Arx Obscura

Normale Version: Sonnengelb und tiefschwarz
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Gwendolyn atmete langsam ein, langsam aus. Die Dämpfe aus dem Kessel vor ihr umnebelten ihren roten Haarschopf, dessen Zopf sich schon seit Stunden in einem Gewirr aus vorwitzigen Haarsträhnen aufgelöst hatte. Es roch nach zerkochter Weidenrinde, holzig, erdig, angenehm. Bis der Sud zur richtigen, leicht schleimigen Konsistenz reduziert war, würde es noch dauern. Sie ließ sich auf einer Kiste nieder und schaute ins Nichts. Unbestimmt drehte sie einen Tiegel in der Hand. Ein neuer Versuch, den Sommersprossen Herr zu werden. Um diese Uhrzeit kam niemand mehr zur Tür hereingestapft, auf der Suche nach Salat, Wolle oder Salben. Es war schon lang nach Mitternacht und die Altstadt Löwensteins schien großteils zu schlafen. Mit geübten Bewegungen strich sie sich die grünliche Salbe ins Gesicht. Zerstoßener Salbei war hineingemischt. Das und die Dämpfe machten sie beinah benommen. Zum ersten Mal seit Stunden kehrte Ruhe in Gwendolyns Gedanken ein, aber sie blieb ihr nicht lange erhalten, denn ihre Gedanken waren dieser Tage wie hinterlistige Rauchschwaden, die sich durch jede Spalte zwängen konnten und immer dort hin gelangten, wo sie nichts verloren hatten und Wirrwarr in ihrem Kopf stifteten.

Das Leben in Löwenstein war so anders als in Silendir. Sie war aufgebrochen – weggelaufen, würde Großonkel Hagen wohl korrigieren – mit dem Gedanken, ein gewisses Maß von Freiheit zugestanden zu bekommen in einer neuen Stadt, mit vielen jüngeren Verwandten um sich, die das Abenteuer Löwenstein als solches sahen oder sich zumindest von verkrusteten Haltungen lösen wollten, in die sie ihre Leben nicht zu pressen gedachten. Sie hatte sie, diese Freiheit, in gewissem Maße. Der Familienbund war stark wie in Silendir, aber in Servano traute man ihr schneller Dinge zu, so war Gwendolyns Resümee. Ihre Lehre bei Arnt wurde wohlwollend betrachtet und sie wurde ermutigt, sich einzubringen. Hier waren sie Freie, keine Bürgerlichen. Vielleicht war das der Grund, warum es sich auch oft so anfühlte – so frei. Zumindest Janusch und Theresia schien bodenständige Herzlichkeit und Fleiß wichtiger zu sein als steife Etikette.

In Silendir hatte es immer irgendeine Magd gegeben, die Gwendolyn auf Schritt und Tritt folgte. Man wollte eben sicher gehen, dass einem jungen Mädchen nichts passierte und sich niemand an sie heranpirschte. Hier war das nicht so – es fehlte an Personal. Und hier war es wichtiger, die Mägde zu den Feldern und Koppeln zu schicken, auf dass diese bewässert wurden und das Vieh gefüttert. Man traute Gwendolyn eher zu, auf sich selbst aufzupassen, warnte sie vor den dunklen Ecken, von denen man sich in Löwenstein fernhalten sollte, sagte ihr sie solle sich nicht von der Stadt entfernen wenn es dunkel war und damit war’s gut. Sie passte sich an. Löwenstein war untertags ein verlockender Obstkorb, wo hinter jeder Ecke Neues wartete und man mit jeder Frucht einen neuen Geschmack entdecken konnte. Nachts, wenn es stockdunkel wurde, wandelte sich die Stadt und wurde zu einem undefinierbaren, grauen Eintopf, von dem man nicht mehr genau sagen konnte, was ursprünglich alles hineingeworfen worden war, nur dass er giftig roch und nach Bauchschmerzen und unbedingt zu meiden war.

