Arx Obscura

Normale Version: Federkleid & Flügelschlag
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Märchenstunde


Lang, lang ist es her, da trat der Sohn einer mächtigen Handelsfamilie mit einem ungewöhnlichen Wunsch an seine Mutter heran. Wo es üblich war für die männlichen Nachkommen den Tag mit dem Erlernen der Reiterei und der Kriegskunst zu verbringen, so wünschte sich dieser Sprössling nichts sehnlicher als die Zuständigkeit für das Füttern der Gänse; diese wurden von der Familie im anliegenden Gatter gehalten. Es war einiges an Überredungskunst von Nöten, doch schließlich, nach dem gegebenen Ehrenwort die anderen Pflichten kein Stück zu vernachlässigen, willigte die Mutter ein. Bereits am nächsten Morgen war er es, der sich mit dem Futtersack auf den Weg zu den gefiederten Tieren machte.

Hatte er zu Anfang noch Respekt vor den Tieren, so traute er sich schon bald ganz nahe an sie heran und ließ sie letztlich die Körner sogar aus seiner Hand fressen. Der Junge war fasziniert vom Verhalten der Gänse, denn auch wenn er wie wild aufstampfte oder laut brüllte; nach kurzem Aufschrecken und Geflatter kehrten die Tiere zurück um sich erneut von ihm füttern zu lassen. Irgendwann fiel ihm eine besonders hübsche Gans auf. Der Schnabel war schmaler geformt, was ihr einen eleganteren Ausdruck verlieh, und das Federkleid besonders glänzend - von diesem Tag an rückte dieses Exemplar in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit und während ihren Artgenossen lieblos und pflichtbewusst das Futter hingeworfen wurde, nahm er sich für sie ausreichend Zeit.

Wie die anderen Gänse war sie gierig. Gierig aufs Futter und bereit alles in Kauf zu nehmen um jenes zu bekommen. Zu Beginn pflegte er das Tier und sogar hochwertigeres Essen in Form von altem Brot brachte er heran um sie zu verwöhnen. Geduldig wurde gewartet bis das Tier ausreichend Vertrauen gefasst hatte, dann begann sich sein Verhalten ihr gegenüber schlagartig zu ändern. Hatte er sie zuvor liebevoll aus der Hand gefüttert, wurden dem Vogel jetzt die gehärteten Brotstücke mit voller Wucht entgegen geschleudert. Der Junge verwandelte es in ein Spiel und notierte, wie oft es ihm gelang den Kopf der Gans zu treffen und wie laut das anklagende Geschnatter daraufhin war. Und doch, sobald er wieder seine Hand ausstreckte dauerte es nur wenige Minuten und die vorangegangene Tortur war wie vergessen. Am nächsten Tag brachte er einen Stock mit zur Fütterung.

Wenn es sowas wie wahre Zuneigung oder Liebe zwischen Mensch und Tier überhaupt geben konnte - dann empfand der Junge genau das gegenüber dieser Gans. Die Zeit, die er mit ihr verbrachte war vollkommen ehrlich und fern jedes Versteckspieles. Jedes Mal wenn sie sich annäherte um das dargebotene Futter zu vertilgen wurden sie mit einem kräftigen Stockhieb empfangen. Es half nichts, egal wie viel Hass er auf sich zog, das Tier war auf das Futter und damit auf ihn angewiesen. Eines Tages, schließlich war es ein inneres Bedürfnis des selbsterkorenen Gänsehirten sich ständig zu steigern, versteckte er einige dünne Metallnieten in dem Brotstück bevor es im Schnabel seines gefiederten Spielgefährten verschwand.

Der Junge musste auf diese Weise erfahren, dass der Tod etwas endgültiges, furchtbares und deprimierendes war. Niemand konnte ihm die Gans zurückbringen und niemand konnte ihm sagen, ob er je wieder ein Lebewesen finden würde, mit dem er eine derart befriedigende Beziehung würde führen können.

Ende?