Arx Obscura

Normale Version: Das Tier in mir
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Es ist ein lauer Abend, als er sich unauffällig durch die große Steinstadt bewegt. Mit jedem Mondwechsel scheint die Stadt mehr auf ihn zu wirken. In Anbetracht der Zeitspanne das letzten Füllen und Leeren des Mondes, ist die Veränderung regelrecht einschlägig. Er muss nicht um die Straßenecke biegen, um zu wissen, wie viele Menschen in der Taverne sitzen. Die teils gemurmelten, teils regen Unterhaltungen hört er bis hierher. Wenn er sich näher wagt, könnte er selbst blind bemerken, ob Hübschlerinnen anwesend sind, wann sie das letzte Mal einen Freier hatten und wie viel Zeit seit ihrem letzten Bad vergangen ist. Die gelben, im Wind schwingenen Bänder haben ihren eigenen Geruch: Man riecht die billigste Farbe, die der Markt her gibt, so weit verdünnt, dass sie noch zu erkennen ist. Der Stoff ist aus alten Lumpen und windet sich meist starr um den Oberarm der käuflichen Mädchen. Ihm ist nach keiner von ihnen, selbst wenn die zweite Stimme nach etwas Zerstreuung ruft. Warum nicht etwas von der Kraft heraus lassen? Selbst wenn sie dich nicht aushält, lässt es sich als Berufsrisiko abhandeln.

Aber stattdessen führen ihn die schweren Schritte weiter die Gasse entlang. Unbemerkt biegt er an dem Torbogen in den Innenhof. Ein weiterer Geruch lockt seine Sinne und er lässt sich schwerfällig gegen die niedrige Mauer sinken. Mit geschlossenen Augen und geblähten Nüstern bemüht er sich das Wahrgenommene zu identifizieren, wissend, dass seine Iris hinter den Lidern gelb sind und die Pupillen zu Schlitzen geformt. Der Geruch bring ein flüchtiges Bild in seinen Kopf, einer der älteren Wachmänner, der auf der anderen Seite der Mauer seine Wacht hält. Er tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Das Scharren auf dem Pflaster ist laut, so man sich darauf fokussiert. Unbewusst erinnert er sich an die Duftnote, die er beim Durchqueren des Tores aufgeschnappt hat. Kalter Schweiß, gemischt mit dem dezenten Muff von lang getragenen Hosen. Das verspricht Unruhe und ein Geheimnis. Ob er sich nach seiner Schicht wieder mit der Stallmagd trifft, nach der er sich heimlich verzehrt? Daher gründet wohl das plötzliche Klimpern von Schmuck, das der Mann in seiner Tasche trägt. Ob sein Umwerben Früchte trägt? Weiß seine Ehefrau von der anderen Frau, die denkt, er wurde vom Hauptmann zum Berichte schreiben gezwungen?

Ein Schmunzeln gleitet über seine Züge und er stößt ein selbstgefälliges Grollen aus. Unter dem Gestank von Pisse, Schweiß, Rauch, getragenen Stiefeln, Moder, Staub, Abfall und viel zu wenigen Spuren von Parfum, erzählt die Stadt manche Geheimnisse, wenn man denn gewillt und fähig ist, sie zu ergründen. In den letzten Tagen hat er viele aufgedeckt, willentlich und unwillentlich, während sein Ziel eigentlich ein völlig anderes ist.

Ah da ist sie. Er muss sich keinen tiefen Atemzug gönnen, um ihre Ankunft zu riechen. Sachte und möglichst geräuschlos sinkt er an der Mauer bis in die Hocke und drückt das breite Kreuz dagegen. Sie schlendert die Gasse hinunter, mit einem Körbchen unter Arm, gefüllt mit Kräutern. Da sie spät dran ist, fallen die flüchtigen Grüße an die Nachbarn knapp aus.