Das Leben war härter hier, gewiss. Die Keuche, das Elend, die vielen Armen. Sie passte sich an. Gegen die Keuche wusch man sich so oft es ging die Hände, gegen das Elend und die Armen spendete man der Kirche und an den Holzwägen mit den notdürftig eingewickelten Toten ging man schnell vorbei und hielt sich den Ärmel vors Gesicht, wobei man sich vornahm, noch mehr zu spenden. Sie war gut in Anpassung. Sie betete, Mithras möge Amhran von der Keuche befreien, methodisch, jeden Abend. Innerlich glaubte sie fest, ihr Gebet müsse irgendwann einmal Wirkung zeigen. Es konnte ja nicht angehen, so viele Menschen mussten doch um dasselbe bitten – würde der Herr sie nicht alle erhören, wenn sich die Bitten mehrten?

Kaspar hatte gesagt, sie verhielt sich wie eine Fünfjährige. Während die grüne Salbe auf ihrem Gesicht langsam eintrocknete und sie dieses vorsichtig befühlte, in der diffusen Hoffnung auf Erblassung dieser unsäglichen Flecken, gemahnte sie sich beim Gedanken an ihr Verhalten daran, sich in Geduld zu üben. Wenn das nur nicht so schwer wäre.. Seltsam war dieses Gefühl, seltsam und neu und so groß, dass es sie manchmal schauderte, weil sie erst erahnte, wie sich alles veränderte. Dauernd vergaß sie, warum sie weshalb irgendwohin unterwegs war, hielt beim Kräuter schneiden inne und starrte ewig die Wand an, wurde rot wenn dieser eine Name fiel und entwarf komplizierte Winkelzüge, um sich davonzustehlen und ihn an unverfänglichen Orten zu treffen, versteckte Briefe und las Briefe. Und dann schauten sie einander anfangs kaum an, ehe sie es meist doch noch schafften, sich mittels eines Spiels zum Reden zu bringen. Und er war so anders und so ehrlich und so überzeugt von allem, was er tat. Er versuchte überhaupt nicht, sie irgendwie zu beeindrucken und das beeindruckte sie am allermeisten. Und dieser Pilz, beim Ganterfest! Und die Erdbeeren! Sie hatte es nicht geschafft, seine Erdbeeren aufzuessen und sie erst weggeworfen, als sie schon schimmelten und sogar die Magd sich darüber lustig machte, was sie denn mit dem verdorbenen Obst wollte.

Da war die eine Gwendolyn, die durch den Tag ging wie sie immer durch die Tage ging und tat, was sie sollte, studierte, was sie wollte, ging, wohin ihre Schritte sie lenkten, freundlich grüßte und artig im Verkaufsraum stand. Sie interessierte sich für die politischen Schachzüge, die in der Stadt vor sich gingen und horchte auf, wenn die Sprache auf andere Familien kam, war bei der Sache und sich ihrer Position bewusst, in der Öffentlichkeit besonnen und vorsichtig. Und dann war da diese andere, deren Gefühlsspektrum ein Farbtopf war, der sich mit einem Lidschlag von sonnengelb zu tiefschwarz wandeln konnte und deren Emotionen von einem Augenblick zum nächsten schwanken konnten. So glücklich und so zornig war sie selten in derlei kurzen Abständen wie diese Tage. Was Jähzorn war, das wusste sie schon, dafür hatte sie oft als Kind büßen müssen und war auf ihr Zimmer geschickt worden oder übers Knie gelegt, wenn sie einem anderen Kind gegen das Schienbein getreten war oder sich auf eine freche Cousine gestürzt hatte, die es gewagt hatte, sich über ihre vielen Sommersprossen zu äußern. Cousine Alma fehlte immer noch ein Schneidezahn und sie hatte Gwendolyn bis zum heutigen Tag nie verziehen, dass sie ihr mit 12 ins Gesicht geboxt hatte. Es tat ihr nicht leid. Das war natürlich sträflich und sie musste solche Gefühle regelmäßig beichten, aber es tat ihr selten leid. Das sagte sie bei der Beichte aber nicht.

