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Normale Version: Gesetz der Fische
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[...oder: Die Großen fressen die Kleinen.]

Von der Ordnung und den Ständen

Jedes Ding hat seine Ordnung.
Vom Sandkorn zum Bergmassiv,
von der Butterblume bis zur Eiche,
vom Kerzenlicht bis zur Sommersonne.
Vom Bettler bis zum König.

Es ist eine Ordnung, die schon lange vorherrscht. Sie ist präsent, und sie ist gut so. Das behaupten zumindest jene, die von oben herab auf diese Ordnung herunterblicken. Entweder sind sie zu blind, um die etlichen Kadaver zu sehen, die ihre Stütze bilden, oder zu ignorant, um sich daran zu stören. Und wer wäre das nicht, säße man auf jenem Thron, äße man nur Kuchen und Trauben, tränke man nur den süßesten Wein? So ist die Ordnung. So ist das Gesetz. Und je tiefer man diese Ordnung hinunter geht, desto kleiner werden die Abstände zwischen den Stufen, desto pendantischer der Blick darauf, wo "Wir" sind, und wo "Die" beginnen.
Könige sterben und leben auf, Armeen marschieren stumm zwischen den Gassen entlang. Morde, die die Welt bewegen, trüben das Wasser dunkel mit Blut. Und Helden und Prinzen, Bösewichte und Königinnen werden im Haus daneben geboren, unbeobachtet von den anderen Vierteln, die sich nicht darum kümmern. Es ist ein eigenes Königreich. Eine Ordnung in der Ordnung. Kein Chaos, wie so viele verächtlich behaupten. Die Ränge mögen anders heißen, und das Reich besteht nur aus Dreck und Ratten, morschem Holz und Maden, die sich daran gütlich tun, doch es ist unser Reich, unser Chaos, unser Leben. Das hier sind wir.

"Ich habe heute einen König gesehen. So nennen wir sie - Könige. Wenn die
Schwänze zweier Ratten vor Dreck und Infektion zusammen wachsen und sich
verknoten, lachen wir darüber. Doch wenn jemand in der Erde wühlt und ein
Dutzend solcher Tiere findet, mit toten Verwandten noch an ihnen hängend,
allesamt kreischend und quietschend und in verschiedenen Richtungen rennend,
dann staunen wir und graben sie schnell wieder zu. Denn einen König stört man
nicht. Selbst dann nicht, wenn es ein Rattenkönig ist.
"


