Wein und Weiber
#1
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Welf erwachte mit flauem Gefühl in der Bauchgegend und gehörigem Durst. Er blieb still liegen, betrachtete die hölzerne Decke des Schlafraums und versuchte, den Zustand seines Magens einzuschätzen. Hm, schwer zu sagen… Entscheidend würde der erste Schluck Wasser werden. Er drehte den Kopf zur Seite. Mithras sei Dank… Dort stand ein Krug bereit. Welf konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern, dass er ihn dort hingestellt hatte, aber er traute sich diese Vorsorglichkeit selbst im größten Suff noch zu. Halb richtete er sich auf seine Ellenbogen gestützt auf und sah sich um. Alle Schlaflager waren schon verlassen, die gesamte Familie war bereits auf den Beinen und hatte ihn gütiger weise liegen lassen. Mit schwachem Arm hob er den Krug an und setzte ihn an die Lippen. Wasser. Er trank gierig, bremste sich aber gleich wieder. Entweder mir wird jetzt innerhalb von kurzer Zeit schlecht, oder mein Magen hat doch nicht ganz auf Abwehr geschalten. Er ließ den Krug wieder zu Boden sinken und sank selber zurück auf die Matte. Während er auf die Antwort seiner Eingeweide auf die Flüssigkeitszufuhr wartete, sinnierte er über den vergangenen Abend.

Der Familienstammtisch war wegen der Ratssitzung und irgendwelcher Besprechungen in der Kirche kurzfristig verschoben worden. Da er sich aber dafür den Abend freigehalten hatte, war ihm nun langweilig. Und wenn einem langweilig war, so lohnte stets ein Blick in die Taverne. Also ging er die paar Schritte zur ‚Klingenden Münze‘ hinüber, aber da war nichts los. Naja es gibt ja noch drei andere Wirtshäuser in der Stadt. So ging er zuerst in den neuen Hafen und sah dort die Reste der Hochzeitsfeier, aber keinen einzigen Gast. Auf dem Marktplatz und in der dortigen Wirtschaft war ebenso tote Hose. Und in den alten Hafen zog es ihn irgendwie seit dieser letzten Sache nicht mehr. Also blieb er doch wieder in der ‚Münze‘ hängen. Er hockte sich draußen hin und genoss den lauen Heuertabend. Nach einem eher geschäftsmäßigen Gespräch mit einem Pärchen, das anscheinend irgendwie neu in der Stadt war, kam Tami, die Schankmaid aus dem ‚Baumelnden Wachmann‘ daher und setzte sich neben ihn auf die Bank. Deren Gesellschaft wäre ihm wohl selbst, wenn er derzeit nicht… vergeben? … gewesen wäre, eher lästig gewesen. Die gab sich allzu offen als leichtes Mädel, das war ihm irgendwie zu stumpf. Und nun wollte sie auch noch mehr über ihn wissen. Er lenkte das Gespräch aufs Schneidern und damit war sie dann auch erst einmal beschäftigt. Zu seinem großen Unbehagen saß Welf immer noch auf dem Trockenen, weil ja auch nirgends eine Bedienung zu finden gewesen war. Und die Schankmaid der einzigen Taverne, in der er noch nicht nachgeschaut hatte, saß nun neben ihm. Nichts zu machen… Aber plötzlich kam Taleris des Weges. Das änderte die Aussichten für den weiteren Verlauf des Abends schlagartig. “Na da schau her, wen das laue Sommerlüftchen daherweht!“ begrüßte Welf den Freund und stand auf.“Mithras zum Gruße!“, antwortete der und schaute dann sogleich skeptisch zu Tami, die in ihrer freizügigen Lederkluft auf der Bank saß. Manchmal hat er wirklich einen Stock im Arsch. Reuenthal schlug vor, zu sich nach Hause zu gehen, wo noch ein Faß Wein oder Met lagern dürfte. Welf war überaus froh über die Aussicht auf Trinkbares und auch darüber, seiner bisherigen Gesellschaft entkommen zu können.
