13.02.2017, 12:19
"Das werd' ich nicht zulassen, Nymea, niemals! Ich lass' es nicht zu! Ich lass' es nicht zu! Ich werd's nicht zulassen. Werd's nicht zulassen... nicht zulassen..."
Und während mein Körper sich unter Schmerzen zusammen krümmte, meine Arme vergeblich versuchten, die Tritte von meinem Bauch abzuwehren, fragte ich mich, ob er schon immer dieses keckernde Lachen hatte. Wie ein alter Ziegenbock. Und ob sein Lachen schon immer so verzweifelt klang, so falsch. Lachte er überhaupt oder weinte er? Waren das Tränen in seinem geröteten, aufgedunsenen Gesicht? Oder waren es meine eigenen, die alles ausser dem Schmerz hinter einem fiebrigen, flirrenden Schleier verschwimmen ließen? Als mein Arm unter einem letzten Tritt brach schnürte der explosionsartige Schmerz mir die Luft ab und ich stieß einen Laut aus, der fremd und zugleich vertraut in meinen Ohren klang. Ein bisschen wie ein brünftiger Hirsch. Ich hatte keine Kraft, um darüber zu lachen, auch wenn mir für einen Moment danach war. Zwischen meinen Beinen spürte ich warmes, klebriges Blut und wusste, dass meine Versuche, das Schlimmste zu vermeiden, fehlgeschlagen waren. Aber das machte nichts mehr. Ich wünschte nur, er hätte in diesen Minuten, die sich wie Stunden dahinschleppten, auch das restliche Leben aus mir heraus getreten. Aber er trat nicht mehr. Stattdessen nahm ich seinen undeutlichen Schatten aus dem Augenwinkel, am Rand zwischen Ohnmacht und Wachsein, irgendwo neben mir wahr. Er kniete sich hinunter und jetzt war ich mir sicher, dass er weinte. Der Gestank nach Alkohol, der aus jeder seiner alten Poren strömte, ließ mich würgen. Das war nicht mehr mein Vater, sondern irgendetwas Fremdes, etwas, das über die Jahre aus ihm geworden und nicht mehr Teil von mir war. Ich kann nicht genau sagen, woher ich die Kraft und Entschlossenheit nahm, seinem erbarmungswürdigen Dasein endlich ein Ende zu setzen, aber irgendwie fanden die Finger meiner linken Hand zittrig zur Lederscheide meines Jagdmessers. Der Rest ging wie von allein, aber meine Erinnerungen sind brüchig. Mal glaube ich mich zu erinnern, dass er mich angesehen hat - lächelnd und im Wissen, was geschehen würde. Dass er seine Brust dem Messer gar entgegen gelehnt hat. Dann wieder meine ich, dass er geschrien und sich wie ein Wahnsinniger gewehrt hätte. Letzten Endes jedoch ist das Ergebnis dasselbe. Ich hatte an diesem Abend zwei Menschen verloren - einen, den ich noch nicht kennen gelernt hatte und einen, den ich nicht mehr kannte. Dann umfing mich endlich gnädig die Ohnmacht, die noch viele Jahre lang anhalten sollte.
Sie ließ den Blick zum unzähligsten Male durch die geräumige Wohnstube schweifen und schnalzte, wie schon die Male zuvor, unzufrieden mit der Zunge. Sie hatte es geschafft, das leere Haus in nur wenigen Tagen zu einer behaglichen Heimat zu machen. Einem Ort, an dem man sicher war und sich wohlfühlen konnte. Wenn man denn die Bereitschaft dazu gehabt hätte, sich wohl zu fühlen.
