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Normale Version: Die Saat des Irrtums
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Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
wo Starkes sich und Mildes paarten,
da gibt es einen guten Klang.
Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
ob sich das Herz zum Herzen findet!
Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.


Das Lied von der Glocke - Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759 - 1805)

Das Papier auf dem Tisch sah so unschuldig und sauber aus. Es lag da wie ein Neugeborenes, jede Krümmung perfekt, von keinem Knitter und keiner Falte beschädigt. Das blassgelbe Licht der Kerze warf kleine, samtmatte Flecken darauf.
Ein paar der schwarzen, dünnen Zöpfe fielen gegen Kyrons nackten Hals, der winzigen Regung folgend, die seinen Blick solider auf die Schriftrolle lenkte. Mit stummer Desorientierung sah er auf den Arm, der noch halb ausgestreckt in der Luft schwebte. Sein Arm, und daran die Hand, mit der er das Schriftstück gerade noch ausgebreitet gehalten hatte. Isabelles Unterschrift war als letztes vom springenden Papier geschluckt worden. Es hatte sich wie eine aufgeschreckte Jungfer um die in Tinte gebannten Gedanken geschlungen, kaum dass er die Finger angehoben hatte, und nun wo es geschlossen war, da wollte er es nicht noch einmal aufbreiten.
Irgendwo an ihm knirschte Leder gegen Metall. Ein Nagel an seiner Stiefelsohle knirschte gequält hell über den Steinboden. Du solltest die Post des Meisters nicht lesen, schalt sein Verstand, die alte leiernde Stimme in seinem Hinterkopf, und doch, wider besten Wissens, wider der Furcht, er konnte den Blick nicht von dem schönen, sauberen Papier lösen.
Wieder knirschte Metall gegen Leder, dieses Mal aber von seiner Faust. Wann er die Hand dazu geballt hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, aber er wusste was die Faust wollte. Das Papier zerschmettern, es platt schlagen, darauf spucken. Der böse Gedanke kribbelte wie ein beginnenes Buschfeuer an seinem Nacken, genau da wo die Wirbelsäule in den Schädelknochen überging. Es würde sich so gut anfühlen... Zumindest für einen gloriosen, kurzen Moment.
Die in Tinte gebannten Worte tanzten vor seinen Augäpfeln ihren lachenden Walpurgisnachtstanz, wie Schatten im Kerzenlicht auf all dem schönen, sauberen, gerollten Papier, und mit einem leisen Kehlklicken wandte Kyron den Blick ab, bevor der Drang zur Zerstörung zu groß wurde. Der Raum war leer, zumindest von Menschen. Der Tisch, der Teppich, die sauber aufgeschichteten Steine, der Lehm, die Kohlebecken, die Betten, die Lagerkisten, alles wie sonst. Nur keiner da. Keiner außer ihm, und dem Papier mit Isabelles Worten. Nicht an ihn, nein, an den Meister. Fühlte sich so Eifersucht an?
Kyrons Fingerspitzen begannen zu pulsieren, aber selbst jetzt kostete es ihn einiges an Konzentration, den erdrosselnden Griff seiner Finger um sich selbst zu lösen. Was zuerst gepocht hatte, das begann zu kribbeln und zu stechen, als das Blut seine gewohnten Bahnen wieder fließen konnte.
Der Meister hatte es absichtlich liegen lassen, dort auf dem Tisch. Er hatte Isabelles Brief dort hingelegt, wo Kyron ihn nicht übersehen können würde, nicht übersehen wollen würde. War es ein Test? Spott? Eine Lehre?
Unter die Buchstaben mischten sich Gedanken. Cahira, der Baron, der Baron und Cahira, Shin und Sam, Sam und Shin, der Meister, die Legion, alles schloss sich dem wirren Tanz von Licht und Schatten und unverständlichen Emotionen an, bis Kyron mit einem milden Schwanken zurück stolperte, eine Hand ins Gesicht presste.
Vielleicht war es nur Hüttenkoller. Es war Zeit, die Grube zu verlassen. Und sei es nur, um etwas zu töten. Oder jemanden.
Beschüttet mich mir eurem Haß und Spotte
Und scheltet und verdammt: ich trag' es gern;
Doch meiner Seele Heiligtum und ihrem Gotte,
Unfreundliche Bedränger, bleibet fern!

Ja, raubt sie mir, des Lebens schönste Stunden,
Zerstört, was ihr nicht kennt: ein heißes Glück;
Jedoch vor dem, was ich so wahr empfunden,
Verstummt und weicht gesenkten Blicks zurück!

Ich will sie freudig tragen, all die Schrecken,
Die mir gescheh'n nach eures Willen Lauf,
Doch wagt ihr's, lästernd meinen Zorn zu wecken:
Erbebt! denn mit ihm steht die Rache auf!


Zorn - Therese Dahn (1845 - 1929)