Aber das war alles nichts im Vergleich zu der unmäßigen, großen Wut die sie ergriffen hatte, als Viktor, ihr 13 Tage älterer Vetter Viktor, es gewagt hatte, samt seiner roten, erzpriesterlichen Robe ins Haus zu rauschen, um ihr seine haltlosen, bösartigen Vorwürfe ins Gesicht zu schleudern. Gwendolyn brüllte ihn an, Mithras solle ihn strafen, wenn er glaubte, sie ließe zu, was er behauptete. Beweisen sollte er sich, ihr Verehrer, beweisen, so schmetterte ihr Vetter seine Forderungen in den Raum. Gwendolyn dämmerte, dass nichts, was dieser tat, je gut genug für Viktor sein könnte. Wegen ihr hatte er sein Noviziat aufgegeben, das machte Viktor ihr zum Vorwurf. Aber was konnte sie denn dafür?! Sie war die Letzte, die so etwas fordern würde, mit der Hälfte ihrer Verwandtschaft im Dienste Mithras‘. Aber da war wohl nur Platz für eine Liebe. Sie hatte nichts Ehrenrühriges getan und war sich keiner Schuld bewusst. Gwendolyn flüchtete sich in schweigende Ignoranz und würdigte ihren Vetter, den Erzpriester, keines Blickes mehr, sondern starrte in ein Buch, als lägen dort die Lösungen für jegliche Probleme.

Anabella hatte gesagt, Viktor wäre neidisch, wollte Kontrolle, aber jedenfalls das für Gwen, was er für das Beste hielt. Sie war sich da nicht so sicher. Wenn sie ihre Gedanken ließ, formierten sie sich eher zu einem „Er kann selber nie solches Glück empfinden, dieser kalte Fisch und darum neidet er allen das ihrige.“ Sie verbot sich das meistens, Familie war Familie, auch wenn man sich manchmal fühlte, als würde man seiner Familie an den Kragen gehen wollen. Viktor und sein Noviziatspendant Albert hatten es wieder geschafft, sie zu einem erbosten Rachebündel zu machen, das Januschs sorgfältig gearbeitete Kisten zuknallte, mit den Türen warf und Viktor still und zornentfesselt Gefühle an den Hals wünschte, als wäre das die größte Gemeinheit der Welt. Aber so ging das nicht, Kaspar und Anabella hatten Recht. Sie musste Geduld lernen.

Als sie sich die grüne Paste aus dem Gesicht wusch, schwor sie sich, durchzuhalten. Er würde sich schon noch beweisen. Sie würde mehr Geduld als Viktor an den Tag legen. Ein Handspiegel brachte die Enttäuschung. Die Sommersprossen waren immer noch da. Geduld..
Gwendolyn saß zusammengekauert im stockfinsteren Schlafraum und stellte sich tot. Endlich ließ man sie in Ruhe. Sie versuchte, sich nicht mehr zu bewegen, selbst ihr Atmen so leise werden zu lassen, dass man sie nicht hier im Dunkeln vermutet hätte, käme man die Stiege hoch. Sie wünschte sich Schlaf herbei, aber Mithras erhörte sie nicht.

Der Tag hatte so aussichtsreich angefangen. Gloria war ihr auf der Straße begegnet, hatte sich zu Gwen an den Tisch gesetzt und sie hatten sich über Löwenstein und die Welt, ihre Familien und deren Unähnlichkeiten unterhalten. Nachdem Gloria gegangen war, hatte sie sich zu den Feldern aufgemacht. Unruhig wie Gwen die Tage war, mit dieser beständigen Getriebenheit, arbeitete sie zusätzlich auf den Feldern und goss die Pflanzen, wenn Rowan auf der Jagd war. Siedend heiß fiel ihr dort die Koppel ein – hatte die Magd heute die Tiere gefüttert? Sie beeilte sich, mit einem Arm voll Hafer und einem Sack Karotten, dem nachzugehen. Beleidigt muhte, gackerte und mähte es ihr entgegen. In ihrer talerisbedingten Kopflosigkeit ließ sie das Gatter einen Augenblick zu lang offen. „Dämon! Du bösartiges Huhn!“ Hühner mussten die von Mithras am wenigsten geliebten Geschöpfe sein, das stand fest. Sie waren das Böse in Federngestalt. Das so angesprochene Untier flatterte ein paar Schritte weiter und beäugte die Mühen seiner Herrscherin nur mit höhnischem Kopfgewackel. Gwen ging in die Hocke und versuchte es erst mit Zuckerbrotsätzen zu locken, dann mit peitschenden Worten zu schimpfen. Sie wusste nicht, wie lang er ihr schon bei den vergeblichen Versuchen, das entfleuchte Ungetüm zu packen, zugesehen hatte; lange genug jedenfalls.