Ein Mädchen rennt die dreckigen Gassen entlang. Das Kleid ist ihr schon entwachsen - sie wirkt auf unkindische Art ernst und hat einen hohen Wuchs. Vermutlich würde man sie auf zehn oder zwölf schätzen, obwohl sie gerade einmal acht Jahre alt ist, mit langen, dunklen Zöpfen und dreckigen, nackten Zehen. An der Schulter strafft das Lumpenkleid. Es entblößt nackte Beine, und auch an den Armen ist es viel zu kurz geschnitten. Aber es ist Sommer, und in Löwenstein ist es schrecklich heiß zwischen den morschen Holzbauten. Es stinkt - wieviele Leichen von Mensch und Tier das brachige Wasser verkommen haben lassen, ist eines der großen Geheimnisse des Lebens. Doch es müssen überzählige gewesen sein. Hunderte. Vielleicht sogar Tausende. Die ausgedehnten Sandbänke vor dem Hafen verhindern eine Wasserzirkulation, die diesem Ansturm aus faulendem Fleisch gerecht werden könnte. Und so stinkt es Tag und Jahr, zu jeder Stunde. Nur der erste Schnee im Winter ist für wenige Tage in der Lage, eine kurze Atempause zu erschaffen - auch, wenn es dann viel zu kalt ist, um überhaupt hinaus zu gehen.
Schweiß schafft seltene Streifen hellerer Haut auf der verdreckten, hohen Stirn des Kindes. Ihre Augen sind hell - Grün und Blau im Wechsel. Sie wäre ganz hübsch gewesen, hätte sie nicht diesen verkniffenen Ausdruck auf dem Gesicht, welcher oft genug mit dem nagenden Hunger kämpft, der sich auf ihre Mimik schleichen will. Und wo sie verkniffen wirkt, wirkt sie auch auf stoische Art zu stolz, eben jenen Hunger zu zeigen, auch wenn ihr magerer Leib diesen schon aller Welt zur Schau stellt.
"Melina!" Die Stimme lässt sie aufblicken. Einige Jungen hocken auf einer halb zerfallenen Holzwand. Sie kann die kleinen, weißen Maden sehen, die sich aus dem schwarzfauligen Brettern winden, als diese in Schwingung geraten. Ein älterer Bursche springt von seinem Platz. Sie hebt ihr Kinn, wie zum Angriff bereit, aber die Haltung des Jungen verrät, dass er ihr nichts Böses will. "Wo warst du? Wir warten schon seit einer halben Stunde auf dich!"
Er ist vielleicht zehn Jahre alt. Viel zu mager, wie sie alle. Nur Melina überragt ihn um einige Fingerbreit, der Rest der Bande, die sich langsam um sie scharrt, ist etwas kleiner. Sie sind zu fünft - vier Buben, ein Mädchen, und allesamt so spindeldürr und in solch elenden Fetzen gehüllt, dass man sich fragen kann, wie sie überhaupt so alt werden konnten. Die Erwachsenen ignorieren sie - die, die eine Arbeit haben, laufen mit Eile durch die Gassen herum. Solche, die keine haben, sieht man trinkend, raubend, pöbelnd. Nur wenige der "Großen" achten überhaupt auf die Kinderbande - dunkle Gestalten mit finsterem Blick und unguten Absichten. Viel zu oft verschwinden Kinder, tauchen am anderen Ende der Viertel wieder auf, zu Diebstählen gezwungen, als Bettler in die schöneren Viertel geschickt, oder auch gar nicht mehr.
"Mein Alter hat mich nicht rausgehen lassen. Er lässt uns überhaupt nur ungern raus, seitdem Teresa weg ist." Melina zögert kurz, ehe sie den Kopf schüttelt. "Er sollte froh sein, er hat jetzt ein Maul weniger zu stopfen. Frag mich nicht, was jemand mit einem Kleinkind will. Ich wette immer noch, dass die Hure sie verkauft hat."
Ihre Stimme klingt eisiger, nicht zornig, wie man es erwarten sollte. Schon das zweite Mal ist eines ihrer Geschwister verschwunden. Entführt, gestohlen, verkauft - sie würde es der Welt und ihrer Mutter im Besonderen zutrauen. Aber sie bekommt fast jedes Jahr ein neues Geschwisterkind. Es ist zum Teil ihrer Jugend und zum Teil ihres Umfeldes verschuldet, dass sie diese erst lieb gewinnt, so sie die ersten zwei Jahre überleben.
"Ich musste jedenfalls aus dem Kohleloch klettern. Gib mir dein Tuch, Pavel!"
Sie streckt eine dreckige Hand aus, und nur mit kurzem Zögern löst der ältere Junge ein ebenso dreckiges Tuch von seinem Kopf, dass kurzgeschorene, hellrote Haare verdeckt hatte. Er protestiert, als sie hineinspuckt und versucht, sich Dreck von den Wangen zu wischen.
"Das nützt doch nichts mehr, Mel! Schau dir das an, jetzt ist es ganz hinüber.." Traurig starrt er das nun feucht-schmutzige Ding an und schiebt es sich unter den Hosenbund. "Nächstes Mal besorg dir was eigenes. Aber wir müssen jetzt los, sonst können wir gleich auf morgen warten!"

"Die Schlachten der Straßen sind weniger glorreich, weniger oppulent und
bekannt wie ihre Anverwandten, die Kriege der Lehen und Länder.
Aber sie sind genauso blutig, rachsüchtig und verheerend, auf kleinerem Maße.
Zumindest für jene, die sie austragen. Für jene, die ihr Opfer werden.
Und für jene, die zurückbleiben, um die Toten zu beweinen.
"

Dunkle Zöpfe fliegen durch die Luft. Ein Mädchen rennt die Gasse entlang. Sie ist schneller als die meisten der Jungs, die hinter ihr herrennen - eine Gruppe rotznäsiger Buben mit aufgeschlagenen Knien und Fetzen am Leib. Nur einer, der Älteste, kann mit ihr mithalten.
"Schneller, Pavel! Bevor die anderen vom Wachmann da sind!" Ihr Atem geht schnell und stockend. Aber sie sind spät dran, weswegen sie ihre Eile nicht zügelt. Vor dem Tor zur Altstadt kommt sie dann schlitternd zum Stehen und hebt eine dreckige Hand - sie haben Glück, denn es steht kein Wächter der Stadt davor, der sie zurückscheuchen könnte.


tbc