Wo warst du so lange? Ich habe auf dich gewartet. Er ballt die Hände zu Fäuste und atmet tief und beherrscht durch. Blinzelnd öffnet er die Augen, spürt jedoch die Sensibilität, die ihm verrät, dass sie noch seinem Jagdinstinkt folgen. Das Kribbeln in seinem Nacken verrät ihm, dass sie sich gewohnheitsbedingt umsieht, bevor sie ihr Haus betritt. Sobald sich die Türe öffnet, genehmigt er sich einen tiefen Atemzug aus ihrem Leben. Süß, unschuldig und doch kokett und geheimnisvoll. Sie verbirgt so viel, ohne sich dabei große Mühe zu geben, aber gibt es überhaupt jemanden, der bereit ist weit genug zu graben, um ihren Geheimnissen gefährlich zu werden?

Er kann das Zusammenzucken nicht unterdrücken, als die Türe ins Schloss fällt. Für einen Moment herrscht in seinem Kopf geordnete Ruhe. Alles andere wird ausgeblendet, während er sich vorstellt, wie sie ihre alltägliche Routine bewältigt, den Mantel ablegt, das Körbchen abstellt. Sobald sie aus den Stiefeln geschlüpft ist, leert sie ihr Körbchen aus und verstaut die Kräuter fein säuberlich an den richtigen Orten. Ihm ist bewusst, welcher Tag ist, weswegen er sich mit einem unwilligen Schnauben erhebt und die Kapuze tiefer ins Gesicht zieht. Es wird Zeit aufzubrechen, bevor sie sich ein Bad einlässt, denn das Plätschern von Wasser, wenn ihr zierlicher Körper die Oberfläche aufwühlt, ist zu viel für ihn. Der Zorn in seinem Inneren baut sich bereits auf, da er seinem Verstand versagt, wonach er sich gierig sehnt.

Es wird Zeit sich die Füße zu vertreten, weit draußen, wo du keinem gefährlich werden kannst, mein pelziger Freund. Vielleicht eines Tages, wenn die Ruhe zurück kehrt. Vielleicht eines Tages..
Sadismus

Der Geruch am Morgen im Wald löst eine lang vergangene Erinnerung bei ihm aus. Das sommerliche Wetter des letzten Mondlaufes hat ausgesetzt und die kühle Luft brachte Regen, der frühmorgens Feuchtigkeit in das dunkelbraune Fell legt. Gemischt mit dem Geruch nach Moos und Rinde, der so viel intensiver erscheint nach dem Erwachen, lockt es die Empfindungen jenes Tages aus ihm. Während sich das Fell gemächlich und bereitwillig zurück zieht und aus dem Waldbewohner wieder ein Mann wird, der bäuchlings und blank auf dem Waldboden liegt, zucken Fetzen von Eindrücken durch seinen Verstand, die den Wolf in ihm aufgrollen lassen.

