Die morgendliche Herbstsonne war klar, ließ alles in einem scharfen, kalten Licht erscheinen. Anders als in den warmen Sommermonaten hatten ihre Strahlen nichts schmeichelndes, wohliges an sich. Cahira fühlte sich wund und durchscheinend und wusste nicht, wann sie das letzte Mal geschlafen noch wann sie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte. Aber es war auch einerlei: Sie bekam die letzten Tage kaum noch etwas runter - ganze sicher eine Folge der vergangenen, schwerwiegenden Gespräche, auch wenn diese sich teilweise nur in ihrem Geist abgespielt hatten -  und wenn sie an die Aussprache von vergangener Nacht dachte, drehte sich ihr Magen auch schon wieder herum …

Der Ritt zunächst im trüben Abendlicht vom Rabenfeld nach Hohenquell und dann am grellen Morgen wieder zurück war eine Tortur gewesen. Ganz bewusst hatte sie das garstigste Pferd aus der fürstlichen Zucht für diese Reise ausgewählt, denn so bissig die Stute auch war, so schnell, kraftvoll, ausdauernd war sie auch und stellte damit so machen ihrer Artgenossen in den Schatten. Doch diese Kraft musste beständig kontrolliert, in Maßen gezähmt werden und als Pferd und Reiterin endlich die jeweiligen Zielorte erreichten, waren beide gleichermaßen ausgelaugt, atemlos, schweißnass - das Tier von der Hatz über den Pass, die gepflasterten Straßen, auf denen das Donnern der Hufe ihr Nahen ankündigte wie das Marschgeläut einer Armee aus dem Abyss; die junge Frau von der Beherrschung der ungestümen Macht zwischen ihren Schenkeln und den Sorgen, die sie nach Hohenquell getrieben hatte.

Nachdem das Tier versorgt worden war, lehnte sie sich zunächst erschöpft an den Türrahmen ohne in die warme, gemütliche Stube zu treten, und betrachtete für einen Moment gedankenverloren ihre Kinder: Brynja saß auf dem breiten Schoß von Nora, dem Kindermädchen, gegen deren ausladenden Busen gedrückt, und fuhrwerkte mit einem Löffel in ihrem Haferbrei herum - die Tochter war propper, mit rosigen Wangen, leuchtenden Augen, das Haar zeigte den Ansatz von Locken - Lionel biss gerade von einem kalten Speckkrapfen ab und berichtete von seinen jüngsten Erfolgen mit der Schleuder, natürlich mit noch vollen Wangen, welches die Mutter von ihrem Beobachtungsposten her mit einem zärtlich resignierten Lächeln zur Kenntnis nahm - der Sohn war schlank und blass, schlug in seinem Aussehen eindeutig nach dem Vater, obwohl das Haar nicht gänzlich schwarz schien, sondern im Sonnenschein einen bräunlichen Schimmer mit sich trug.

Nora bemerkte Cahira als Erste und wollte sich samt Kleinkind erheben, was Cahira mit einer kurzen Handgeste abwiegelte: “Bitte, lasst euch nicht beim Essen stören.”, und die Frau sackte wieder auf die Bank zurück; das Auf und Ab animierte Brynja zu fröhlichen Gurrlauten. “Máthair!”, sprang da Lionel auch schon auf, umrundete den Tisch und warf sich Cahira entgegen. Der Ausrutscher von vor wenigen Tagen war bereits vergeben und in Lionels Fall vermutlich auch vergessen. “Geht es Athair gut? Hast du mir den Zahn mitgebracht?”, drängte der Kleine mit treuen Blick. Cahira lachte auf und nestelte aus ihrer Tasche einen geblichen, gebogenen Zahn hervor. “Es ist zwar nicht der Zahn, aber ganz gewiss der Zahn eines Schakals. Und Kyron geht es … gut. Er kommt sicher bald wieder nach Hause, nachdem er noch mehr von diesen Viechern niedergestreckt hat.” Sie strubbelte Lionel dabei über das Haar. Das kurze Stocken in ihrem Satz bemerkte der Junge nicht, der seinen neuen Schatz drehte und wendete.