Eisig war der Regen, wie er auf die Planen und Strohdächer und die morschen Rindenschindeln des Armenviertels fiel, und gemischt mit dem Gestank von erstickenden Feuern, ungewaschenen Leibern und Unrat. Der kleine Unterstand im Norden des Armenviertels, komplett mit einem Gelagetisch und einem halbwegs dichten Überdach, hatte nur zu geringen Teilen den frühabendlichen Wutanfall überlebt, aber nun, mitten im Sonnenaufgang, in der stillsten Stunde des Tages, da reichte selbst ein klappriger Hocker als Ruheplatz.
Kyrons Atem bildete kleine, kalte Wolken in der eisigen Luft. Die Pfützen in den ausgetretenen Schlammwegen bildeten filigrane, feinste Eiskrusten, die den Sonnenaufgang nicht überleben würden. Der Wein in der bauchigen Glasflasche auf dem letzten noch aufrechten Tisch war vermutlich inzwischen ebenfalls kurz vor dem Vereisen, hatte der Mann doch seit seiner Ankunft keinen einzigen Schluck daraus getan. In wenigen Stunden, wenn die Sonne vollends über die bulligen Stadtmauern gekrochen war, würde der winterliche Spuk vorbei sein, und ein laues, klammes Lüftchen durch die Gassen wehen, aber jetzt, so früh am Tage, da rang noch der Nebel mit dem Frost um die Gunst.
Eigentlich hatte Kyron vor gehabt, der Welt den trotzig erhobenen Mittelfinger zu zeigen, sich mit dem Wein ad absurdum zu betrinken, und dann irgendwo zwischen Schlamm, faulendem Stroh und knisterndem Lagerfeuer ins Delirium zu versinken. Gut, vielleicht auch die eine oder andere Schlägerei anzuzetteln, zu sehen ob eine Verhaftung dabei heraus sprang, das übliche Programm wenn er mit der Welt unzufrieden war. Er hatte sogar die Flasche gekauft, den Korken heraus ziehen lassen und dann mehr lose und trinkfertig wieder in den Hals gesteckt, aber getrunken hatte er dann doch nicht.
Cahira brachte ihn dazu, trinken zu wollen. Nicht absichtlich natürlich, dazu war sie eine viel zu gute Person, aber all die Gutherzigkeit, der blinde Optimismus, der schiere Starrsinn, den sie im Angesichte einer unmöglichen Queste offenbarte, das war es, was ihn zur Flasche trieb.
Der Meister hingegen hatte ihm das Trinken einfach verboten, und prompt schien es, als wolle seine Hand dem Befehl, die Flasche zu packen und an die Lippen zu heben, einfach nicht mehr folgen. Keine Magie, kein Hauch von Fluch, nur die simple Unterlegenheit des Geistes. Es war so einfach, sich einem Stärkeren zu beugen, so befreiend, wie ein Rausch für sich.
Warum aber hatte er dann trotz des Verbots den Wein gekauft? Warum starrte er immer wieder zu der Flasche, im Geiste bereit dazu, sie endlich zu leeren, während nur der Körper untätig blieb? Lag es an dem Zusammenstoß, den der Meister und er mit Cahira gehabt hatten? Die Art, wie sie seiner neuen Familie gedroht hatte?
Sie musste doch wissen, wie Kyron auf Drohungen gegenüber den Seinen reagierte, immerhin hatte sie oft genug von dem aufwallenden Zorn profitiert, der sich über alle gesellschaftlichen und moralischen Grenzen hinweg auf Bedrohungen seiner Lieben ergoss. Er hatte sie so oft verteidigt, war so oft die metaphorischen Palaststufen hinauf gestürmt, um ohne Rücksicht auf sein eigenes Wohl Verheerung zu jenen zu tragen, die mit dem selben Gedanken seiner Familie gegenüber spielten. Und nun, keinen Atemzug nachdem Kyron erklärt hatte, dass der Meister und die Synodisten seine neue Familie waren, kam Cahira auf die Idee, ihnen zu drohen!
Es war ein köstlicher Zorn gewesen. Einer, der in den Ellenbeugen kribbelte, an den Rückseiten der Oberarme, an den Rippen. Als würden sich jene Muskeln und Gewebe zittrig anspannen, die direkt mit seinen Gefühlen in Verbindung standen. Die blinde Rage war ausgeblieben, dagegen hatte Kyron zu lange und zu erfolgreich unter der Weisung des Meisters angekämpft, aber auch das war nur Cahiras Schwangerschaft anzurechnen. Als er sie geschlagen hatte, da war das Bild ihrer Bauchgegend unangenehm aufdringlich durch seinen Verstand gehuscht, wieder, und wieder, und wieder, mit jedem Schlag verlockender.
Sie war gegangen, keinen Lidschlag zu früh. Er war kurz davor gewesen, der Verlockung zu folgen. Dem Balg ein Ende zu setzen.
Ja, dort lag wohl der Grund für den Weinkauf.
Ein Zucken ging durch seine Mundpartie, durch die nachtkalten Lippen, die eisige Nase, und eine Dunstwolke von faulendem Abfall wehte ihm ins Gesicht. Mit knarzenden Lederriemen lehnte er sich vor, packte die Weinflasche, und entkorkte sie. Die Erinnerung war stets schlimmer als der Moment, weniger mit Herzpochen gefüllt, weniger mit der Notwendigkeit, in einem Lidschlag Entscheidungen zu treffen, und dafür mehr mit der distanzierten Erkenntnis dessen, was sich tatsächlich zugetragen hatte. Es war den Wein wert. Es war die Missbilligung des Meisters wert.
Immerhin hat er ja gesagt, ich soll mehr auf meine Gefühle horchen.
Und der Meister... Oh, der Meister. Später am selben Abend hatte er wie nebenbei gezeigt, warum Kyron recht damit getan hatte, ihn mit weichen Knien und stiller Verehrung zu begleiten. Der rote Plagengeist der Mithraskirche, jener, der ihn immer und immer wieder in wortreiche Fallen lockte, ihm Dinge aus den Lippen stibitzte, die Kyron niemals sagen hatte wollen, war vor seinen Augen unter der Wucht des Geistes seines Meisters zerquetscht worden. Kein Gefecht, kein Blut, keine Gefahr, nur das Messen zweier Willen, und der stille, unausgesprochene Sieg des Dunklen. Noch während sie zurück in die Stadt gegangen waren, da hatte Kyron dem Zittern in seinem Zwerchfell gelauscht, dem eisigen Schauder an seinem Rückgrat, der Gänsehaut auf seinen Schulterblättern, während er dem Präzentor mit devot hängendem Kopf und fest geschlossenen Lippen gefolgt war.
In der Zeit, die anderthalb Fackeln zum Ausbrennen benötigten, hatte der Meister mit spielender Leichtigkeit das getan, was Kyron unmöglich schien. Und Kyron hatte zugesehen, und mit erschlagenem Neid festgestellt, dass er vermutlich niemals eine ähnliche Größe erreichen würde, eine ähnliche Stärke.
Muskeln waren eine grobe Waffe, eine Keule auf dem Parkett der Möglichkeiten. Rüstung, Schwert, Schild, nichts davon half gegen jene Waffen, die tief in die Seele schnitten, und keine Taktik konnte dagegen Abhilfe schaffen. Keine Taktik, nur ein starker Geist.
Ein starker Geist war etwas, das Kyron nicht hatte.
Warum also den Wein nicht leeren?
Nach dem Rausche dieser Stunden,
Dieser seligen Sekunden,
Dem Verflackern meiner Glut:

Sänftigt sich des Herzens Klopfen,
Und es fällt ein dunkler Tropfen
Reue in mein rotes Blut…


Reue - Hugo Salus (1866 - 1929)

Die Schmiede war ein guter Ort um nachzudenken, ohne nach zu denken, und der einzige Ort, an dem Kyrons Hände niemals ruhen mussten. Isabelles Rüstung hatte genug Dellen, Scharten und Knicke, um einen hauptberuflichen Schmied für einen ganzen Tag zu beschäftigen. Kyron hingegen war nur Reparaturschmied, und nicht wirklich interessiert daran, die Rüstung "wie neu" aussehen zu lassen; solange sie ihren Dienst wieder tun konnte, war die Arbeit gut genug. Natürlich war es wohl wahr, dass auch er hätte schneller arbeiten können, aber noch gab es zuviele Gedanken einzufangen.
Es war dumm. Dümmer als dumm. Ich hätte es nicht tun sollen. Mich nicht setzen sollen. Nichts vom Essen nehmen sollen. Ich hätte auf das Brandmal verweisen sollen, auf das Verbot, mir Unterkunft oder Verpflegung zu bieten, ich hätte nichts sagen sollen. Nun sind sie alles des Todes, und ich muss ihre Kehlen durchtrennen, bevor sie zur Kirche rennen.
Schlichthammer und Flachhammer sangen ihr atonales, scharfes Klagelied, dem bis auf einen mehr oder weniger gleichmäßigen Rythmus jegliches Musikgefühl fehlte. Die Eissturmaugen starrten durch die Arbeit hindurch, ins Nichts, zu beschäftigt mit sich selbst, dem eigenen, üblichen, immer wiederkehrenden Elend. Es war schwer, sich noch daran zu erinnern wie sich Panik, Hoffnungslosigkeit, Angst eigentlich anfühlen sollten. Für ihn waren diese Gefühle ähnlich einer Türschwelle, über die tausende von Füßen gegangen waren, bis die Kanten vertreten, die Trittfläche gebogen, das Holz grau geworden war. Mehr Mühe, sich daran zu erinnern, wie sie sich früher angefühlt hatten, als sie noch echt gewesen waren, als einfach in der geistigen Stille zu verbleiben, die ihn nun erfüllte.
Kordian. Beim ersten Anblick hatte Kyron nicht gewusst, ob er dem Mann die Faust zur Begrüßung ins Gesicht schieben sollte, oder ob es ein guter Zeitpunkt war, in unmännliche Tränen auszubrechen. Wussten die Götter woher der Drang gekommen war, denn aus der Grabesstille in Kyrons Brust kroch in den letzten Wochen nur selten etwas, abseits von milder Unzufriedenheit, oder ebenso milder Zufriedenheit. Am Ende hatte weder das Eine, noch das Andere seinen Weg an die Oberfläche gefunden. Der Anblick des Meisters' linker Hand hinter Kordian hatte wie stets den Effekt eines Eimers kalten Wassers gehabt, und Kyron hatte weitere Fragen herunter geschluckt, zusammen mit jeglichem Ausbruch von Schutzinstinkten.
Habe ich ihm wirklich das Leben gerettet? Alles was ich tat, war ihn aufzufordern, seine Rüstung wieder anzuziehen. Löwenstein ist gefährlich, auch ohne den Meister, auch ohne seine Handlanger. Es hatte sicher nichts mit jenen zutun. Oder doch?
Kyrons Hände arbeiteten mit schlafwandlerischer Sicherheit, wanderten von Rüstungsteil zu Rüstungsteil, fanden Scharten, die ausgeschliffen wurden, Dellen, die er ausbog, Scharniernieten, die er ersetzte, und doch waren Herz und Kopf an anderen Orten. Kordian. Immer wieder Kordian. Beinahe war Blut geflossen, dort am Stall, beinahe hatte Kyron in seinem Dienst versagt. Als Kordian so dicht zum Meister getreten war, da hatte Kyron für einen Moment nicht gewusst, wen er nun rettete, als er seinen Hauptmann mit einem eingeübten Schulterstoß zur Seite beförderte. Sich selbst? Den Meister? Den Hauptmann?
Es war alles zu verwirrend. All die Gedanken rissen an seinem Herzen, als gelte es, den verhärmten Muskel in Stücke zu teilen, und ganz ehrlich wusste er nicht mehr, wen er tot sehen wollte. Einer von ihnen würde sterben müssen, aber jeder Tod würde ein Loch in das Gefüge reißen, das niemals wieder gestopft werden könnte. Für einen Moment am gestrigen Abend, da hatte er wirklich geglaubt, wirklich gehofft, dass Kordians Tod alles lösen würde. Er hatte gehandelt, schnell und ohne zu überlegen, bevor sein Wille ihn verlassen konnte, und doch versagt.
Für Momente danach, da hatte er geglaubt, der Meister könne sterben um diese Schrecken endgültig beizulegen. Wenn jemand in der Lage war, den schwarzen Diener des bleichen Lords zur Strecke zu bringen, dann war es Kordian, und für einige schreckliche Minuten, da hatte er sich dieser Vision hingegeben. Dem Gedanken hingegeben, was wohl sein würde, wenn der Meister tot war.
Die Erinnerung daran, wie der Tod eines Präzentors in der Vergangenheit dazu geführt hatte, dass ein neuer, schlimmerer Präzentor aufstieg, hatte seinen Kopf für einen Moment in Schwärze getaucht, und mit dieser Schwärze war auch die Idee verloren.
Und sein eigener Tod? Das würde den Streit beilegen. Die Klinge würde weiter existieren, der Meister würde weiter existieren, und es würde keinen Grund mehr geben, Krieg gegeneinander zu führen. Ja.. sein eigener Tod. Das war eine Lösung. Eine ärgerliche Lösung, nun wo der Meister ihm verboten hatte, sich selbst das Leben zu nehmen. Er konnte nicht einmal loslaufen und sich mit einem Geständnis den Tod erkaufen, denn auch dagegen hatte er Schwüre abgelegt. Er konnte niemanden um den Tod bitten, denn auch das war verboten. Was tun? Was tun?
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, teils vom Schmiedefeuer, teils von der Anstrengung der Arbeit, und teils von den widerlichen, kriechenden Gedanken, die sein Rückgrat hinauf schlängelten. Es fühlte sich schmutzig an, so zu denken, ähnlich so, wie es sich anfühlen musste, die Augen in heißen Teer zu tunken.
Mit fahrigen Bewegungen sammelte er die reparierten Rüstungsteile ein, schob sie ineinander bis sie ein kompaktes Paket bildeten, und warf sich dieses schnaufend über die Schulter. Mit jeder Geste zitterten die Finger etwas mehr.
Nein, dies war kein Zustand, den er länger ertragen wollte. Die Unruhe, die Aufgewühltheit, die Verwirrung, all diese Gefühle brachten ihn vom Pfad ab, lenkten ihn zurück in die Einöde der Wildnis, in der kein Ziel greifbar war. Das letzte Mal hatte die Wildnis ihn beinahe verschluckt, und nur der Meister war in der Lage gewesen, ihn zurück zu holen, auf den Weg zu bringen, ihm Ruhe zu schenken.
Ruhe. Das ist es doch was du willst? Ruhe von dem Sturm, der dich wie ein Blatt herum reisst. Ruhe von deinen Gedanken, Ruhe von der Selbstzerstörung, Ruhe von all den Entscheidungen, die du nie treffen wolltest. Du warst glücklich, bevor Kordian wieder kam, warst du es nicht? Erinnerst du dich daran, wie es sich anfühlte? Du kannst es wieder haben. Du weißt, wie du die Ruhe finden kannst. Du weißt, was er tun wird, wenn du nicht handelst. Du hast es Kordian gesagt, erinnerst du dich?
Er würde Haut verlieren, das wusste er. Zuviele Fehltritte, zuviel bewusste Verstöße, der Meister würde keine Nachsicht zeigen können. Das Flattern in seiner Brust erinnerte ihn ein wenig daran, wie Schuldgefühle sich früher angefühlt hatten. Vielleicht waren es auch echte Schuldgefühle, derer er sich nur bewusst werden musste. Es gab eine Lösung für Schuldgefühle, der Meister hatte sie ihm gezeigt.
Ein kurzes, leeres Schmunzeln huschte über Kyrons verkrampfte Miene.
Die Spirale. Ich kann sie selbst ziehen.
Zitterst du vor der Brücke,
Schreckt dich ihr düsteres Kleid?
Oder ahnst du die Lücke – ?
Stürzest ja doch in ein Leid.