Ich ging auf die sechzehn Sommer zu und befand sich auf dem Heimweg von dem wöchentlichen Handel auf dem Marktplatz. Selbst zu so früher Stunde war der gepflasterte, schmuddelige Platz voller Leute. Es herrschte ein reges Gedränge und Geschrei, aber nichts daran konnte mich von der jungen, bald erwachenden Frau ablenken, die soeben an einem Stand mit Edelsteinen inne hält. Ihre Miene ist zugleich fasziniert wie verbittert. Sie kann sich keinen der Steine auch nur ansatzweise leisten, geschweige denn tragen. Ihre einfache Kleidung verträgt sich nicht mit wertvollem Schmuck, aber die Gewissheit darum, wischt ihr nicht die Verträumtheit aus dem Gesicht. Ihr Haar ist honigblond und eine zarte Morgenbriese schickt ihren Geruch in meine Richtung.
Sie bemerkt es nicht, als ich mich ihr näher, denn Rempeleien und ungewollten Berührungen lassen sich nicht vermeiden, an diesem hektischen Ort. Es geht um Gold und Silber, was für den Großteil Macht und Glückseeligkeit bedeutet. Für mich ist es nur ein notwendiges Übel. Meine Definition von Macht steht vor mir und, während sie die Lippen aufeinander presst, frage ich mich, ob sie es unbewusst macht. Vielleicht tut sie es, wenn sie Lust oder Schmerz empfindet ebenso? Ich komme ihr so nah, dass sie meine Wärme und Verlangen spüren müsste. Nur ein kleines Vorbeugen und ich könnte den zarten Nacken küssen, ein Recken der Hände und ihr zierlicher Busen, der dabei ist ihr Mieder zu füllen, läge in meinen Händen. Die zarten Ansätze ihrer Kurven heben und senken sich, während sie verträumt die Steine ansieht. Es ist ein Blick, der mir für alle Tage verwehrt bleibt, denn niemand akzeptiert so ausgeprägten Sadismus. Wenn die Frauen wegen meiner Erscheinung nicht bereits Furcht verspüren, dann spätestens, wenn der markdurchdringende Blick sie trifft. Ich genießt es, wenn ihr Atem rascher wird, der Puls sichtbar an dem zarten Hals rast und sie sich zwischen Neugierde und Vorsicht winden. Das ist meine Art von Macht.
Ein Käufer neben ihnen reckt den Arm, der von Brandspuren gezeichnet ist. Der Fremde fasst wie selbstverständlich einen blutroten Rubin in die Finger und zeigt ihn dem Händler. »Wie viel nimmst du dafür?« Ihre Augen folgen der Geste, während sie leicht zurück weicht, als der bereitwillige Käufer sich weiter an die Auslagen schiebt. Während ihr Hintern gegen meine Lenden stößt, höre ich sie ausatmen. Aber es hat nichts mit der Beschämung über das zu tun, was sich unter dem ausgeleierten Leder meiner Hose abzeichnet, sondern mit der Erkenntnis, dass sie hier nichts zu suchen hat. Ich sauge ihren Schmerz darüber, dass ihr solche Reichtümer nicht vergönnt sind, in mich auf wie ein Schwamm. Sie dreht den Kopf, als sie sich zum Gehen wendet und einen Moment kann ich einen Blick in die meerblauen Augen erhaschen. Pein steht so ehrlich darin, dass es mich fast an die Kante treibt. Ich lasse sie nicht an meinen Gedanken teil haben und wende mich ab. Meine Schritte führen mich zum Wald, der nach Morgentau riecht. Eine frische Brise streicht mein Gesicht, während ich grinse.