Die zufällige Begegnung war ein seltener Glücksfall. Der Ordenshof lag gleich neben der Koppel, die Stadtmauern waren kaum zu sehen von hier. Es bedurfte keiner besonderen Überredungskünste, um Gwen einen Spaziergang anzutragen. Das Wetter war herrlich, ihre Arbeit getan und er hielt sogar einen Picknickkorb in Händen. Die Verlockung, endlich einmal ungestört sein zu können, die Aussicht darauf, in die ewig schüchternen, so oft zu Boden blickenden Augen schauen zu dürfen taten ihr Übriges. Ein Stück vom Hof entfernt suchte Gwen einen Baumstamm zum Sitzen am Fluss aus. Die Zweisamkeit war süß, unschuldig und von kurzer Dauer. Das höchste der Gefühle wurde ihr mit seiner linken Schulter an ihrer rechten beschert. Ehe sie überhaupt Gelegenheit hatten, der Schüchternheit Herr zu werden, brach die Nacht herein und Albert durchs Dickicht.

Steif und ausgemergelt, streng und trocken wie immer beendete er den Zauber. Als wäre das nicht genug der Scherereien, kündete ein dumpfes Geräusch von Hufen auf dem weichgetretenen Waldboden von Konrads Annäherung. Gwen versuchte fiebrig überlegend, ihre Gedanken in Ordnung zu bringen. Mit Albert alleine wäre sie spielend fertig geworden. So weltfremd wie ihr Vetter aufgewachsen war, hätte man ihm schon eine Geschichte auftischen können, die halbwegs glaubwürdig klang. Sein Misstrauen wäre zwar dennoch erregt worden, aber Konrad – Konrad war ein anderes Kaliber und aus deutlich härterem Granit geschlagen. Die Lügen verließen Gwendolyns Lippen mühelos. Sie fabulierte hitzig das Blaue vom Himmel herunter, während Taleris in Schockstarre gefallen zu sein schien. In Windeseile stand das kümmerlich zusammengezimmerte Lügengebäude. Sie behauptete steif und fest, die Farne hier am Flussufer ausgesucht zu haben und auf einer alchemistischen Expedition zu sein. Sollten sie ihr das Gegenteil beweisen! Taleris fungierte, so schwindelte sie weiter, dabei als ihr Beschützer, denn wie jeder wisse streunten Wölfe durch diese Gefilde. Ob Albert das schluckte, war nicht zu sagen, aber Konrad glaubte ihr kein Wort und herrschte sie an, ihm zu folgen. Einen Lidschlag lang erwog sie, sich einfach zu weigern. Der nächste, der zu wissen glaubte, was sie zu tun habe! Sie hätte ihnen allen vor die Füße kotzen mögen. Aber noch fand sie genug Selbstbeherrschung in sich und beschloss, Konrads Worten Folge zu leisten. Wie sie ihn kannte hätte er sie auch gegen ihren Willen aufs Pferd gesetzt. Taleris blieb zurück, zurück mit Albert. Sie beneidete ihn fast darum, und gleichzeitig regte sich auch Zorn auf ihn in ihr. Warum wehrte er sich nicht? Sie taten doch nichts Verbotenes.

Der Heimweg war eine Kette aus Unannehmlichkeiten. Sie wollte ihnen nicht schon wieder Gelegenheit geben, sie als unerwachsen abzustempeln, weil ihr der Geduldsfaden riss. Aber Konrad machte es einem nicht leicht. „Der will dir ein Kind machen, das ist ein ganz übler Schlingel!“ – „Wieso sollte er ein Kind wollen?! Wovon beim Lichte sprichst du?!“ – „Hat dir deine Mutter überhaupt nichts beigebracht?!“ – „Lass mich in Ruhe!“ – „Der will dir unter den Rock!“ – „Mein Rock gehört mir! Und du hast keine Ahnung! Das ist der wunderbarste Mensch und du verstehst nichts, nichts, nichts!“ – „Der tut nur so, glaub mir das, ich weiß das, ich war auch einmal ein junger Mann! So machen wir das eben!“ – „Bring mich sofort nachhause, du verstehst GAR NICHTS!“. Er drehte ihr beständig das Wort im Mund herum, es war ein Kampf gegen Konrads unbewegliche, starre Gedankenwindmühlen.