Wage jetzt deine Schritte,
Klopft auch zum Sterben das Herz.
Bald umfängt dich die Mitte,
Ein Abgrund dunkel von Schmerz.

Brücke der Angst - Francisca Stoecklin (1894 - 1931)

'Hör jetzt auf zu reden, Narr,' wisperte die Stimme des Meisters durch seinen Kopf.
Wulfrik Greiffenwaldt war ein gefährlicher Mann. Wäre die Nacht nicht von so beißender Kühle gewesen, der Schweiß wäre Kyron auf die Stirn getreten, selbst dort draußen auf dem windumwehten Pier. Vielleicht war es Mithrashexerei, die seine Lippen so zum Plappern anregte, wo er sonst ein wenig leutseliger Kerl war, aber schlimmer war der Gedanke, dass der Priester ganz von sich aus diese Aura hatte, die einen gestandenen Mann dazu trieb, sich anvertrauen zu wollen.
Kyron wollte sich anvertrauen, der Drang danach lag ihm stets in der Kehle. Es war der Drang, der dem Meister so viele neue Kreaturen zugespielt hatte, denn in manchen Momenten war es der Wille und die Bereitschaft dazu, über den bleichen Lord zu sprechen, der die richtige Wahl schien. Nicht aber im Angesichte eines Lügenpriesters, nicht im Angesichte eines Dieners des Blenders.

Ein paar Wochen lang war Kyron dem bösen Marktplatz ausgewichen, als handle es sich um einen Beichtstuhl, ungewillt seiner Frau, den Zweitürmenern oder gar einem Rotrock zu begegnen.
Als nächstes hatte er sich um eine Arbeit bemüht, denn ein arbeitender Ketzer mochte wohler gelitten werden, als einer der nutzlos herum lümmelte, und dem Vorwurf auch noch zuspielte. Es war nun keine gleißende oder ehrenhafte Anstellung, die er sich in der Stadtwache auftat, und die Aussicht auf das ewige Rekrutentum war kaum mehr als ein fahler Abglanz seiner früheren Ränge, Titel, Posten. Aber ein Bettler mochte nicht mäkeln, und zumindest schien die Kirche das Königspurpur als beruhigend genug zu empfinden, um ihm etwas mehr Platz zum Atmen zu lassen.
Und dann, als er eine Arbeit gefunden hatte, und als er ein Heim in Aussicht gestellt bekommen hatte, dann hatte die übliche Unzufriedenheit wieder zugeschlagen. Dieses Mal war es Belshira gewesen, die in ihrem austrocknenden Elend ihrem Temperament freien Lauf gelassen hatte. Ihn praktisch gezwungen hatte, ihr Dinge anzutun, die er zwar eigentlich mit einem gewissen sadistischen Genuss vollführte, normalerweise aber dem Feind vorbehielt. Und dazu der Anblick seiner zwei anderen Kumpanen, die wie Theaterbesucher daneben standen, und sich so gar lästerlich unbeteiligt gaben, bis er sie angebrüllt hatte... Nein. Es war kein schöner Abend gewesen. Unzufrieden hatte ihn die Sache belassen, und Unzufriedenheit führte zu Leichtsinn.