Es war nicht so, als hätte sie mit voller Absicht nach einem Haar in der Suppe gesucht - dafür war ihr Wunsch nach ein wenig Ordnung, Normalität und Komfort mittlerweile zu groß geworden. Aber es gab ein Haar, dort irgendwo, und wann immer sie die Suppe der Zufriedenheit löffeln wollte, lag es ihr störend auf der Zunge. Sie konnte es nur nicht greifen. Vielleicht war es gar nicht mal das Haus an sich. Vermutlich war es auch gar nicht ein einzelnes Haar, sondern viele. Und vielleicht sollte sie sich die schlechten Vergleiche ein für alle mal abgewöhnen. Jedenfalls störte etwas den idyllischen Anfang ihres neuen Lebens und sorgte unweigerlich für eine innere Unzufriedenheit, die sie sich, wie vieles andere, zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zugestand. Noch vor wenigen Wochen hatte sie von der Hand in den Mund gelebt - ziellos, planlos, von einen Tag auf den anderen. Ihre Gedanken hatten einzig und allein dem Überleben gegolten. Nahrung, ein warmer Platz in der Nacht, an dem sie nicht zu erfrieren drohte. Es war erschreckend, dass sie sich eingestehen musste, dass sie dieses Los selbst gewählt hatte - für so lange Zeit. Nachdem sie das Haus ihres Vaters mit einem gebrochenen Flügel und von oben bis unten mit Blut besudelt verlassen hatte, hatte sie wie ein Tier gehaust. Oft im Wald, wenn das Wetter oder die Gegebenheiten es zuließen - mal in einer abgebrannten, baufälligen Hütte. Sie hatte gestohlen - was in Ravinsthal gewissermaßen zum guten Ton gehörte - und menschlichen Kontakt, abgesehen von ein paar oberflächlichen, körperlichen Begegnungen, sonst weitestgehend gemieden. Dabei war es nicht einmal die Angst vor den Konsequenzen an der Ermordung ihres Vaters gewesen, die sie in dieses Exil getrieben hatte. Niemand hätte der Leiche eines Säufers und Raufboldes nachgeweint, da war sie sicher. Es war vielmehr eine Flucht vor all den unangenehmen, quälenden Gedanken, die einen Menschen einholen, wenn zuviel Zeit es zulässt. Es war Schutz vor Enttäuschungen. Es war der Versuch, ihr Leben auf die simpelsten Dinge zu reduzieren, und damit zu eingenommen zu sein, um Zeit an nutzlose Gedanken zu verschwenden. Eine Weile lang war sie damit gut gefahren. Sie hatte gelernt, sich um sich selbst zu kümmern und sich durchzusetzen. Während sie als kleines Kind, als ihr Vater noch gearbeitet und für sie gesorgt hatte, sogar zu schüchtern gewesen war, beim Bäcker einen Krapfen zu bestellen, so ließ sie sich inzwischen von niemandem mehr die Butter vom Brot nehmen. Im Gegenteil. Sie hatte gelernt zu handeln, zu streiten, zu kämpfen - körperlich als auch geistig.
Was sie hingegen verlernt hatte war alles andere. Aber...
"Das Leben geht weiter."
Manchmal braucht es nur eine Bekanntschaft, manchmal nur einen simplen Satz, um ein Leben auf den Kopf zu stellen. Sie hatte zwei gebraucht. Sándor, den wortkargen, zynischen Mann aus Galatia, der sie langsam aus ihrer Blase befreit und ihr auf so undenkbar vielen, wenn auch simplen Arten geholfen hatte. Zum anderen Lawin, der mit seiner schwer zu fassenden, nach außen hin unbekümmerten Art eine Sehnsucht in ihr geweckt hatte, die sie schon viel früher hätte verspüren müssen. Die Sehnsucht nach dem Leben mit all seinen Facetten. Sehnsucht nach Freude, nach Freunden, nach Gesang, Tanz, Kummer, Ärger, Schmerz. Nach allem, was das Leben ausmachte. Obwohl seine herablassende, spöttische Art sie zu Anfang rasend gemacht hatte (immerhin war Wut eine der wenigen Emotionen, die sie sich erlaubte und die oft äußerst hilfreich war), musste sie sich mehr und mehr eingestehen, wie recht er hatte. Sie hatte sich vor allem versteckt, was ihr, wenn auch aus gutem Grund und schlechter Erfahrung, Angst gemacht hatte. Noch immer Angst machte. Doch sie spürte, dass es an der Zeit war, ins Leben zurückzukehren und die Verluste der Vergangenheit zu überwinden. Es würde vermutlich nicht einfach werden. Das lag in der Natur der Sache. Doch sie konnte nicht umhin, sich insgeheim darauf zu freuen. Aus diesem Grund hatte sie auch nicht lange gezögert, das freie Haus im Neuen Hafen Löwensteins zu mieten. Dank Sándors Verhandlungsgeschick und seinem systematischen Vorgehen hatte sie - hatten sie beide - genug Geld, um ein normales Leben zu führen. Und obwohl sie ebenso ein Haus in Ravinsthal hätte wählen können entschied sie, dass sie die Rückkehr ins Leben auch gleich in unbekannter, neuer, vielversprechender Umgebung beginnen konnte. Zwar fasste sie die vage Vorahnung, dass sie sich mit ihrer neu gewonnenen Energie ein wenig zuviel zumuten würde, doch auch dafür war sie bereit. Sie hatte vieles, sehr vieles nachzuholen. Und während sie eben diesen Gedanken nachhing fiel ihr plötzlich auf, was sie die ganze Zeit über gestört hatte.
Die Westwand der Wohnstube brauchte unbedingt einen Wandbehang.