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Normale Version: Wer log, wer sprach die Wahrheit?
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Zusammengekauert lag sie auf Fellen und Decken, wartete still auf das Morgenlicht. Das Kupferhaar hatte sich strahlenförmig auf dem Kissen ausgebreitet, das ihrem Kopf eine weiche Unterlage bot.
Wie weggewischt jegliches Lächeln in all seinen sonst üblichen Facetten. Die Augen blickten leer, suchten nach nichts, betrachteten nichts, starrten weit geöffnet in die sie umgebende Düsternis.
Sie verharrten versunken auf den mondbeschienenen Konturen des Verwundeten neben ihr.
Sein Gesicht war gezeichnet von Schmerz, die Stirn glänzte feucht.

Mit fast mechanischer Steifheit erhob sie sich bisweilen, wechselte die Felle, holte Wasser, um es ihm an die trockenen Lippen zu führen und seine Stirn abzutupfen.
Und obwohl sie die Augen in diesen Momenten nur erzwungen immer mal wieder für wenige Wimpernschläge schloss, sobald sie brannten und tränten, war sie nicht anwesend, nicht wirklich.

Wer log, wer sprach die Wahrheit?
Ihr schmächtiger Körper erschien ihr steif und ungelenk, die Muskeln waren hart und verspannt.
Zuerst waren da Schock und Panik gewesen und hatten Zunge und Glieder gelähmt und ihr Lächeln erloschen. Angst, den Freund zu verlieren, der ihr am Herzen lag. Ihn verbluten zu sehen… Er hatte so blass dagelegen auf dem Steinpflaster, während das Blut aus den vier Wunden gedrungen war, wie Wasser aus einem löchrigen Trinkschlauch.
Dann, schlaflose Stunden später, war der Zweifel gekeimt und hatte einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge hinterlassen. Zuerst als vage Vermutung, wirkte er wie Gift und breitete sich in ihren Gedanken aus wie ein Lauffeuer, stellte Fragen und bot vielerlei mögliche Antworten, so viele, dass zu dem Geschmack auch noch die Übelkeit kam.

Sie hatte nie das Talent gehabt, Menschen einzuschätzen. Wo sie Freundschaft und ein gutmütiges Herz erkannt zu haben glaubte, hatten sich nicht selten falsche Worte und Hinterlist versteckt. Auch ihr anfänglicher Argwohn gegenüber Garion hatte sich als naiver Irrtum offenbart, war er ihr doch all die Monate und Jahre ein ehrlicher und loyaler Freund gewesen. Der Ehrlichste. Der Loyalste.

Vier tiefe Stiche verursacht durch Stahl, versenkt in den kleingewachsenen Leib Dragans. Das Blut war aus ihm gelaufen und sie hatte vergeblich versucht einen kühlen Kopf zu bewahren.
Hatte Koris ihn töten wollen? Hatte er wirklich versucht ihn umzubringen oder war es eine Mahnung gewesen?
Die Fragen hämmerten unaufhörlich in ihrem Kopf.
Hatte Dragan gelogen und Koris hatte ihn für die bösartige Lüge büßen lassen? War es vielleicht doch Dragan… der Koris in eine intrigante Falle lockte und sie beeinflusste und benutzte, um dem Wachmann zu schaden? War das Ablegen seiner Masken nur ein weiterer perfekter Zug in diesem Spiel gewesen, der sie leichtfertig getäuscht hatte?
Oder hatte Dragan nicht gelogen und Koris hatte dieses drastische Mittel genutzt, um seine eigene Lüge geschickt und mit Nachdruck als Wahrheit zu tarnen?
Koris… So kopflos hatte sie ihn nie zuvor erlebt.

Ihre Augen richten sich langsam auf das nahe Gesicht, zögernd und entrückt betrachtete sie den unruhigen, fiebrigen Schlaf - das blasse Antlitz… Hörte das verwundete Keuchen.
Oder waren sie beide Lügner? Lügner, die sie gekonnt auf dem Spielbrett hin- und herschoben, zu ganz eigenen Zwecken, die ihr verborgen blieben…? Ging es letztendlich gar nicht um sie, sondern um eine dieser großen Dinge - dieser Familien- und Gruppierungsfehden, die sie weder überblickte noch verstand?

Ihre Finger wanderten zu ihrem Kopf.. fuhren fahrig durch ihr Haar und über die Stirn.Fragen, Fragen, immer nur Fragen.
Wenn sie Koris Unrecht getan hatte….. Der Gedanke fuhr ihr durch Mark und Bein.

...und wenn nicht? Wisperte eine dumpfe, leise Stimme in ihrem Kopf.
Ihr war übel… so unendlich übel.
Beide… sind nicht gut für dich. Raunte ein anderer, blasser Gedanke.

Wie ein angstvolles Kind begann sie leise zu singen und schlang die dünnen Arme um sich… Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum, die nicht mehr stark und hell war, sondern brüchig und dünn. Eines der Lieder, die Krieg und Krankheit geboren hatten, sang sie. Eines, das eine Zukunft versprach, um trotz Tod und Leid die Hoffnung in die Köpfe der Menschen zurückzugeleiten.

Sie konnte nicht sehen, was richtig und was falsch war. Nicht erkennen, wer die Wahrheit sprach und wer nicht. Beiden vertraute sie, aber einer log.
Alles war zu groß, wimmelte verwirrend um sie herum, lockte mit Versprechungen, tuschelte undurchsichtige Warnungen und flüsterte ihr sanfte, süße Worte zu, deren Wahrheitsgehalt sie nicht einzuschätzen vermochte.

Alles zu groß… Sie konnte nichts überblicken. Alles überrannte sie. Es war Zeit die Augen ganz zu schließen… oder einen Berg zu suchen, ihn zu erklimmen und endlich… klar zu sehen.