Bei Taleris daheim war es dann aber doch, im wahrsten Sinne des Wortes, ernüchternd: Das Fass war nicht zu finden, er faselte was davon, dass ein Onkel es mitgenommen hatte, und so löffelten sie jeder eine Schale Fleischbrühe.
Immerhin besser als gar nichts, wie in der Taverne. Aber dann stellte sich heraus, das sein Freund ohnehin ernst mit ihm reden wollte. “Anabella hat mir gesagt, ich solle dich trösten…“. Zuerst war Welf verwirrt, aber dann dachte er, dass das mit der Aussprache zwischen Ana und ihm nach dem Faustkampfturnier zu tun hatte. Er fragte nach, wann sie das zu ihm gesagt hatte. “Gestern.“. Welf erschrak Oha! Was war denn nun wieder los? Seine Gedanken überschlugen sich förmlich, wobei er versuchte, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen.Will sie schon wieder mit mir Schluss machen? Was habe ich schon wieder falsch gemacht? Oder war’s nur ein Missverständnis zwischen Ana und Taleris? Nein. Im Grunde ist es doch klar, ich habe mich wieder heimlich bei ihr reingeschlichen und damit mein Wort gebrochen… Er seufzte vernehmlich. Taleris musterte ihn mit besorgter Miene. Mithras, wie soll man das denn durchstehen, und auch noch ganz ohne Wein! Er beschloss, seinen Freund aufzuklären, über Anabella, ihr Problem, über diesen anderen Typen, den sie da hatte. Und er gestand ihm auch, warum es so schwierig für ihn war, sich offen zu Ihr zu bekennen.
Er war einfach noch nie jemand gewesen, der seine Frauengeschichten - wie man so schön sagt - an die große Glocke hängt. Er hatte das bei anderen immer als prahlerisch empfunden und das war nicht seine Art. Auch gegenüber den Mädels empfand er es als… uncharmant. Hinzu kam, dass seine Familie derlei Sachen eher missbilligte. Fast die Hälfte seiner Verwandten hier in Servano waren Priester, Novizen oder hatten sonst etwas mit der Kirche am Hut. Die schüttelten so schon oft genug den Kopf über seine Liebeleien. Und er wusste auch, dass selbst sein Onkel Janusch sich lieber ein Eheweib für ihn wünschte, anstatt immer wieder neuen Mädels. Also hatte er sich eine Heimlichkeit zugelegt, eine Art, seine Affären so zu gestalten, dass möglichst keiner davon Wind bekam. Und das ging zuweilen sogar recht weit, wie vor wenigen Nächten, als er sich in finstrer Nacht übers Dach durch ein offenstehendes Fenster in Anabellas Zimmer geschlichen hatte, nur um nicht von ihren Mitbewohnern erwischt zu werden, als er ihr einen Krankenbesuch abstatten wollte. Und das, obwohl er ihr kurz davor versprochen hatte, das mit dieser Geheimnistuerei Schluss sein würde.
Und genau das war es nun, was ich falsch gemacht habe. dachte er wieder bei sich, als er Taleris dies alles darlegte. Er musste unbedingt mit ihr reden, bald. Bevor sie wieder so viel grübelt!
Die Fleischbrühe war aufgegessen und beide hatten die Nase voll von diesem Gesülze über Beziehungen.
Ohne was zu Trinken ist das ja kaum auszuhalten dachte Welf und war sich sicher, dass auch der äußerlich so brav wirkende Taleris das Selbige dachte. Sie entschlossen sich, es doch noch im ‚Baumelnden Wachmann‘ zu versuchen, vielleicht war Tami ja dorthin gegangen, als sie sie einfach sitzen gelassen hatten. Leider war dem nicht so: Bis auf einen unbekannten, stillen Typen in einer Ecke war die Taverne leer. Taleris schlug, wohl der Verzweiflung nahe, vor, sich einfach selbst zu bedienen und dafür das Geld am Tresen zurückzulassen. Welf war einverstanden und zapfte die ersten beiden Becher Wein, denen noch viele folgen würden. Der Mann in der Ecke hatte auch nichts dagegen. Sie exten den ersten Becher sogleich, sie hatten ja etwas nachzuholen. Jedenfalls wurde Welfs Erinnerung von da an löchrig. Er wagte einen weiteren Schluck Wasser, es schien ihm - Mithras sei Dank! - zu bekommen. Einzelhafte Bruchstücke des weiteren Abends schwirrten durch seinen Kopf, wie Taleris‘ Idee, eine eigene Taverne zu eröffnen, die den Namen ‚Zur unentschlossenen Jungfrau‘ oder so ähnlich, tragen sollte. Oder Taleris, wie er, in beiden Händen einen Becher, den Zapfhahn des Weinfasses mit dem Fuß bediente, und eine mittelgroße Weinlache auf den Boden verursachte. Und dann war da noch irgendeine, sicherlich geistreiche Diskussion über durstiges Holz… oder war es verzaubertes Holz? Irgend so etwas jedenfalls.