Der Brunnen auf dem Marktplatz war immer noch der Ort, an dem die interessantesten Dinge geschahen. Gleichwohl war es allerdings ein gefährlicher Ort für Gebrandmarkte, lagen die Kirchentore doch keinen Steinwurf weit entfernt. Die Wachengugel, purpur und unpersönlich, schaffte Abhilfe, wo er zuvor bejagt worden war wie der letzte Hirsch in Guldenach. Die Nacht war immer noch kühl, von einem unsteten Wind durchsetzt, wie man ihn im Spätwinter - oder Frühfrühling? - erwartete, aber still und vergleichsweise menschenleer, sah man von der einsamen, verschlafen wirkenden Wachfrau Affra ab, die steif wie ein Brett, und ebenso leutselig, am Pranger hofierte.
Die Stille dieses Ortes hatte etwas geradezu Magisches an sich, und wurde erst von einer Stimme durchbrochen, die Kyron nicht erwartet hätte, zumindest nicht an ihn gerichtet.
Die edle Vogtin Eirene Kerlow von Löwenstein war inzwischen bekannt für ihre wechselnde Menagerie an männlichen Begleitern, "Leibwächter" wie sie beteuerte, und gerade bei Kontakt zu Kyron war bisher eigentlich stets jemand zur Stelle gewesen, um mit der Hand am Schwert klar zu stellen, dass er als Persona Non Grata nun wirklich kein Recht hatte, so dicht an eine atmende Frau heran zu treten.
Dieses Mal jedoch war sie alleine, unbeschützt, unbehütet, und in ihren Augen konnte Kyron das selbe Funkeln entdecken, das seine Brust seit Tagen peinigte: Unruhe.
Wäre er nicht so sehr in den eigenen Gedanken gefangen gewesen, er hätte die versteckten Vermutungen in ihren Worten vermutlich früher bemerkt. Das Elend der Unruhe aber war es, das ihn durch ein Gespräch stolpern ließ, in dem er nur knapp der Vermutung einer Mittäterschaft im Giftanschlag entkam, nur um gleich darauf geradezu Greiffenwaldt'sche Fragen zu Seelen und Hexern und den Göttern entgegen geflüstert zu bekommen.
Irgendwo, tief in der Brust begraben, heulte der Wolf, brüllte der Drache, Stimmen der Gewalt in einem Gefängnis aus Lethargie.
Nicht dass er auf den Lockruf reagierte, nein. Brav und sittsam antwortete er wo er konnte, und ließ vor seinem inneren Auge abwechselnd die Kirche des Mithras in Flammen aufgehen, oder aber die gediegen-modischen Kleider vom Leib der Vogtin pellen. Weißes Fleisch und rotes Blut und Flammenmeer. Der Meister wäre stolz auf mich.
Die früheren Versuche, ihn mit dem fremden Wesen Emotion in Berührung zu bringen, hatten unterschiedlich katastrophale Folgen gehabt, und beide Männer belehrt, keine allzu wagemutigen Expeditionen mehr in Kyrons Gefühslwelt zu unternehmen. Andererseits war der zwischendurch herrschende Zustand von völliger Winterkälte im Herzen auch kaum mehr erhaltenswert geworden, und selbst Kyron erkannte die Notwendigkeit, eine Zwischenstufe zu erreichen. Irgendwo zwischen geistlosem Säufertum und der Herzenswärme einer Salzsäule musste ein Ort liegen, an dem der Mann funktionieren konnte, und gerade die Vogtin, so unerwartet es auch kam, offenbarte ihm einen Ausblick darauf, wo dieser Ort sein konnte.
Noch während Kyron sich träge vom Marktplatz entfernte, verfolgt von bohrenden Blicken, wie sie nur Offiziere der Stadtwache produzieren konnten, da wiederholte er die Gemälde vor dem inneren Auge, wieder und wieder. Brennende Kirche. Nackte Vogtin. Lodernde Flammen, welche die obersten Bleiglasfenster aus den Türmen des Teufelshauses sprengten. Das zotige Stöhnen einer braunhaarigen in den Fellen. Feuerleckende Roben an schreienden Menschen. Warme, schweißfeuchte Schenkel um seine Taille.
Das erste Mal seit Wochen zeichnete sich ein feines Lächeln auf Kyrons Miene ab.
Nicht übel. Gar nicht übel.
O heischt nicht, daß man kühl und achtsam
im Grenzbild seiner Kräfte lebt
und daß man niemals unbedachtsam
das eigene Können überstrebt.
Der Selbstvergrößerung Rausch und Wonne
erhält lebendig mich und dich -
denn jeder braucht wie Luft und Sonne,
den Aberglauben an sein Ich.

Oscar Blumenthal (1852 - 1917)


Es war mehr das Fehlen eines Hahnenrufs, das Kyron mit einem kehligen Atemzug aus der Bettstatt schrecken ließ. Sein Leib strafte die Bewegung mit einem scharfen, wehleidigen Ziehen an der Brust, das sich nach einem argwöhnischen Blick unter das Hemd als frisch genähter Schnitt herausstellte. Mit einem ausgedörrten Grollen ließ er sich zurück aufs Bett fallen, das sich als Fellhaufen herausstellte. Nicht sein Bett. Nicht sein Haus. Nicht der Geruch nach seiner Frau, der an den Fellen hing wie ein böser Traum.
Ächzend rieb Kyron sich das Gesicht, teils um die aufwallende Sorge zu vertreiben, teils um zu überprüfen, ob wenigstens das noch in einem Stück war. Kein Schmerz an Kiefer, Lippen oder Brauenknochen, demnach war er also nicht in eine Schlägerei geraten. Isabelle hatte ihr Wort gehalten, zumindest in dieser Hinsicht. Und auch in anderer Hinsicht, wie er mit einem Zurückschlagen der Felle feststellte - seine Hose war wo sie gestern gewesen war, unangenehm nach einer Nacht leichenähnlichen Tiefschlafs, aber unverändert.
Wie kleine Blitze zuckten Ausschnitte, Visionen, Erinnerungen an den Vorabend durch seinen Geist, trübten den öden Anblick der Zimmerdecke über ihm mit ihren konfusen, verschwommenen Trugbildern und ließen ihn unwohl die Zähne blecken. Der Geruch von vergossenem Laudanum hing an seinem Hemd, verstärkte das sachte Zittern der linken, schmerzenden Hand noch. Gier nach nostalgischen Erinnerungen plagte ihn mehr als tatsächliche Gier, aber für seinen Leib schien dieser kleine, feine Unterschied nicht zu existieren. Selbst wenn die Flecken bereits angetrocknet waren, er konnte doch immer noch den Stoff besaugen, vielleicht ließ sich so noch der eine oder andere Tropfen lösen?
Wider des ziehenden Schmerzes im genähten Schnitt an seiner Brust war Kyron in einem Herzschlag auf den Beinen, riss sich das Hemd vom Leib und warf es mit mehr Zorn als Effizienz durch die kleine Schlafkoje.
So Vieles an dem hier ist falsch, so vieles unaussprechlich... was habe ich getan?
Einen Befehl ignoriert, das hatte er getan. Zumindest war es kein gebrochenes Versprechen, denn das wäre unerträglich gewesen. Aber einen Befehl zu brechen... das ließ sich beheben, ganz einfach sogar. Er musste nur dem Laudanum fern bleiben. Vielleicht auch dem Alkohol, auch wenn beides gleichzeitig potenziell zuviel der Wiedergutmachung war, und nur noch tiefer in den Abgrund führen würde. Vor allem wenn man bedachte, dass all dies durch die Erhebung eines Theophyten überhaupt erst entstanden war.
Die Erinnerung hatte um nichts an Schärfe und Schnittfreudigkeit verloren. Der eine Gedanke war genug, um die Wunde erneut bluten zu lassen, genug, um den selben Zorn wie am Vorabend einmal mehr aufsteigen zu fühlen. In seinem Windschatten folgten allerdings erneut die Erinnerungen des Meisters, die milden Worte, die nicht ausgesprochene Drohung, und hierauf die alte Hilflosigkeit und die Erinnerung daran, wie er all das verschwinden lassen konnte.
Es kann alles fort gehen. Du kannst dir helfen, du hast dir früher geholfen, wisperte die alte Kopfstimme, die so lange still und unwillig gewesen war. Der Geruch nach Schnee, Asche, Ruß, die Kopfnote von Blut und abgeriebenem Blech, dazu der Geruch des gepflegten Leders, das die Elster damals getragen hatte. Das Prickeln auf den Fingerspitzen, das an die harschen Kontraste zwischen rauhreifbedeckten Schulterplatten und der geradezu glühend heißen Haut unter der Rüstung erinnerte. Das Grau von Steinplatten, bedeckt von gefrorenem Matsch, gesplittert wo die schweren Stiefel das Eis zerschmettert hatten. Und unter all dem die immerglimmende Flamme des wärmenden Rausches, die zarte, unzerstörbare Decke des berauschten Gleichmuts, das erhebende, leichte Gefühl von Einssein...