Er grinst immernoch wie der junge, unwissende Kerl auf dem Marktplatz, als die Gedanken in den Körper zurück finden. Langsam rafft er sich auf und blickt sich orientierend in dem Waldstück um.
Schon wieder hast du mich an diese Stelle geführt. Weshalb? Weil sie dort drüben meistens nach Kräutern sucht?
Ungeniert geht er auf alle Viere und richtet witternd die Nase aus. Mit gelben Augen sucht er den Boden ab, bis er sie schließt und seine Sinne arbeiten lässt und tief einatmet. Hier ist sie entlang gelaufen, mit vorsichtigen Schritten, denn wer weiß, was der Waldboden bereit hält oder wer ihre Schritte hören könnte. Wie jedes Mal sinkt sie weich auf beide Knie und stellt das Körbchen ab, aus dem sie ihr Messer nimmt. Es ist nicht einmal scharf genug, um sich damit gegen einen Angreifer wehren zu können, aber für die empfindlichen Stängel der Kräuter perfekt. Zärtlich hält sie die Blüte in der Hand, um sie nicht zu beschädigen. Und dabei sind die weichen Finger so viel verdorbener, als sie es zeigt. Ich drücke die Nase in die feuchte Erde und knurre unzufrieden. Der Regen hat ihre Spuren fast verwischt, sonst könnte er riechen, aus welchem Material ihr Rock ist, wann sie sich das letzte Mal gewaschen hat, oder wie der Kerl stinkt, der sie besucht.
Der Wolf bäumt sich auf und will ihn überzeugen, zu ihr zu gehen. Er ergötzt sich an dem Sadismus. Hat es tatsächlich erst einen Fluch gebraucht, bis er jemanden fand, der seine Perversion akzeptiert? Oder ist es überhaupt ‚jemand‘ anderes? Schlummert nicht vielmehr ein Instinkt in ihm, der rein animalisch denkt, er kann die Frau markieren, indem er sie als sein Revier markiert?
Er lockert die mentalen Zügel, die er der rohen und wilden Seite seiner Selbst auferlegt hat und gibt sich der Gier hin. Was kann es schon schaden, nach ihr zu sehen. Nur um zu sehen, ob es ihr gut geht und sie wohl auf ist. Dabei weiß er genau, dass er nur darauf hofft, Schmerz und Verzehrung zu sehen. Mit jedem Mal, wenn ihr Geruch in seiner Nase kitzelt, bröckelt die mühsame Beherrschung etwas mehr. Und wenn schon?
Da liegt das Problem des Sadismus, er nährt sich an Egoismus.
Du hast ihre Fährte verloren, Wolf, raunt der Mensch in ihm tadelnd zu seiner animalischen Seite. Er erwartet keine Antwort, denn er wird keine erhalten. Der Wolf gehört genauso zu seiner Persönlichkeit wie der Mensch, der vor zwei Jahresläufen verschluckt wurde und zu einer weitaus abyssähnlicheren Gestalt wurde. Aber ganz gleich, wer von den beiden Recht hatte, die Fährte war tatsächlich fortgewischt. Nur wohin? Der Sommer brachte schwüle, lang anhaltende Hitze und die Mondwächter hatten wohl Chronos erzürnt, dass er ihnen keinen Regen gönnte. Schnaubend bewegt sich der Pelzträger aus der direkten Sonne, die ihm den Pelz regelrecht versengt. Im Schatten der Bäume sucht er emsig weiter, nur um resigniert nachzugeben. Sie sammelt hier nicht mehr. Entweder hat sie ihre Route geändert oder sie ist verschwunden, wie ein Großteil der arroganten Löwensteiner. Blos, dass er sie nie für eine solche gehalten hat. Denkst du ihre Verdorbenheit hat sie eingeholt? Spürte sie deine wieder erwachende, krankhafte Beobachtungssucht?
Unzufrieden jaulend lässt sich der Wolf bäuchlings ins dürre, pieksige Gras sinken und legt den großen Kopf auf die Vorderpfoten. Die Hitze macht ihn müde, vor allem, da ihm seine Motivation genommen wurde. Du findest schon einen neuen, interessanten Geruch, dem du hinter her jagen kannst. Mit einem Schnauben wird ihm bewusst, dass er das mehr als nötig hat. Er braucht dringend Ablenkung, jede Faser seines Körpers schreit danach. Die kurze Ruhe im Wald ist bereits schon zu viel. Er springt auf und flitzt weiter nach Thalweide, während er den kühlenden Laufwind im Pelz und im Gesicht genießt.