Bestens erinnern jedoch konnte er sich an das Ende des Abends: die Tür war krachend aufgeflogen, ein griesgrämig dreinblickender, gewaltiger Mann war hereingekommen, brüllend, was hier los sei und war sogleich an den besoffenen Taleris herangetreten, der hinter dem Tresen den Schankwirt mimte. Die Faust des Kerls, der sich als der Tavernenbesitzer Nikolaj herausstellte, schlug fast genauso krachend in Taleris‘ Gesicht, wie zuvor die Türe gegen die Wand. Welf hatte das Ganze mit der Gelassenheit des Betrunkenen beobachtet und wollte nun bereitwillig die Zeche bezahlen, wenn nun schon der Wirt persönlich da war. Plötzlich plärrte eine aufgebrachte Frauenstimme hinter ihm, was denn diese Brutalität solle. Erst jetzt ging Welf auf, dass sie ihn bereits Augenblicke zuvor freundlich mit seinem Namen begrüßt hatte, und er konnte sich nun dunkel an sie erinnern… Analope Jehann, oder so… Er lächelte blöde, während die aufgebrachte Dame sich anscheinend tatsächlich mit dem Wirt ernsthaft anlegen wollte.
“Komm, wir gehen. Ich glaub die hat was am Kopf.“ flüsterte er relativ laut seinem Freund zu, den die Abreibung anscheinend wieder um einiges frischer gemacht hatte. Der freundliche Wirt schenkte ihnen beiden noch je eine Flasche billigen Fusel, bevor sie aus der Tür fielen und Reuenthal erst einmal auf die plattgetrampelte Erde kotzte. Das Röcheln seines Freundes war das letzte, an das sich Welf noch erinnern konnte. Danach war er wohl heimgestolpert.
Welf kratzte sich grübelnd am Kopf. Es war Zeit aufzustehen. In ein, zwei Stunden würde er ehrfahrungsgemäß ein wenig Zwieback essen können…
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#2
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Als er später an dem Tag wieder an Taleris‘ Worte von Anabella dachte, wallte Unmut in ihm auf. Zuerst war er besorgt gewesen und die Angelegenheit hatte nicht gerade sein Gemüt erhellt. Ihm ging nun auf, dass dieses immer wiederkehrende Drama ehrlich gesagt nicht das war, was er sich von einer Liebesbeziehung wünschte. Anabella zu liebe hatte er sich verbiegen wollen, um so zu sein, wie sie es sich wünschte. Und das wäre nicht einmal das gewesen, was ihn so sehr störte. Vielmehr merkte er mit einem Mal, dass sie es war, die einfach nicht zu ihm passte, mit ihrer sensiblen Art und ihrem übertriebenen Gerede über Gefühle, Leidenschaft und all diese Dinge. Das war zwar alles recht und schön, aber einfach nicht Seins: Er erkannte, dass sie ihm damit den Nerv zu töten drohte. Und wenn sie nun schon jemanden gefunden hatte, dem ihre Launen gefielen, diesen anderen Typen, dann konnte er, Welf, doch gleich guten Gewissens einen Schlusspunkt setzen.