Man hätte vermuten können, die vertraute Umgebung daheim könnte zu einer Einigung führen, aber es wurde nicht besser. Versuchte sie, Taleris‘ Wesen zu schildern, sprach Konrad von der angeblichen Zwielichtigkeit des Ordens. All die Geduld, die sie zuvor so mühsam angespart hatte, auf die sie sich so gern besonnen hätte, zerrann ihr unter den Fingern. Setzte sie dazu an, den Aspekt des niedergelegten Noviziats zu erklären, brüllte Konrad außer sich vor Zorn wie ein rachedurstiger Richter: „Pflichtverletzung! Verrat! Und das nennst du ehrenhaft?“ Er sah aus, als wollte er ihr im nächsten Moment eine Ohrfeige geben. Gwen starrte ihn herausfordernd an, wollte ihm zuvorkommen und schlug ihn aufspringend gegen die Schulter. Aber Konrad war ihr an Jahren, Gewicht und Kampfausbildung überlegen – es kostete ihn nicht einmal den Schmerzenslaut, der Gwendolyns Bedürfnis, ihm wehzutun, wenigstens ein bisschen befriedigt hätte. Es war gleich. Sie kannte noch andere Mittel. Wie ein Schleier legte sich das Rot über ihre Augen, trug der Jähzorn sie fort. „Ich nenne das Ehrlichkeit! Ehrlichkeit zu sich selbst, Ehrlichkeit seinem Herz gegenüber, aber auch davon verstehst du nichts, denn du hast ja keins, in deiner Brust muss ein Klumpen Stein wohnen!“ Alles was danach kam, war nur noch Rauschen. Kaspar, der irgendwie Ruhe in die Lage brachte. Konrad, der den halbherzigen Versuch machte, seine Worte zu erklären, sein düsteres, bärtiges Gesicht, und die Worte, die nur wieder bei ihrer Schuld endeten.

Sie wünschte sich ein Mittel zur Selbstbetäubung, aber sie kannte keines. Sie wünschte sich verzweifelt wenigstens Wein, aber es gab keinen. Die Zeiten zu schlecht, der Preis zu hoch. Sie wollte sich selber nicht mehr spüren.
Im Morgengrauen schleppte sich Gwendolyns rotbeschopfte, spargelige Gestalt durch den Herbstnebel. Bei jedem gemächlichen Heidschnuckenquäken, jedem Eichelhäherrätschen beschleunigte sich ihr Tempo zu langen, überhasteten Schritten. "Lucius kommt dich holen!", so hatte ihr der Geist von Lena in der unterkühlten, eisigen Stube, die so schön hergerichtet gewesen war für Anas Geburtstagsfest, versichert.

Eine wabernde, durchsichtige Gestalt war's gewesen. Gwendolyn hatte vergessen zu fragen, wer Lena eigentlich war. Ihr erster Impuls war gewesen, den Mithrastempel aufzusuchen, wo sie sich sicher wähnte vor allem Übernatürlichen, Bedrohlichen. Die Aussicht aber, die tröstliche Wärme zu verlassen, die sich nach dem Abzug dieses DINGS wieder ausbreitete und sicherlich nicht allein durchs Feuer, sondern durch die Anwesenheit anderer, lebendiger Menschen bedingt wurde, verbot sich von selbst. Man ließ ihr die Wahl, niemand drängte sie, aber unausgesprochen stand im Raum, dass sie verrückt wäre, spätnachts, mutterseelenallein und bedroht von der Aussicht, von ihrem toten Bruder in dieses andere Reich geholt zu werden, den Weg nach Löwenstein anzutreten. Sie fügte sich in ihr Schicksal. Mithras würde sie auch inmitten eines Schreines von Mondwächtergläubigen erhören, das blieb zu hoffen. Ana war da, niemand wollte ihr etwas Böses. Halb erstickt vom intensiven Wolfsfellgeruch und an Ana gedrängt versuchte sie, Schlaf zu finden. Angst und das schlechte Gewissen vor ihrem Gott versuchten, sie daran zu hindern. Gwendolyn kannte elaborierte Gebete, hatte oft mitangehört, wie Albert, Zerline oder Viktor theologischen Austausch betrieben und mithrasgefällige Gedankenburgen errichteten in ihrem gelehrten Elfenbeinturmreich, aber alles, was ihr in dieser Nacht durch den Kopf ging, war das erste Gebet, das sie je gelernt hatte.

Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe meine Äuglein zu
Vater, lass die Augen dein
Über meinem Bette sein