Kyrons Augen fanden zurück zu dem verdreckten Hemd, zu den schwarzbraunen Blutstropfen daran, den helleren Flecken eingetrockneten Laudanums, und kämmte sich mit einer unwilligen Geste die struppigen Zöpfe aus dem Gesicht. Du weißt, wohin dieser Pfad führt, wisperte eine andere Stimme in ihm und ließ ihn unwillig die Zähne blecken. Nun begannen sogar schon seine Gedanken an ihm herum zu zerren, ihn hierhin und dahin zu schubsen, als sei er ein ungezogenes Kind!
Mit einem wenig zivilisierten Schnarren rupfte er das Hemd von dem Holzspan, an dem es sich verfangen hatte, zog es sich mit ähnlich ruppigen Bewegungen wieder über. Anfang und Ende lagen in den Versprechen, die er sich schon als Jüngling gemacht hatte. In dem Buch, dessen Einband kaum mehr zusammenhielt. In den Maximen, die ihn leiten sollten, wenn es schon sein Gewissen nicht konnte. Er hatte viel zu lange auf andere Stimmen gehört. War viel zu lange das gewesen, was andere von ihm erwartet hatten. Loyalität. Worttreue. Standhaftigkeit. Ehre. Respekt. Das waren die einzigen Tugenden, an die er sich zu halten hatte, und in den Abyss mit dem was andere von ihm forderten!

Der Entschluss sandte kaltheißes Prickeln über seinen vernarbten Rücken, ganz so als würde seine Haut sich strecken, lockern, ihm mehr Platz im eigenen Leib einräumen. Als würden Joch und Zuggeschirr von ihm abfallen, Platz machen für gesträubtes Nackenfell, gefletschte Zähne und alte Launen.
Ein kurzes Ausschütteln von Isabelles Schlaffellen brachte die Laudanumphiole zum Vorschein, kaum mehr als ein Schluck schwappte noch durch das kleine Glasgefäß. Kyron hob es auf und schob es sich mit glatter Miene in die Gürteltasche. Die Taverne lag still und leer im bewölkten Morgenlicht. Isabelle war nirgendwo zu finden, wohl einmal mehr auf dem Weg zu ihren neuen Freunden. Der Gedanke trieb ein hohles Lächeln auf seine Züge. Vielleicht war es doch Zeit, alte Schleichwege wieder in Anspruch zu nehmen, sich Löwenstein wieder einmal von Innen anzusehen? Isabelle würde sich doch sicher freuen. Wie es die anderen Armenviertler sahen, war eine andere Frage. Eine, die man notfalls mit Fäusten beantworten konnte, seine letzte Keilerei war schon viel zu lange her.
Mit einem letzten Rollen des Kopfes und begleitet vom Knacken seiner steifen Nackenwirbel trat Kyron in die Morgenkälte.
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.


Das ist die Sehnsucht - Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Im Spiegelbild des Wasserzubers sahen die langen, knotigen Haare noch schlimmer aus, als sie es in einem richtigen Spiegel getan hatten. Früher hatte Kyron sie noch mit einer Bürste, oder im Notfall den Fingern, zumindest alle zwei Tage einmal gebändigt, aber die Zeiten waren vorbei. Die Zöpfe gaben seinem Kopf zwar den Anschein von halbherziger Aufgeräumtheit, aber auch sie wollten neu geflochten und gewaschen werden, und auch sie schienen unwillig, sich seinem Willen zu unterwerfen. Er hatte es nie geschafft, den selben aufgeräumten, militärischen Eindruck zu erwecken, den andere Soldaten beherrschten, wie zum Beispiel Cois, oder Cahira. Selbst Kordian hatte mit Dreck und Blut bespritzt noch ansehnlicher ausgesehen als Kyron nach drei Stunden im Waschraum. So sehr er sich bemüht hatte, immer war doch noch ein Haar abgestanden, der Scheitel verrutscht, Barthaare an den Wangen wie Tasthaare eines alten, fetten Katers abgestanden, oder Flecken hatten sich auf gar magische Art auf seinem Wappenrock oder der Schärpe gebildet.
Neid. Das war es, was er empfunden hatte. Bohrenden, tiefen Neid.
Jetzt aber empfand er nur müde Reizung, wenn er sich so sah. Seine Versuche hatte er schon lange aufgegeben, aber bisher war er zu einer größeren Änderung seines Aussehens einfach zu müde gewesen, hatte den Sinn darin nicht gesehen. Im Wasser nun sah er, dass er auch dessen müde geworden war. Rahel und ihre Vorliebe für lange Haare in ihren Streitern waren schon lange nicht mehr, und wenn er es nüchtern betrachtete, störten die langen Haare ihn im Kampf eher.
Liebe war genauso wenig genug gewesen, wie es Loyalität gewesen war, oder Treue, oder Standhaftigkeit. Nichts davon konnte ihn wahrlich zu einem Anderen machen, nichts davon konnte die Vergangenheit ändern. Was sich mit Weigori vor sechs Jahren zugetragen hatte, das trug sich erneut zu, und dieses Mal war von einem strahlenden Paladin weit und breit kein Zeichen zu sehen. Wer das selbe Dilemma wieder und wieder erlebte, der hatte sich zu fragen, ob es nicht an der Zeit war, die Schuld nicht mehr bei anderen, sondern bei sich selbst zu suchen. Cahira konnte dabei nicht helfen, denn sie war einer der Faktoren, die ihn überhaupt erst in diesen Strudel geschickt hatten. 
Er würde sich die Haare schneiden lassen. Den Beschluss schob er bereits seit einer Weile vor sich her, aber nun gab es einen Grund. Und sich tätowieren lassen, fügte er im Geiste an seine Überlegung an. Etwas ins Gesicht, etwas, das als visuelle Unterstützung des Wissens dienen konnte, dass er einem neuen Pfad folgte. Früher hatte er in einen Spiegel geblickt, um sich zu versichern dass er noch er selbst war, dass er sich nicht geändert hatte, und der bleiche Lord deshalb keine so allumfassende Macht über ihn haben konnte. Es war die Erinnerung daran, an jene Momente der Selbstsuche, die ihn nun davon überzeugten, dass er etwas Sichtbares an sich ändern musste, um nicht wieder in alte Muster zurück zu verfallen. Das Brandmal auf seiner Stirn würde dazu nicht ausreichen, denn es war das Zeichen des Feindes beider Wege, und rief höchstens Wut und Abscheu hervor, wenn er es anblickte.
Und etwas Unsichtbares ebenso. Der Auftritt des neuen Theophyten hatte so Vieles vereinfacht, Abläufe verbessert, Wogen geglättet, Bewegung gebracht, dass ein weiterer Anfall von Neid unvermeidlich geworden war. Kordians Wiederkehr und Eintritt in die Garde hatte dasselbe dort verursacht, Gutes getan für die Präsenz und Einsatzbereitschaft der Gardisten. Und Cahira war aufgestiegen in den Adel, hatte neue Ziele und Aufgaben, ein größeres Feld an Möglichkeiten, neue Freunde.
Wohin Kyron auch blickte, jemand anders war bereits dort und tat was er sich mühsam erkämpfen hatte müssen besser, effizienter, zuverlässiger und leichter, und Neid fraß sich bis an sein Knochenmark. Eine böse Stimme flüsterte ihm zu, dass er jene absägen sollte, die ihn überholten, dass er nur an der Spitze sein konnte, wenn die Konkurrenz blutend am Boden lag, aber er schenkte der Stimme keine Aufmerksamkeit mehr. Eine andere Stimme flüsterte ängstlich vom Zorn seines Meisters, wie groß und unstillbar er sein würde, wenn Kyron tat was er tat, ohne es durch dessen Hand zu tun, aber auch jene Stimme drückte er zurück in die Tiefen, ließ sie verstummen mit dem sicheren Wissen, dass er handeln musste statt zu bitten, wenn er sich seine eigene Nische aus der Welt schneiden wollte.
Eine dritte, leisere Stimme flüsterte von gebrochenen Brücken, aber jene Stimme musste er nicht mehr ruhig stellen, denn sie verhallte bevor sie Fuß fassen konnte. Diese dritte Stimme hatte zu oft, zu fruchtlos, zu weinerlich gesprochen, und er hatte ihr zu oft zugehört um ihr jetzt noch zu glauben.
Nein, er hatte einen Plan. Etwas, das er noch nie getan hatte, etwas, das keiner von ihm erwarten würde, und etwas das er auch keinem verraten würde. Es gab nur einen Mann, der ihm dabei helfen konnte, und diesen hatte er lange genug beobachten können, um ihn halbwegs einzuschätzen. Er würde ihn nicht verraten, er würde keine überflüssigen Fragen stellen, und er würde nicht mit ihrem Tun hausieren gehen. Zumindest nicht, wenn Kyron ihn rechtzeitig und ausreichend davon überzeugen konnte, dass sein Weg der richtige Weg war. Keine leichte Aufgabe, aber immer noch leichter, als den Mann in Rot alleine zu erwischen. 
Kyron tauchte beide Hände in das kalte Zuberwasser und zog sie ein letztes Mal über die zerrupfte Haarpracht, dann drückte er sich hoch, schmal auflächelnd. Wenn er etwas hatte, dann starrsinnige Geduld. Zeit für Dummheiten!
Es mordete der Wolf ein Lamm.
Der Fuchs sah lachend zu, als es im Blute schwamm,
Und war ganz freudenvoll darüber.
Kann dich ein blutger Auftritt freun?
Frug mitleidsvoll der Hirsch.
"Hirsch, sprach der Fuchs, halt ein!
Sehr viele Menschen sehn nichts lieber,
Und ich will den Menschen ähnlich sein!"
Ihr könntet Blut mit Freuden sehn,
Ihr Menschen? Eurer Brüder Blut?
O nein, so weit muß euer Heldenmut
Und eure Tyrannei nicht gehn!
Baut euch durch Menschlichkeit Trophäen!