Als er unbewusst an einer schmerzlich bekannten Stelle an der Küste vorbei kommt, schnaubt der Waldbewohner wütend auf. Alles erinnert ihn an die Wandlung des Welpen, seines zweiten Welpen, bei den Göttern. Rasch beschleunigt er wieder und hetzt sich ab, bis ihm vor Wärme die Zunge aus dem Maul hängt. Am Ufer eines Teichs hält er inne und trinkt gierig das trübe Wasser. Die Ohren zucken wachsam empor, ehe sich der Kopf überhaupt hebt und seine Sinne recken sich nach den Geräuschen in der Nähe. Eine Klinge, der die Zuwendung eines Schleifsteins gut tun würde, bemüht sich einen Kräuterstengel abzusäbeln. Dann erklingt ein dezentes, erfreutes "Oh", bevor die Kräutersammlerin die wilde Zuckerrübe entdeckt, die der Wolf schon längst gewittert hat. Jedoch riecht die Frau viel süßer, als es die Rüber jemals zu Stande bekommen könnte. Er kennt ihren Geruch und am Liebsten würde er das miese Spiel des Schicksals verhöhnen, wenn er die Ablenkung nicht so dringend nötig hätte.
Rasch senkt er den Kopf wieder, als die Suchende den Kopf hebt. Sie hat lediglich einen Vogel gehört, der sich aus seinem Platz aus dem nahen Baum erhebt. Es müsste schon ein Wunder geschehen, dass sie den Wolf am anderen Ufer bemerkt. Vermutlich könnte er sich ihr bis auf zwei Schritte nähern und sie wäre noch immer unwissend und taub für seine Bewegungen. Langsam und ohne jede Hast umrundet er den See, um sich ihr langsam zu nähern. Nebenher ergötzt er sich an der Fährte, die sie hinterlassen hat, während sie an dem nahrhaften Ort nach Kräutern umgesehen hat. Und tatsächlich war sie erfolgreich bei der Suche. Das Körbchen, das sie am Unterarm trägt, quillt bereits über und die vermischten Aromen der frischen Kräuter sind zu viel für seine empfindliche Nase. Zumal er viel lieber den Geruch genießt, den sie verströmt. Zarter Schweiß strömt ihr aus den Poren und benetzt das dünne Leinen an ihrem Körper. An ihrem Nacken und Rückrad ist der Geruch besonders intensiv. Der zarte Wind, der gelegentlich unter den Rock schlüpft, sorgt wenigstens an ihrer Mitte, dass sie nicht so verlockend wie ein Feld reifer, saftiger Erdbeeren riecht. Warum sie ein Korsett trägt, dass ihre schönen Rundungen in Form setzt, wird er nicht erfahren. Das Leder muss ihr bei der Hitze regelrecht die Luft abschnüren. Sie hat Durst, ihre vollen Lippen sind trocken und das Gras raschelt, als sie sich am Ufer hinkniet und Wasser in die zierlichen Hände schöpft. Das Bild, wie sie dort kniet und erleichtert seufzt, als das kühle Wasser ihre Lippen und Kehle streicht, ist fast zu viel für ihn. Zu allem Überfluss schöpft sie sich Wasser in den Nacken, wobei sich zarte Rinnsale nach vorne wagen und an ihrem Dekoletee entlang fließen, dank ihrer nach vorne gelehnten Haltung.
Er muss den Gedanken nicht in Worte fassen, dass er dringend verschwinden sollte. Der Anblick reizt die Fantasien und die Gier des Menschen zu sehr und wenn er sich noch länger in ihrem Anblick wälzt, wird ein nackter Kerl hinter ihr stehen, wie ein Perverser. Ein Luftzug trägt den Geruch ihres Haares zu ihm und es trifft ihn wie ein Peitschenhieb. Ungeachtet der Tatsache, dass sie das davon laufende Tier hören kann, wendet der Wolf auf dem Fleck und flitzt durch den Wald davon. Er rennt in die entgegengesetzte Himmelsrichtung, bis ihm die Pfoten brennen und er erschöpft zusammen sinkt. In seiner Nähe wittert er die kühle Luft einer einladenden Höhle und er nimmt sich vor, sich aufzuraffen und dort zu ruhen, bis er in den menschlich anmutenden Körper zurück findet.
Er hasste die Nächte um den Neumond. Während jeder Werwolf, dessen Vernunft noch ausgeprägt genug ist, jene Nächte begrüßt und sogar darauf hin fiebert, sieht das bei ihm anders aus. Die menschlichen Instinkte werden stärker und es fällt leichter in der 'eigenen' Haut zu bleiben. Zu gerne klammern sich die meisten Werwölfe an ihre menschliche Gestalt, versuchen sie gar krampfhaft zu erhalten und sehen es als Schwäche an, dem Wolf Freilauf zu geben. Zu Neumond gelingt die Rückverwandlung nur allzu leicht. Bei ihm ist das anders.