Im Laufe des Tages festigte sich dieser Entschluss und Welf steigerte sich immer mehr hinein, sodass sein Unmut sich schließlich in regelrechte Wut auf Anaballa verwandelte. Unterbewusst war ihm klar, dass er das nur machte, damit es ihm später leichter fiel, wenn er sie zur Rede stellte. Jetzt musste er sie nur noch finden. Er verließ das Haus und trat hinaus in die Straße, die vom Laubengang überschattet wurde. Wenige Schritt weiter flirrte die erhitzte Luft über den staubigen Pflastersteinen. Er trat aus dem Schatten und wanderte los, durch die Altstadt. Die Sonne stand schon tiefer, es dürfte schon die fünfte Stunde nach Mittag angebrochen gewesen sein. Nachdem er erfolglos alle Orte abgesucht hatte, an denen sie sich für gewöhnlich aufzuhalten pflegte, kehrte er eine gute halbe Stunde später und durchgeschwitzt wieder zum Veltenbruchschen Haus zurück. Es ist ja nicht so, als hätte ich nichts Besseres zu tun, als dich zu suchen…, sagte er sich und war gerade in den kühlen Keller hinuntergegangen um sich etwas Kaltes zum Trinken zu holen. Da erklang von oben ein Ruf, der sich nur allzu vertraut anhörte. Er stieg die ausgetretenen Stufen wieder nach oben und rief: „Heda! Wer da?“ Dann entdeckte er Anabella auf der Stiege zum Laubengang und setzte sogleich eine ernste Miene auf. Sie schien zufrieden, ihn gefunden zu haben und fragte sofort, ob er ein Stück mit ihr gehen könnte, sie müsse mit ihm sprechen. Das hörte sich ja recht wichtig an. Welf war es nur recht, er wollte ja auch ernst mit ihr reden. Kurzentschlossen führte er sie vor die Stadt. In der Nähe des Turnierplatzes suchte er ein ruhiges Plätzchen und lehnte sich an einen Tribünenaufgang. Sie setzte sich ins Gras und schien recht fröhlichen Gemüts. Als er sie nun so betrachtete, war seine Wut wie weggeblasen. Er hatte sie wirklich gern, musste er sich wieder eingestehen, und ihm graute davor, ihr zu sagen, was er vorhatte und sie traurig zu machen. Aber es half nichts. Also erklärte er ihr sich, formulierte seine Gedanken jedoch, ihr zugunsten ein wenig um. Er sei zu dem Entschluss gekommen, dass er nicht der Richtige für sie sei und so weiter und so fort. Kaum waren die Worte heraus, schämte er sich schon dafür. Das war doch jetzt das Abgedroschenste, was ich jemals einem Mädchen vorgebracht habe… Anabella hätte weitaus mehr verdient. Aber irgendwie stimmte es schon. Sie passten eben wirklich nicht zusammen. Es steckt ja doch immer ein kleiner Kern der Wahrheit in so einem Klischee. Er schlug recht gnadenlos vor, sie solle sich doch lieber an diesen anderen Kerl halten, der ihr wohl besser tun würde wie er, Welf…
Zu seinem Erstaunen nahm sie es überraschend gut auf. Sie bedeutete ihm sich neben sie ins Gras zu hocken und gestand ihm, dass sie eben das gleiche vorgehabt hatte: Einen Schlussstrich zu ziehen… und hoffentlich Freunde bleiben zu können. Der zweite Punkt schreckte Welf etwas ab. Er konnte sich nicht recht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Vom einen aufs andre Mal umschalten von Liebe auf Freundschaft? Aber noch während ihm die Bedenken kamen, sah er Anabella wiederum an, und hatte schon beschlossen, es zu versuchen. Sich noch einmal zu bemühen, ihr zu liebe. Er rempelte sie kumpelhaft an und es fühlte sich ziemlich verkehrt an. In Gedanken zuckte er die Schultern und grinste. Was soll’s, probieren kann man’s ja.