Ich will dem Menschen ähnlich sein - Gottlob Wilhelm Burmann (1737 - 1805)

Das Scharren von Salzkörnern über Steinboden erfüllte den Verschlag seit Stunden, lange genug um Kyron inzwischen durch Mark und Bein zu gehen. Ein so leiser Laut konnte durchdringender als ein Schrei werden, wenn man ihn lange genug dulden musste. Anfangs hatte die Stimme des Meisters ihn noch zusammenfahren lassen, aber mit dem Verlauf der Nacht war aus dem Schrecken eine ersehnte Ablenkung vom Mahlen der Körner geworden.

"Was weißt du über das Versagen?"
"Die einzige Antwort auf Versagen ist der Tod."

Der Sessel des Meisters knarrte als dieser sein skelettales Gewicht verlagerte. Der Laut ließ Kyron die Augen schließen, stumm beten dass der Meister nicht erneut aufstand um etwas aus einem anderen Teil des Verschlages zu holen, inbrünstig - wenn auch tonlos - flehen, dass seine Schritte ihn nicht erneut quer über das kunstvolle Muster aus Salz führen würden, wo er immer noch den letzten gelassenen Marsch mit spitzen Fingern aus der Spirale tilgte. Aber er erhob sich nicht, und da war kein Brennen in Kyrons Nacken, das auf einen weiteren prüfenden Blick schließen hätte lassen.

"Warum lebst du also noch?"
"Weil ich vom Weg abgekommen bin, aber noch nicht versagt habe."

Die Antwort kam ihm zunehmend leicht über die Lippen, auch wenn er die ersten Male noch dagegen protestiert hatte. Es musste die Nachtkälte sein, oder die Erschöpfung, vielleicht auch die eintönige Arbeit, aber die Wiederholungen der Fragen hatten ihn langsam und stetig zu dem Punkt abgerieben, an dem in seinem Kopf kaum noch etwas außer weiter Leere zu finden war. Leere ließ vergessen und bereuen. Leere machte die Glieder schwer und den Geist verloren. Leere war leicht zu füllen, wenn ein Mann am Boden war. 
Der kleine Haufen von zarten Scherben vor seinen Knien war ein stetiger Spott, eine Erinnerung daran, dass das was er gerade empfand noch keine wahre Erschöpfung sein konnte, durfte. Erschöpfung, Versagen und Tod würden sich an einem Punkt nämlich die Hand geben, und nur sein hartnäckiger Wille konnte diesen Moment hinaus zögern und in die Ferne schieben. Kyron machte sich keine Hoffnungen darauf, dass er die Aufgaben jemals zuende bringen können würde, und sie hinzuschmeißen stand außer Frage. Er würde dort zwischen Salz und Scherben knien bis seine Finger blutig waren und er der Ohnmacht anheim fiel, also versagte, oder aber der Meister ihn davon entband, und jedes Zucken seines Wangenmuskels, jedes Pausieren, jedes Fortsehen von dem selbstgeschaffenen Debakel verlängerte die Zeit, die er damit verbringen musste. Zumindest fühlte es sich so an.
Sein Wangenmuskel zuckte, bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. 

"Was habe ich dich über den Pfad gelehrt, den du zu gehen hast?"
"Alles geschieht wie der bleiche Lord es vorsieht. Er ist meine einzige Rettung, und du mein Wegweiser auf der Irdischen, Meister."

Stille kehrte ein, nur durchbrochen vom andauernden, ununterbrochenen Scharren von Fingern über Salz, Salz über Stein, Stein über Haut. Anfangs hatte Kyron die Worte noch mit der Herzhaftigkeit und dem Engagement einer balzenden Spottdrossel wiederholt, aber das war vor Stunden gewesen, damals, als er noch mehr auf das präzise Nachplappern als auf das Meinen, Fühlen, Glauben konzentriert gewesen war. Inzwischen fehlte ihm die Energie für solcherlei Stimmmodulation, der Wille zum Mummenschanz, und der Glaube daran, dass der Meister einfach nur die Worte hören wollte. Der tiefere Sinn war wohl weniger, dass er den Meister durch Wiederholung überzeugte, sondern eher, dass jede Wiederholung die dahingesagten Worte tiefer in seinen Kopf fraß. Zu der Erkenntnis war er schon vor einer Weile gekommen und sie hatte ihn zögerlicher, unwilliger antworten lassen. Der Meister hatte sich von dem Zorn in seiner Stimme allerdings wenig beeindruckt gezeigt - er war einfach aufgestanden, gemächlich über die Spirale aus Salz und die Scherben zu einem Regal auf der anderen Seite des Verschlags spaziert, hatte dort ein Buch aus dem Stapel gezogen und war zu seinem Platz zurück gekehrt, während Kyron mit seinem unmäßigen Temperament gerungen hatte.
Nicht dass sein Zorn nun weniger war als zuvor. Da war nichts, niemand, der seinen stetigen Zorn jemals besänftigen können würde. Er hatte diese Rage schon zuvor recht gut unter Kontrolle gehabt, sie gemeistert wie einen temperamentvollen Hund, sie gezielt dort freigesetzt wo sie ein dankbares Ventil fand, aber der Meister hatte das einzigartige Talent, selbst die letzten, noch so kleinen Schwachstellen zu finden, hervor zu kitzeln, und ihn damit zu strangulieren.

"Ich werde deine Seele in Stücke schneiden. Ich werde dich töten. Und wenn es geschehen ist, wirst du spüren, welche Macht dein Zorn, dein Hass, deine Verachtung und dein Neid haben."

Schweigen. Welche Antwort die Korrekte auf diese Worte gewesen wäre, hatte Kyron schon lange zu suchen aufgegeben. Die Worte kamen in diversen Abwandlungen immer wieder einem Intermezzo gleich zwischen den Fragen, die ihn zurück auf den schmalen Pfad eichten, den der Meister für ihn vorgesehen hatte.
Der Sessel knarzte, der Meister erhob sich, und für einen Moment erblickte der Drang, die Hand fortzuziehen, den Marsch der Zerstörung durch das Gebilde abzuwarten, das Licht der Welt. Er erlosch genauso schnell wieder, und während er mit leerem Blick und müdem Geist weiter Salzkörner zurecht schob, da strich des Meisters Mantel über seinen nackten Arm, sein Stiefel verfehlte knapp die ordnende Hand, und Salz knirschte unter seiner Ferse, während er das Buch zurück ins Regal trug.

"Macht benötigt Kontrolle, Kyron. Du kennst deine Aufgabe. Führe sie aus oder versage."

Ein Moment der beiderseitigen Stille, dann trat der Meister den Rückweg an, setzte sich knarzend wieder in seinen Sessel und Kyron nahm die Arbeit wieder auf. Scharren, stetiges Scharren, nur unterbrochen von den sanften Worten des Meisters.

"Was weißt du über das Versagen?... "

Bist du gekommen, mich zu richten?
So hör meine Worte: ich fürchte dich nicht.

Bist du gekommen, mich zu strafen?
Glaub mir, ich habe keine Angst.

Bist du gekommen, mich in die Hölle zu geleiten?
Sieh, ich reiche dir meine Hand.