Bei ihm sorgen die dunklen Nächte dafür, dass er nostalgisch wird. Er erinnert sich an das erste Mal, als er sich gewandelt hat. Seit der Vollmondnacht seiner Wandlung sind mittlerweile zwei Jahresläufe ins Land gezogen. Als ihm das – im Zuge seines Gedankengangs – klar wird, schnaubt er verächtlich. Die Stimmen seiner Leidensgenossen hallen in seinem Kopf nach, als wäre es gestern gewesen. Sie waren von Panik bewegt, klammerten sich an ihre pelzlose, schwache Gestalt, an ihre Prinzipien, ihren Glauben und an ihre Kleider. Ihre Wandlungen waren schmerzhaft und das brachiale Knirschen von Knochen, das Schnalzen von Sehnen und das Ein- und Ausrenken von Gelenken wird ihm ewig im Gedächtnis bleiben. Gut, seine Wandlung war ebenso wenig vorbildlich, aber er stemmte sich nicht mit aller Kraft dagegen, sondern begrüßte sie.

Warum sollte man etwas als Fluch bezeichnen, das einem die Freiheit gibt, nach der man sich unbewusst seit fast dreißig Jahresläufen gesehnt hat?
Das deutlich sichtbare Pochen der Herzen seiner Kammeraden unter den Pelzen war nicht zu übersehen und zu überhören. Sie waren hysterisch nach dem vollendeten Gestaltenwechseln, während er selbst nicht genug davon bekommen konnte, sich durch den Staub zu wälzen und dem Wind entgegen zu flitzen. So war es kein Wunder, dass die anderen sich rasch in ihre menschliche Gestalt zurück zwangen – beachtlicherweise trotz dem Vollmond in jener Nacht – und, noch immer panisch aber beruhigter, ihre Kleider zurecht strichen. Er selbst benötigte deutlich länger, um zu seiner Gestalt zurück zu finden, obwohl böse Zungen behaupten, dass er optisch die geringste Wandlung durch macht, und als er schließlich im Staub lag, war er nackt, wie ihn Branwen einst geschaffen hat. Wann hatten die Menschen eigentlich begonnen, sich für das Natürlichste der Welt zu schämen?

Zwei Jahresläufe. Zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis?
Er hat sie alle überlebt.
Nun, es war zu weit gegriffen zu behaupten, dass sie alle tot sind, aber sie sind derart unauffindbar, dass es kaum einen Unterschied macht. Und er hat wahrlich jeden, verfluchten Stein umgedreht, an dem der Fetzen von Pelz oder die Spur einer Markierung hing.
In den letzten zwei Mondläufen hat er sogar die Wolfsrudel in der Gegend abgeklappert und nach Anhaltspunkten gesucht. Oh, die Wölfe waren alles andere als erfreut über den Besuch. Daran konnte er schwer etwas ändern, denn, obwohl er nächtelang im Wald schlief und sich nur in Wolfsgestalt ins Wasser wagte, roch er immernoch nach Mensch.
Es fehlte nicht nur die Spur der Wölfe, die vor zwei Jahresläufen mit ihm 'verflucht' wurden, denn die Hoffnung für den grauen, den schwarzen und die blonde hatte er schon vor einer Weile an den Nagel gehangen. Vielmehr sucht er nach einem seiner Nachkommen, mittlerweile waren es schon zwei an der Zahl. Oder zumindest nach dem Silberstreif. Nicht der am Horizont, sondern der Sauberwolf mit dem penibel sauberen Silberfell.
Die einzige, die er über Meilen hinweg riechen kann, ist die Jungwölfin. Was wohl der Grund ist, weshalb er sich möglichst von ihr fern hält. Umso länger er von seinem Kerl getrennt ist, umso verlockender wird ihr Geruch. Sicher, er hat versprochen sie nicht anzufassen, aber derjenige, der die Forderung gestellt hat – der Vater der Jungwölfin – ist nicht aufzufinden. Er liebt seinen Kerl, aber es ist verdammt schwer, sich an den Gedanken zu klammern, wenn man von Versuchungen umgeben ist.
Die Wölfinnen in dem fremden Rudel hatten ihn umstriffen, als wäre er eine seltene Fleischsorte. Sie schnappten nach einander, wenn eine Rudelgenossin zu nah an ihn heran kam. Die Tatsache, dass er ihnen die kalte Schulter zeigte, machte es nur noch schlimmer.
Sein Kerl wird glühen vor Zorn, wenn er es nicht längst schon tut. In den zwei Jahresläufen hat er sich einiges zu schulden kommen lassen, aber für eine so lange Zeit ist er noch nie untergetaucht. Dadurch, dass er sich tagtäglich im Dreck wälzt, selbst in Menschengestalt kaum Stoff am Leib trägt und lebt wie ein Waldbewohner, macht er es für seinen Kerl regelrecht unmöglich, ihn aufzuspüren. Die Wolfssinne und Instinkte sind denen seines Kerls mühelos überlegen.