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#3
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Über ein Jahr war vergangen, seitdem Welf und ein Großteil seiner Verdwandten Löwenstein den Rücken gekehrt hatten. Und für ihn war der Abschied besonders schwer gewesen... zumindest kam es ihm so vor. Denn seine Heimkehr nach Silendir und zu den alten Verwandten war denkbar schwerer. Natürlich, einige der anderen, wie Theresia oder Kaspar, hatten sich in Zwietracht vom silendirer Teil der Familie abgespalten. Bei Welf jedoch war es ungleich schlimmer, war er doch als Novize aus der strengen Priesterschaft des Mithrastempel fortgelaufen, um sich zu seinen aufmüpfigen Vettern und Onkeln nach Servano durchzuschlagen. Und entsprechend kühl war auch seine Rückkehr aufgenommen worden. Freilich, einige hatten sich gefreut, allen voran seine Mutter, aber alle waren sie enttäuscht und missbilligten offen sein Verhalten. Aber das hätte er noch ertragen und er versuchte tapfer, sich als Schneider für die Familie wertvoll einzubringen. Doch schon nach wenigen Wochen, in denen er sein früheres Zuhause, das er aus Kindertagen kannte, wieder erkundete, musste er ernüchtert feststellen, dass es sich kaum verändert hatte. Und alles was ihm als Kind so viel Spaß gemacht hatte war natürlich mittlerweile langweilig, vorallem verglichen mit der Hauptstadt des Reiches. Und auch die Mädchen, von denen er damals in den Nächten in der Einsamkeit des Mithrastempels geträumt hatte, waren eine Enttäuschung. Es waren gewiss einige hübsche dabei, aber im Grunde waren es doch allesamt plumpe Bauerntöchter und die wenigen Pfiffigen oder Gescheiten, mit denen man noch einen interessanten Abend hätte verbringen können, waren schon verlobt, wenn nicht gar verheiratet. Und so stieg sein Unmut von Woche zu Woche und die Zeit, die er in der Schneiderstube verbrachte wurde immer weniger - zugunsten der, die er in der Dorfwirtschaft hockte, das köstliche Silendirer Bier trank, und dem immer gleichen Gejammer und den lahmen Geschichten der Stammtischbrüder lauschte. Eines Abend jedoch kam ein fahrender Händler in die Schänke und Welf schnappte einige Fetzen über Servano auf, auch Neuigkeiten aus der Hauptstadt. Der Händler selbst war natürlich nicht dort gewesen, aber ... nun Gerüchte eben.
Von da an wartete Welf jeden Abend fiebrig darauf, es möge doch irgend ein Reisender mit Neuigkeiten aus dem Osten kommen, was jedoch fast nie geschah, denn nach wie vor war die Grenze nach Servano geschlossen und auch keine Schiffe durften Löwenstein anlaufen. Erst Wochen später würde ihm wirklich bewusst, wie sehr es ihn wieder zurück nach Löwenstein zog. Und einmal gedacht, war der Gedanke, an eine Rückkehr von der Rückkehr sozusagen, aus seinem Hirn nicht mehr auszusperren. Freilich, der Abschied würde nicht leicht, da doch auf unbestimmte Zeit. Zwar nicht von den Verwandten, denen er ohnehin nichts wert war, aber doch von seiner Mutter, Onkel Janusch, Tante Theresia und allen voran seiner kleinen Schwester Gwendolyn. Doch im Grunde war der Entschluss schon gefasst.
Nach drei Tagen entbehrlicher Reise war Welf durch das Stadttor von Löwenstein geschritten. Er hatte nur das Nötigste mit sich nehmen können, denn zum einen wurde ihm dafür, dass er "die Familie schon wieder aufs schändlichste im Stich lasse" nicht erlaubt einen Esel, geschweige denn ein Pferd, aus dem Stall der Familie mitzunhemen. Zum anderen hätte er es damit sowieso nicht über die gesperrte Grenze geschafft. Es war auch so schon schwer genug gewesen, und seine gesamten Ersparnisse waren für das Schmiergeld der Grenzwache draufgegangen.