“Ich lege ihn zu meinen anderen Sachen. Darf ich Nora mein Kästchen zeigen, bitte?”, merkte Lionel da plötzlich auf, der alle ihm wichtigen Dinge, ganz wie die Mutter, in einer kleiner Schatulle bei seinem Bett sammelte. “Na, wenn Nora es auch sehen will …”, begann Cahira mit Blick zur Kinderfrau, die selbstverständlich nickte, während sie Brynja den Löffel zu entwenden versuchte, und schon kletterte Lionel die knarzende Leiter zur Schlafkammer hinauf.

Der Blick der Mutter folgte dem Sohn und sie atmete tief ein und aus, während sich ihre Hände zu losen Fäusten schlossen und wieder öffneten.  “Alles in Ordnung, Edle?”, fragte Nora auf dieses Geräusch hin und musterte die noch immer an der Tür Verharrende nun zum ersten Mal eingehender, die Stirn krauste sich dabei merklich. Cahira war eine Mischung aus schlafloser Unruhe, Besorgnis und einem Sammelsurium von nicht zusammengehöriger Lederkluft, welche sie gestern Abend wahllos aus ihrem Schrank gezogen hatte - nachdem Dureth sie, mal wieder, kalt erwischt hatte.

Ihre vorherigen Gespräch waren einem festgelegten Kreislauf gefolgt: Während Kyrthon den besorgten, hilfsbereiten Freund gab, wies Cahira jegliche Behauptung des Mannes als Lüge und weiteres Ränkespiel von sich. Sie schaukelten ihr Wortgefecht eine geraume Weile hoch bis sie sich auf dessen Höhepunkt trennten … und Wochen, manchmal Mondläufe später wieder aufeinander trafen. Doch diesmal hatte seine direkte Art, die Erwähnung ihrer Familie, besonders Lionel, und Aidan - woher wusste er es nur? - sie aufhorchen lassen.

Kyron würde ihr später gepresst zuraunen: “Du weißt, dass er mit dir spielt.” Es war ihr bewusst, aber dieser Mann hatte unbestreitbar gewisse Fähigkeiten. “Noch ehe das Jahr stirbt, wirst du entweder in den Trümmern deiner Familie knien, oder zu mir kommen.”  “Freiwillig?” In Kyrons Stimme war der schiere Unglauben zu hören, als sie ihm davon berichtete und sie konnte nur matt mit der Schulter zucken. Es gab für sie kein vorstellbares Szenario, in welchem sie sich Kyrthon ohne Zwang zuwenden würde.

Sie wollte wissen, was er in der Zukunft gesehen haben mochte, hatte jedoch den Bogen ihrer Scharade bereits überspannt und den Mann vertrieben. Kyrthon war ungehalten gewesen, beleidigt gar. Eine neue Nuance in ihrem Spiel, welche sie ratlos und auch irgendwie getroffen zurück ließ. Vollkommen absurd. Was sollte sie es scheren, was dieser Unmensch von ihr dachte?

Doch er hatte die Saat des Unbehagens in ihr gepflanzt, genährt mit den Worten: "Frage Kyron nach seinen Träumen, wenn dir etwas daran liegt zu erfahren, wie die Zukunft sein wird, wenn Lionel nicht gebändigt wird.” - Kyron, der die letzte Zeit unbestreitbar ihrem gemeinsamen Bett ferngeblieben war und seit drei Tagen ohne Nachricht in Hohenquell weilte. Und so war sie noch am Abend aufgebrochen; vordergründig um an der Front nach dem Rechten und ihrem Ehemann zu sehen, ein paar Aushänge zum anstehenden Markt im Eisenthal anzubringen, im Hinterkopf jedoch die drängend bange Frage:

“Wovon träumst Du, Kyron?”