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Aber es ist Zeit aus seinem selbstauferlegten Exil auszubrechen. Er schiebt die Entscheidung seit Tagen erfolgreich auf und findet hier und da noch eine Spur – selbst wenn es eine Alte ist, der er schon nach gegangen ist – nur um dem Ernst des Lebens nicht ins Auge blicken zu müssen. Wie es aussieht steht er ein weiteres Mal sogut wie alleine da. Wobei sich die Frage stellt, ob es je wirklich anders war.
Er rafft sein Hab- und Gut zusammen, was im Prinzip nur die spärliche Bekleidung ist, die er am Leib trägt und krabbelt auf allen Vieren unter der Steinformation hervor, die sowas wie sein derzeitiges zuhause darstellt. Nur kurz muss er die Nase in den Wind halten, um die Fährte aufzunehmen, die er zwanghaft versucht zu meiden. Seine Brust krampft sich kurz unwohl zusammen und er verflucht den Neumond ein weiteres Mal. Wenn wenigstens Vollmond wäre und er sich auf seine animalischen Sinne stützen könnte.
Was ist die menschlichste Handlung, die du tun kannst, nachdem du den Pelz verlierst und in deine ‚wahre‘ Gestalt zurückfindest? Am Rücken kratzen? Essensreste aus den Zahnzwischenräumen kratzen? Bier trinken? Dreck unter den Nägeln hervor pulen? Warum nicht alles davon.
Es ist erstaunlich, wie sehr das Ablegen des Pelzes juckt. Als hätte er die ganze Nacht einen kratzigen Pelzmantel getragen. Kaum im eigenen Zuhause angekommen, reibt er sich mit dem nackten Rücken an dem Mauerbogen. Wie sehr er doch die kargen, unverputzten Basaltziegel in seiner Heimat zu schätzen weiß. Vermutlich hinterlassen die rauen Stellen sichtbare Kratzer auf der bloßen Haut, aber das ist nichts woran er sich stören muss. Bis er beim Spiegel angekommen wäre, um seinen Rücken zu betrachten, wären die Kratzer schon verheilt.
Der Vollmond in seiner vollen Pracht hat sich vor weniger als einer Stunde verzogen. Bis er sich ein Bier mit Schaumkrone gezapft hat und in eine Hose geschlüpft ist, erhellt bereits die Morgendämmerung den Raum. Er sackt auf den Teppich vor dem Kamin, prostet der Restglut des abendlichen Feuers zu und kippt einen Großteil des Bieres. Einige Tropfen rinnen am Mundwinkel hinab in den Bart und auf die Brust. Es stört ihn nicht, denn etwas Wildheit kocht noch immer in seinem Blut. Der starke Einfluss des Vollmonds lässt sich nicht nur auf eine Nacht beschränken und zu der Zeit ist es noch schwieriger den Schein zu wahren.
Der großgewachsene Mann zückt einen Dolch und beginnt unter den Fingernägeln zu pulen.

In den letzten Stunden hat sich getrocknetes Blut zu den Verunreinigungen hinzugesellt. Immerhin war das Blut seine Entscheidung, im Gegensatz zu der nassen Erde in der er früher am Abend gewühlt hat.
War es eigentlich noch Grabschändung, wenn sich vorher schon jemand an einem Grab zu schaffen gemacht hat? Was war großartig zurück geblieben außer Knochen, Staub und Erde? Da war weit und breit nichts lebendiges mehr, sonst wären seine korrumpierten Artgenossen nicht so hungrig gewesen. Vielleicht hatte er sie erlöst indem er die Stüpp getötet hat. Waren sie an den Ort gebunden durch ihren Meister? Waren sie auf lebensmüde Abendteurer angewiesen, die des Weges kamen und zu ihrem Abendessen wurden? Dennoch fühlte er sich schmutzig. Vermutlich haben die Stüpp nicht mal im Entferntesten mit seiner Rasse zu tun, aber dennoch stellte sich das Schuldgefühl ein. Oder ist es die Schuld gegenüber deren Meister? Hätte er ihre Erschaffung verhindern oder zumindest beeinflussen können?