Bist du gekommen, mich zu richten?
So hör meine Worte: ich richte mich selbst.

Bist du gekommen, mich zu strafen?
Glaub mir, das tue ich Tag für Tag.

Bist du gekommen, mich in die Hölle zu geleiten?
Sieh, da bin ich bereits.


~ Sarah Razak (1975) - Schwarz (Auszug)




Knisternd weiße, lauwarme, gestaltlose Leere.
Irgendwo in der Ferne saß das Bewusstsein, dass ihm kalt war, dass er vom Regen durchweicht worden war, dass sein Magen krampfte und sich zusammenzog um den einen Schluck teuflischer Brühe, den er getan hatte, dass seine scherbenversehrten Sohlen schmerzten, dass er seit vier Tagen nichts gegessen hatte, dass er durstig war, oh so durstig, so unendlich durstig, wie man es nur nach Blutverlust sein konnte. Fern, so fern von ihm, so unbedeutend im Weiß, das seinen Kopf umflocht. Es war ein Ausblick durch sattes Sommerlaub, aus dem Wald seines neuen Kopfes hinaus zu einer Lichtung, wo er die Reste seiner Existenz zurückgelassen hatte um sich selig zu sonnen, während der Untergang seinen Lauf nahm. 
Noch ein paar Stunden zuvor hatte keine der Andeutungen des Meisters Sinn gemacht, und Kyron hatte sie einfach hingenommen, akzeptiert mit dem loyalen Stumpfsinn von Schlachtvieh, das einfach nicht in der Lage gewesen war, wirklich zu verstehen was ihm gesagt wurde. Kreise, Pentagramme, säuberlichst auf den Boden gemalt und doch immer und immer wieder kritisiert, zerschlagen, fortgefegt, begleitet von schmerzhaften Zurechtweisungen, ähnlich musste einem Jährlingshengst die Gewöhnung an das Halfter vorkommen. Wieviele es gewesen waren, wieviele Muster Kyron in den letzten zwei Tagen nach dem Brechen der Spirale gezogen hatte, wusste er nicht, nur dass es über fünfhundert gewesen sein mussten, und der Meister hatte sich unversöhnlich gezeigt.
Was Kyron noch an unkontrolliertem Temperament gehabt hatte, war in diesen Stunden fein säuberlich mit der schärfsten Klinge abgezogen worden, bis nichts zurück blieb als das Weiß.
Das Weiß hatte ihn durch die Nacht geleitet, hatte ihn furchtsame Blicke vergessen lassen, hatte ihn Ungeduld vergessen lassen, und Wut, und Missgunst. Der Meister hatte wahrlich nichts dem Zufall überlassen. Jeder Schritt des Abends war hundertfach durchgespielt worden, jedes Wort in seinen Kopf gehämmert, jede Bewegung wiederholt worden bis Kyron im Stehen einschlafen wollte. Die eigentliche Anrufung vor den Augen aller hätte sich beinahe unspektakulär angefühlt, wären da nicht die starren Blicke des Meisters einerseits gewesen. Und andererseits-
Nein. Schau weg.
Und dann war ihm ein zweites Herz gewachsen. Ein parasitärer Zwilling, irgendwo an seiner Seele vernabelt, zurückgehalten vom Weiß und gleichzeitig ein Druck auf seinen Geist wie ein unterdrücktes Lachen. Er wollte daran kratzen, das Weiß knacken wie eine Eierschale, das Lachen heraus lassen, es seine Gewebe ausstrecken lassen, sehen was daraus erwachsen mochte. Ein Juckreiz, ein stetiger Juckreiz.
Der Meister hatte ihn allerdings auch darauf gut vorbereitet. Nicht daran zu kratzen, niemals wieder seine Kontrolle fahren zu lassen, niemals wieder sich selbst von der Kette zu lassen, das war der Preis gewesen. Das Kratzen in seinem Kopf war vom selben Klang wie jene Zornanfälle, als er das erste Mal die Spirale gezogen hatte, aus feinem Sand, in verwackelten Bahnen. So lästig es war, es ließ sich leicht zügeln... zumindest wenn man wusste, worauf es zu achten galt.
Mit einem leisen Ächzen hob Kyron den Kopf von der Liege und warf einen Blick zu dem nahen Loch in der Wand, wo die ersten kaltblauen Lichtstrahlen ihre Klauen durch die Ritzen entsandten. Fünf, vielleicht sechs Stunden seines Lebens fehlten. Er erinnerte sich nicht daran sich hingelegt zu haben, und er erinnerte sich nicht daran aufgewacht zu sein. Alles floss ineinander, verlor Kanten und Kontrast, sobald er darüber nachzudenken versuchte. Seine letzte Erinnerung war jene an den Schluck von rauchigem, dickflüssigem Blut-
Gehorche dem Meister. Beherrsche dich.
Wie zur Antwort presste das Lachen schärfer gegen seinen Hinterkopf und zwang ihn mit einem Schnauben aufzustehen. Die Robe war immer noch nass und klamm, roch nach Rauch und Hausmulch, und erinnerte ihn daran wie kalt ihm war. Er zog den durchweichten Stoff vom Leib und sammelte seine Rüstung ein, das Weiß vorsichtig und feinfühlig durch seine Gedanken balancierend bis er sich sicher sein konnte, dass dieser neue Panzer in seinem Verstand nicht so leicht abfallen würde. Er würde an diesem Tag noch oft genug auf die Probe gestellt werden.
Fertig in das altvertraute Metall gehüllt und zumindest etwas wärmer als zuvor erklomm er die bröckelnden Stiegen hinauf zum Sitz des Meister, jeden Schritt bedacht und konzentriert nehmend während die steifen Muskeln ihre Klagen zu dem sonstigen Strom an Pein hinzufügten. Der Schmerz war nebensächlich, jetzt noch mehr als zuvor. Schmerz war Leben. Neugeburt.
Erst drei Schritte vor dem finsteren Verschlag hielt er inne, sank atonal klimpernd und knarzend auf ein gepanzertes Knie und beugte das Haupt vor den lauernden Schatten. Nicht, dass er eine Antwort erwartete, aber wortlos zu verschwinden war unvorstellbar. "Man wird mich vermissen, Meister. Ich kehre zurück."
Stille. 
Die Sonne hatte ihr gesamtes, hässliches, helles Angesicht gerade erst hinter dem Horizont hervor geschoben, da erhob Kyron sich aus der knienden Pose, streckte das steife Bein bis ein Knacken von Erfolg sprach, und wandte sich ab. Rabenstein wartete.
Die Nacht trug die erste Note von Winter und Kälte, Nebel und den feinen Geschmack von kaltem Ruß und Eisen. Nicht kalt genug für Frost, jedoch kalt genug für klammes Zittern und die davon gefolgten Anfälle von Lungenfäule und Husten. Selbst die Rappstute unter seinen Schenkeln hielt sich verspannt und unwohl, missgestimmt von der langen Ruhe und der Kühle, die an den geschorenen Flanken durch ihr Fleisch drang. Des Reiters Aufmerksamkeit lag jedoch an einem anderen Ort, fern den Launen seines Rosses.
Allem Anschein nach waren nicht alle Flüchtlinge in die Stadt gelassen worden, oder aber einige von ihnen hatten sich dazu entschlossen, lieber die Vertrautheit des verwilderten Turnierplatzes für sich zu beanspruchen, statt in die dreckigen, verwinkelten und beengten Gassen Löwensteins zu ziehen. Früher oder später würde der junge Frost auch sie näher zusammentreiben, rund um ihre Feuer, unter Dach wo ein solches zur Verfügung stand, dicht gedrängt um Körperwärme gegen den bitteren Wintereinbruch zu teilen. Noch aber schienen sie versprengt und verteilt wie eine grasende Lämmerherde, verhärmt und verschreckt, zu neu in der Stadt, um alle Facetten der Einwohner kennengelernt zu haben. Einige Augen waren ihm gefolgt, voller Misstrauen darauf bedacht, was ein Gerüsteter auf einem Rappen in ihrer Nähe wohl treiben mochte, während andere ihn wohl schon bei einem seiner früheren Ausflüge bemerkt hatten und ihm nur kurze Blicke schenkten. Es war der dritte Dämmerungsritt durch die Ausläufer Löwensteins, und wie bei seinen vorher gegangenen Ausflügen verteilte er auch dieses Mal wieder billige Wollüberwürfe und kleine Säcke von Mehl, die er aus Cahira's Verkaufslager stibitzt hatte. Früher oder später würden die Flüchtlinge sich an seinen Anblick gewöhnen, die Scheu ablegen, ihm Vertrauen schenken. Kyron war kein Novize in der Jagd.
Und Menschen waren nicht anders als Jagdwild.
Nirgendwo verharrte er zu lange, nirgendwo wechselte er mehr als ein paar Worte, verwies bei Nachfragen nebulös darauf, dass auch ihm einst geholfen worden war und solcherlei weiter gegeben werden sollte, und stieg für einen Moment gar von seiner Stute, um einer Frau mit ihrer Ziege zu helfen, deren Euter heiß und entzunden war seitdem sie das Zicklein verkocht hatte.
Dann verließ er die Flüchtlinge so wie er gekommen war: Kommentarlos und ohne Abschied, ohne ein Wort über Ravinsthal oder die Götter zu verlieren, und ohne einen Blick zurück.