Wieder einige Tage später hatte er sich bereits prächtig eingelebt und eine Anstellung bei der Familie Fuchsenfelde gefunden, über die er recht glücklich war. Er war sich noch nicht ganz sicher, wie genau er seinen Lebensunterhalt am besten bestreiten sollte und stellte solange der Familie seine Dienste als Schneider. Jedoch war er gewillt, auch andere Aufgaben zu übernehmen. Denn neuerdings war er erfüllt von Zuversicht und Tatkraft wie selten in seinem Leben und er vermutete den Grund dafür in der allgegenwärtigen Betriebsamkeit, die in der Hauptstadt, vorallem aber auch in Candaria herrschte, einem Landstrich, den Welf noch nie zuvor besucht hatte und der ihm mit seinem windigen Klippen und dem wunderbaren Strand erfrischenden Schwung verlieh. An einem lauen Spätsommerabend dann befand er es an der Zeit, sich die Tavernen der Stadt genauer anzusehen und vielleicht neue Freunde oder alte Bekannte zu finden. Doch es war eine herbe Enttäuschung, denn es schien, als hätten sich alle Schankwirte zugleich gegen ihn verschworen, war doch in keiner Wirtschaft eine Menschenseele zu finden! Doch sein Glück hatte ihn nicht vollkommen verlassen - so hatte es zumindest vorerst den Anschein: Im neuen Hafen kam er ins Gespräch mit einer jungen Dame, recht hübsch sogar, die ihn bald schon auf ein paar Becher Rotwein zu sich einlud, was wohl selbstredend seiner charmanten Art zuzuschreiben war. Sie hatten gute Unterhaltung und zu fortgeschrittener Stunde dann... Nun, Welf wusste am nächsten Morgen nicht mehr, was ihn geritten hatte. Auf die berauschende Wirkung des Weins konnte er sich leider nicht herausreden, wie er es vielleicht schon manches Mal getan hatte, dafür waren die Mengen zu gering gewesen. Und außerdem konnte er sich noch an Alles erinnern, auch als es dann etwas... inniger geworden war. Nein, es musste etwas mit seiner inneren Aufgewühltheit zu tun haben, seiner entgütligen Entwurzelung aus der Heimat, vorallem aus dem Verwandtenkreis. Sein Selbstvertrauen schien darunter wohl doch gelitten zu haben, das gestand er sich zähneknirschend und mit einem gewissen Maß an Scham ein - besonders wenn er an den vorigen Abend zurückdachte.
Nun - und den Entschluss hatte er gefasst, sobald er sich auf leisen Sohlen aus ihrem Haus geschlichen hatte - so etwas würde nicht mehr vorkommen! Das war ihm zu... billig? einfach? zu oberflächlich gewesen? Irgendetwas in diese Richtung jedenfalls. Es widerte ihn schon beinahe an, dass er sich so leicht hatte hinreissen lassen, wie es doch tatsächlich gar nicht seine Art war - auch wenn vielleicht viele es anders argwöhnten, wenn sie über ihn sprachen.
Es blieb ihm deshalb nichts, als es so weit es ging wegzuschieben, ihr so gut es ging aus dem Weg zu gehen und vorallem möglichst schnell zu beweisen, dass er es anders konnte. Sich selbst beweisen. Gelegenheit würde es geben. Gab es immer.
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#4
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Ungewohnte Geräusche weckten Welf. Das Schimpfen einer Krähe, leises Trippeln wie von winzigen Füßen, die unter dem Boden liefen. Ein zerschellender Tonkrug, gefolgt von einem derben Fluch. Langsam schlug er die Augen auf. Der kleine Raum war dämmrig und es roch leicht nach Mäusen. Er lag in einem schmalen, schlichten Bett und musste kurz überlegen, wie er dorthin gekommen war. Leise streckte er sich, wobei er mit Füßen und Händen an den Wänden anstieß.
Ah, natürlich. Ich bin in Aygos kleinem Kabuff gelandet, hab' ihn gestern Abend noch gefragt, ob ich nicht bei ihm übernachten könne, weil ich den langen Weg zurück zum Fuchshof nicht mehr machen wollte.
Aygo hatte eindringlich drauf bestanden, dass Welf sich ins Bett lege, als er die Altstadttaverne verlassen hatte, und sich dieser wohl noch eine Weile in der Stadt herumtrieb oder die Taverne aufräumte, oder weiß der Henker, was der noch so trieb, wenn man ihn aus den Augen ließ. Welf hatte sich selbstverständlich auf dem sogar recht gemütlichen Teppich ausgestreckt und war sofort ins Reich der Träume gesegelt. Mit dem Einschlafen hatte er noch nie Probleme gehabt, egal wo oder wann. Welf schwang langsam und leiße die Beine aus dem Bett und lugte um die kleine Trennwand in die Stube. Der drahtige Ravinsthaler musste ihn vom Teppich ins Bett geschafft haben, während er schlief. Keine schlechte Leistung, aber auch nicht unmöglich, wenn man seinen für gewöhnlich seeligen Schlaf in Betracht zog.