Welche Gedanken ihn auch getrieben hatten, er versuchte das Blut der Stüpp mit dem von ebenso korrumpierten Menschen zu überdecken. Immerhin sind Banditen, Diebe und Piraten ein unerschöpfliches Gut in Ravinsthal, sodass er jede Nacht Beute findet. Aber egal wie viele Brustkörbe er zerfetzte, Gliedmaßen er abriss und Körper er wie Puppen gegen nahe Bäume und Felsen schleuderte, die Wut wurde nicht weniger.

Immer wieder holte ihn der intensive Geruch seines ehemaligen Freundes ein, der ihm heute wie Säure in die Nase stieg. Es ist wahrhaftig eine Kunst von ihm als Freund bezeichnet zu werden. Er war oder ist aufrechter Mann, der erst der Wildheit und dann dem Wahnsinn verfiel. Der vertraute Geruch verfolgte ihn durch Candaria und bis nach Löwenstein. Selbst dort konnte er ihn nicht abwaschen. Er musste den Geruch los werden und wenn das nicht möglich war, dann musste er einen anderen, intensiven Geruch finden, um den penetranten Gestank zu überdecken.

Der Geruch des Scheiterns. Der Geruch von missbrauchtem Vertrauen. Der Geruch von enttäuschten Erwartungen. War er nicht der Verantwortliche für die anderen gewesen? Hatte man ihm nicht diese Verantwortung übertragen? Er ist ein typischer Beschützer und eigentlich sollte es nicht zu viel erwartet sein, dass er auf seine Schäfchen achtet. Sie sind alle fort, verschwunden oder korrumpiert. Gute Arbeit. Herzlichen Glückwunsch.

Mit einem erbosten Knurren sticht er sich zu tief unter den Nagel. Er beobachtet wie der rubinrote Blutstropfen wie eine Perle hervorquillt und wächst. Bis die Blutblase groß genug wird, um zu platzen, verschwindet sie, als wäre sie nie da gewesen. Seine Haut regeneriert sich und der Schmerz ist nur ein verdrängter Wiederhall.

Verdrängen. Ablenken. Vergessen. Was bleibt ihm anderes Übrig als weiter zu machen in Gedenken an die anderen. Nur das aus seiner Ablenkung meist nichts Gutes gedeiht. Eine Ablenkung muss seinen Neigungen und Vorlieben entsprechen. Das hatte dieser Abend und die erste Vollmondnacht des neuen Jahres ebenfalls mit sich gebracht. Eine neue Ablenkung, ein neuer Geschmack, eine neue Besessenheit. Sicherlich ist es kein guter Vorsatz fürs neue Jahr an alten, schlechten Gewohnheiten fest zu halten. Ganz bestimmt nicht.

Vögel besingen zaghaft den neuen Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen wagen sich langsam über den Horizont. Er atmet erleichtert durch und spürt, wie der Druck der Mondnacht nachlässt. Zwölf Stundenläufe Tageslicht, um sich an die Vorteile des Menschseins zu erinnern. Er reckt die Arme in die Höhe und hört, wie ein Wirbel zurück an seinen rechtmäßigen Platz springt. Zeit für etwas Alltag. Er schlüpft in seine Arbeitskleidung und tritt nach draußen in die feucht-frische Winterluft. Der Wind trifft frech gegen seine Wangen, dort wo der Bart die Haut nicht schützt.

Er krempelt das Halstuch bis zur Nase hoch und zieht die Kapuze über den Kopf. Selbstverständlich nur als Schutz gegen das Wetter – redet er sich ein, als er sich unter den Sims eines der Fenster beim Nachbarhaus duckt. Laut-und mühelos klettert er an der Fassade hoch bis zu dem verhangenen Fenster, an dem der Geruch an Intensivsten ist. Nur ein Blick auf die Farbe des heutigen Nachthemdes – schwört er sich – dann würde er zum täglichen Geschäft aufbrechen. Nur einen Blick…