Erst vor der Stadt, draußen im Bauernwald, gab er seinem fröstelnden Ross die Fersen, steuerte es durch die Finsternis des herbstlichen Waldes und stoppte nicht einmal, um den Spähern der stolzen Männer den Wegzoll zu überreichen - er warf den Beutel, wie er ihn schon zuvor geworfen hatte, und verschwand ins Dickicht des Flüsterwalds, stets gen' Osten strebend, wo das Gebirge bereits verräterisch still aufragte, und das Meer gegen steile Klippen rauschte.
Ein Schatten trat aus dem Schatten eines Baumes und brachte sein Pferd zum Scheuen, bevor er es zügeln und zurück an seinen Platz lenken konnte. Seine Rippen zogen sich unter der alten Angst hart zusammen, seine Lippen verweigerten sich der Emotion jedoch und schoben sich zu einem scharfkantigen Halblächeln zusammen.
"Vier, vielleicht fünf Runden noch, dann können wir beginnen," teilte er dem Schatten desinteressiert mit, während die Stute hart schnaubend in den Nachtwind witterte.
Der Schatten schmolz einmal mehr zwischen die Bäume und Kyron trieb sein Pferd an, auf den Pass zu. Die Stute schien nur zu erleichtert darüber, aus der Finsternis des Waldes zu entkommen und trottete bald wieder leichtfüßig den schmalen Pfad entlang.
Der Zug um Kyrons Brust jedoch hielt sich länger.
Beklag es nicht, wenn oft mit Beben
ein Sturm uns durch die Seele braust;
denn welkes und gesundes Leben
das scheidet seine starke Faust.

Wie in den grünen Blättern allen
im sommerreifen Laubgeäst:
was welk in uns, das mag nun fallen,
was grünt, hält auch im Sturme fest.

Karl Stieler (1842 - 1885)


Der Nieselregen, der den halben Abend in immer wieder einsetzenden Intervallen das Gestein des hohen Festungsturms benässt hatte, kehrte einmal mehr zurück und tränkte mit seinem leisen, wispernden Plätschern die feinen, dünnen Pfützen um den knienden Mann und zerschnitt den aufsteigenden Nebel und Dampf in fasrige, unstete Wimpel.
Das Zittern hatte sich von einem empörten Beben zu Anfang inzwischen zu einem Fakt der Existenz - nicht unähnlich der Notwendigkeit zu atmen - fortentwickelt, jeden Muskel an Kyrons Leib ergriffen und die Kälte bis in die Knochen voran geschickt. Was in voller Rüstung, betan mit Gambeson, langem Unterhemd, Beinkleidern, einer schützenden Metallschicht und schließlich einem Wappenrock als kühle Herbstnacht durchgegangen wäre, das war in ein dünnes Hemd und eine Lederhose bekleidet eine wahrhaftige Qual. Nicht dass die Qual stundenlang auf dem selben Fleck zu knien nicht schon schlimm genug gewesen wäre.
Wäre Kyron jünger gewesen, hätte sich dieser Abend vor fünf Jahren zugetragen, Kyron wäre wohl unter Dach gerutscht, verschlagen wie ein kleiner Junge der sich für schlauer als der Vater hielt. Der Verschlag des Meisters war immerhin keine zwei Schritte von ihm entfernt, überdacht, matt beleuchtet und zwar spartanisch eingerichtet, aber immer noch geschützter als das freie Turmdach. Des Meisters Aufmerksamkeit wanderte zwar immer noch in Intervallen zu ihm zurück um die dritte Licitatie einmal mehr zu hinterfragen, zu vergleichen und schließlich jeden Trieb von Andersdenken auszustampfen, doch die Spannen die er mit Insichgehen und dem Studieren verschiedener Almanache verbrachte, waren mit Kyrons zunehmendem Verständnis - oder Meinungsangleich? - angewachsen.
Vor fünf Jahren hätte Kyron die Überlegenheit des Meisters noch in Frage gestellt. Vor fünf Jahren hätte er sich noch gegen den Willen des Meisters gemessen, Widerstand geleistet, geknurrt und geschnappt bis Ketten zur Unterstützung seiner Lehre um seine Arme gelegt worden wären. Vor fünf Jahren wäre sein Blut heiß genug gekocht, um ihn die Kälte vergessen zu lassen und ihm weitere Narben einzubringen.
Nun wusste er, dass Widerstand zwecklos war. Dass sein Wille dem des Meisters unterlag, dass er den Weg nicht kannte, dass er ohne den Meisters fehltat, missgriff, abzudriften drohte von dem einzigen Weg der ihm eine Zukunft nach dem Tod versprach, die nicht aus dem selben Elend bestand wie sein Leben. Auflehnen war zwecklos. Wüten und Schreien waren zwecklos. Er kniete, er fror, er zitterte aus eigener Schuld, aus eigenem Fehler.
Ein weiterer Zitteranfall schüttelte seinen Leib und der Nieselregen stoppte einmal mehr. Das Beben brachte seinen Kopf zum Schmerzen, seine Schläfen zum Pochen, seine Sicht zum Schwanken, und irgendwo von tief in seinem Bewusstsein kroch der Gedanke hervor, dass er dankbar sein sollte. Oder nicht? Der Meister half ihm mit all dem, mit dem Beharken, mit dem Wiederholen, dem Knien, der Kälte, der Schutzlosigkeit, er hatte es selbst gesagt. Perfektionierte ihn, zeigte eine sanfte, gütige Hand. Niemand hielt ihn dort, niemand fesselte ihn, das einsperrende Salz war schon lange vom Regen gelöst und verwaschen worden, nur noch er selbst sorgte dafür dass er hier blieb. War das nicht ein deutliches Zeichen dafür, dass sein Verstand und seine Vernunft zwiegespalten waren? Sein Verstand sagte ihm dass es Zeit war zu flüchten, oder unter das Dach zu kriechen, seine Schwäche zu füttern und seinen schwachen Willen zu befriedigen, aber seine Vernunft sagte ihm still, heimlich und wortlos, dass er dort bleiben sollte. Dass es der richtige Weg war. Dass ihm geholfen wurde.
Etwas nagte an Kyrons Hinterkopf bei diesem Gedanken, ein unwohler, sich windender, zittriger Schatten eines Gedanken der irgendwann einmal ein Heim in Kyrons Kopf gehabt hatte und doch nur noch eine Ruine, ein geschliffener Fundamentrest war. Das Gefühl des ungreifbaren Schauders ließ ihn die Zähne blecken, die Schultern rollen im Versuch die leichenhaften Reste eines früheren Lebens abzuschütteln, und seine Regung brachte auch Regung in den schwarzen Schemen des Meisters.
Ein alter Sessel knarzte, Papier raschelte. Dann erklangen Schritte, und die sanfte, gleichmäßige Stimme des Meisters drang einmal mehr durch das Elend der kalten Herbstnacht.

"Die dritte Licitatie, Archont."

Der Schatten in Kyrons Seele erzitterte und verkroch sich, winselnd beim Anblick des Erzfeindes. Die weiße, sirrende Leere seiner Vernunft füllte das Vakuum und glättete seine Mimik.

"Widerstand gegen die Hierarchie der Synode der Dämmerung, durch den Bleichen Lord zur heiligen Streitmacht auf der Irdischen auserkoren, ist gleichermaßen Widerstand gegen den Lord Yaq’Charybs Höchstselbst."
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