Nun, solange er sich nicht mit zu mir ins Bett legt...
Sein Gastgeber lag jedenfalls an der Stelle auf dem Teppich, wo er selbst eingeschlafen war. Welf stand auf und zog sich an. Kurz überlegte er, den Schlafenden von oben her betrachtend, ob er es ihm gleich um gleich vergelten sollte, und ihn in sein weicheres Bett hieven. Aber er traute es seinen eher schmächtigen Armen nicht ganz zu. Sollte er ihm vielleicht eine kleine Notiz hinterlassen? Nein, auch nicht, er würde ihn sicher schon die Tage wieder sehen, wenn nicht sogar schon heute Abend. Sie gehörten ja nun sozusagen zu einer Familie. Welf grinste kurz im Dunkeln und öffnete dann leise die Tür. Einige kleine Kreaturen huschten von der Tür weg in die Düsternis des Ganges und Welf erkannte das Trippeln kleiner Füße wieder. Kurz schüttelte er den Kopf und verließ dann das Haus. Der graue Gilbhartsmorgen dämmerte gerade erst über den alten Hafen herein und die Feuchtigkeit in der Luft schien sich nicht recht entscheiden zu können, ob sie jetzt Niesel oder Nebel sein wolle. Welf zog den Umhang enger um sich und stolperte zum Stall in der Altstadt. Und wie so oft drängten die Ereignisse des letzten Abends in seinem Hirn an die Oberfläche.
Er hatte sie rein zufällig am Stadttor getroffen, war sogar fast in sie hineingeritten und sein braves Pferd, das immer noch keinen vernünftigeren Namen hatte außer "Brauner", war nur knapp schlitternd und bockend auf dem Kopfsteinpflaster zu stehen gekommen. Anabella hatte sich äußerlich kaum verändert. Sie war ja schon immer in eher dunklen Farben gekleidet gewesen, nun war sie also zu gänzlichem Schwarz übergegangen. Doch wie unscheinbar der Wandel im Äußeren, so offenbar im Inneren, hatte er bald fesstellen müssen. Nun, sie war schlechter Stimmung, das kam wohl vor. Er lud sie in die Taverne ein, auf ein gemütliches Gespräch und um sie aufzuheitern. Erzählte ihr, wo er abgeblieben war, warum er zurückgekehrt war nach Löwenstein und das alles. Dass es Gwendolyn und Onkel Janusch gutging wusste er zu berichten, doch anstatt sich zu freuen, moserte sie herum, von wegen, alle ließen sie im Stich, auf niemanden wäre Verlass. Zugegeben, sie war schon damals eine der sentimientalen Sorte gewesen - was ja wohl auch Grund dafür gewesen war, dass er nichts mit ihr als Freundin hatte anfangen können, aber, so musste er ungläubig feststellen, sie war zu einer Schwarzseherin verkommen, die an nichts und niemand ein Haar lassen konnte und sich nur zu beschweren und in Selbstmitleid zu versinken wusste. Auf alle ihm erdenklichen Weisen versuchte er sie aufzuheitern, doch vergebens. Zum Ende hin beschimpfte sie ihn gar und seine gute Absicht nahm sie ihm übel. Zwecklos...
Er ritt gerade über die Grenze zu Candaria und nun regnete es doch. In Selbstmitleid versinken, genau das ist es, was sie tut. Und diese Tatsache sucht sie zu verdecken mit ihrer Einstellung von Nichts und Niemand etwas Gutes zu erwarten, mit einer Gleichgültigkeit, die doch nichts anderes sein kann, als sich am Bemitleiden seiner selbst zu laben. Ihm graute wahrhaft vor ihrer nächsten Begegnung.
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