Die Reaktion ihres Ehemannes war keine andere, als hätte sie ihm direkt unangekündigt mit der Faust ins Gesicht geschlagen: Er war nach hinten getaumelt, hatte sie mit weiten Augen angestarrt und sie konnte sich dieses Gebaren kaum erklären, bis er auf ihren Wunsch den Traum, den er nicht leugnete und der ihn in der Tat nicht zur Ruhe kommen ließ, schilderte. In allen detaillierten Einzelheiten. Am Ende würgte sie bittere Galle hoch und wünschte sich, sie hätte nicht gefragt, wünschte sich, sie könnte das Gehörte einfach wieder vergessen. Es war verrückt und grausam, anzunehmen, sie könnte … nie im Leben …

Doch sie blieb ihm die Antwort auf die Frage, ob sie irgendetwas außergewöhnliches in Lionels Gegenwart bemerkt hatte, mit unschlüssigen Kopfbewegungen und einem tiefen Atemzug schuldig - laut Kyrthon war Aidan genau solche Irregularität, die zeigte, wie gefährlich die ungerichtete, ungeschulte Kraft des Jungen war, dass sie Personen in ihrem Umfeld in Mitleidenschaft geraten ließ. Kyron deutete dies wohl als “Nein” und beruhigte sich daraufhin sichtlich. “Ich bin müde, Cahira. So müde. Ich will mich ihm einfach nur noch ergeben.”, klangen seine Worte in ihren Ohren. Wie konnte sie da ihrem geschundenen Ehemann gestehen, dass sie mit Aidan, dem Hexer, Zwiegespräche führte? Wie konnte sie ihm die Ruhe, welche ihre unbestimmte Antwort vorgaukelte, wieder entreissen?

Cahira zuckte zusammen, der in Gedanken versunkene Blick klärte sich wieder und glitt von Nora zu dem Krapfen, den Lionel angebissen zurückgelassen hatte. Sie seufzte. Eigentlich hätte der Junge es besser wissen müssen, nachdem sie doch regelmäßig in Rabenstein Essen an die Bedürftigen ausgaben. Ganz gleich, was Dureth, Aidan oder sonstwer behaupten würde: Er war eben doch nur ein normaler kleiner Junge, ihr kleiner Junge, der nächsten Wochenlauf sieben Jahre alt werden würde, mit dem Kopf voller kindlichen Flausen wie die Kunststücke seines Hundes oder seiner Schleuder. Sie nickte Nora zu, zwang sich ein beruhigendes Lächeln auf die trockenen Lippen. Die milde Rüge bezüglich des verschmähten Backwerks blieb ihr jedoch im Halse stecken als ....

… eine schlanke Hand nach dem Krapfen angelte und zum lächelnden Mund führte.

Sie starrte dem Mann entgegen, der da recht selbstverständlich auf der Holzbank saß, gerade einen Krümel von seinem Wams drückte und den Finger dann ableckte - die Bewegungen lässig, ohne Hast. Cahiras Blick flirrte von Nora und Brynja zu Aidan, der ihr nun zuzwinkerte. Zitternd deutete sie auf den Platz, wo er saß. “Seht ihr den Mann dort?”, brachte sie rau hinaus, ohne das Augenmerk von der wohlbekannten Gestalt zu lösen. “Mann? Welcher Mann?”, fragte Nora plump, hauptsächlich mit der nun quengelnden Tochter auf ihrem Schoß beschäftigt. Noras Nachfrage beruhigte sie leidlich: Er war nur eine Einbildung, ihren trägen Sinnen, dem leeren Magen und der durchwachten Nacht geschuldet. Sie blinzelte einmal, zweimal ganz fest - und der Mann war fort.

Währenddessen war Lionel mit seiner Schatulle an die Brust gedrückt die Leiter hinunter gekommen und zurück gen Tisch gestromert. “Hrmpf.”, schürzte der Junge die Lippen, während er suchend herum blickte. “Ich dachte, ich hätte noch einen Krapfen gehabt …”
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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