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Normale Version: Zwei Leben
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Mit jedem Schritt, den sie sich von der Front auf Grollbringers Rücken, welcher ihr von Kordian dankenswerterweise ausgeliehen worden war, entfernte, löste sich eine Öse des Korsetts aus Pflichtgefühl, Stolz und Stärke, bis am Hof beinahe nichts mehr vorhanden war, was sie aufrecht hielt. Sie brachte das gärende Geschwür des Krieges nach Hause - nicht, dass dies jetzt auch noch etwas ausgemacht hätte; das feine Idyll, welches sie über mehr als anderthalb Jahre gepflegt und gehegt hatte, hatte ohnehin Kerben bekommen - und gerade diesen Abend hatte sie weder Mut noch Kraft, die Risse zu kitten.

Nora steckte ihren Kopf aufgrund des Getöses auf dem Hof durch die Tür, trat nur etwas später zögerlich mit einem Nudelholz bewaffnet auf die Veranda, ein banges “Wer ist da?” auf den Lippen. Der füllige Schatten ließ Cahira müde schmunzeln. Das Kindermädchen war eine waschechte Ravinsthalerin: Anzeichen von Gefahr ließen sie entweder fliehen und alles mitnehmen, was ihnen währenddessen in die Finger geriet oder sie stellten sich dem drohenden Unheil entgegen.

Cahira erklärte in knappen Worten die Lage: Sie war nur hier, um Vorräte und Verbände für die Front zusammenzutragen und würde am nächsten Morgen schon wieder aufbrechen. Die Ausführung war immer wieder durch heftiges Aufhusten unterbrochen worden, doch statt rügender Worte ob des Gesundheitszustandes begnügte sich Nora damit die Heimkehrerin mit einer kalten Bratenplatte vom Abendessen und einem Zuber mit warmen Wasser im Hauptquartier unterzubringen; Cahira wollte die Kinder weder wecken oder, noch viel schlimmer, anhusten.

Als das Kindermädchen nach einer gefühlten endlosen Weile des Herumfuhrwerkens endlich wieder gegangen war, murmelte Cahira, den heißen, pochenden Kopf in die Hand gestützt: “Du warst nicht in Candaria.”

“Ich habe euch Soldaten noch nie verstanden. Freudeschreiend in die Schlacht, in den Tod oder ins Leben eines Krüppels. Nein, danke. Ich durfte genügend von euch wieder zusammenflicken, dich eingeschlossen.” Aidan lehnte an der Theke und sah im Gegensatz zu Cahira so unverschämt frisch wie junger Morgentau aus.

Die junge Frau schnaufte resigniert und schälte sich in quälend langsamer Weise aus Wappenrock und Rüstung. Sie hatte gehofft, dass er verschwunden war, stattdessen fühlte es sich so an, als hätte er hier auf sie gelauert wie eine Spinne im Netz und für einen Moment schoß kalter Ärger durch ihr vom Fieber erhitztes Gemüt und sie schnappte ungehalten: “Willst du mir nun zugucken, wie ich mich ausziehe und wasche?”

“Da ist nichts zu sehen, was ich nicht schon gesehen hätte, Liebes!”, schnurrte der Mann genüsslich und ehe Cahira zu einer kräftezehrenden Erwiderung ansetzen konnte, hob Aidan abwehrend die Hände. “Schon gut. Ich verschwinde. Du isst, ruhst dich aus. Wir werden noch viel Zeit zum Reden haben.” Und ehe sie diese Worte hinterfragen konnte, war er fort.

~~~

Cahira sass auf einer Pritsche in der Heilerstube und ließ die Beine baumeln, während sie die beiden ungleichen Männer betrachtete. Aidan überragte Flint um mindestens zwei Kopf, war schlank und elegant, während Flint in jedem Bühnenstück ohne viel Mühe wohl den schmierigen Beutelschneider geben konnte. Während Flint murmelnderweise ein Gebräu zusammen stellte, betrachtet Aidan dessen Tun sehr skeptisch. “Nein, du Dummkopf. Nimm’ das andere. DAS ANDERE! Ich frage mich wirklich .. Liebes, trink’ diesen Mist bloß nicht, ich denke, der will dich vergiften … Meine Güte!” Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und obwohl sie nicht wusste, ob er sie nur aufziehen wollte oder Flint heute mit den Gedanken tatsächlich woanders war, musste sie dennoch auflachen, verschluckte sich und hustete in ihre rasch empor gehobenen Faust. Flint fuhr herum und betrachtet sie skeptisch.

“Ich habe mich nur verschluckt. Ich ... mir geht es gut!”, beschwichtigte sie den Heiler rasch, der sie sonst sicher noch einen weiteren Mondlauf unter Beobachtung gestellt hätte. Er hatte sie gerade noch zwei Briefe schreiben und dafür Sorgen tragen lassen, dass der Proviant ins Hauptquartier gebracht werden würde und dann hatte er sie unbarmherzig festgesetzt und erst nach einigen Tage, in denen sie eigentlich nur geschlafen und ab und zu etwas Brühe geschlürft hatte, nach Hause entlassen - aber nicht ohne regelmässige Stippvisiten zu verlangen, bis sie vollständig gesundet war. An ihm war nicht nur ein Heiler sondern auch ein ausgezeichneter Kerkermeister verloren gegangen.

Aidan war ab und an einmal aufgetaucht und hätte sie nicht gewusst, dass er nur ein Gespinst ihrer Gedanken war, hätte sie seine Besuche wirklich gänzlich genossen. Sie hatten, wie er zuvor prophezeit hatte, über dieses und jenes geredet und als sie einmal ihre Widerwehr hatte fallen lassen, war er ein wirklich angenehmer Gesprächspartner - mehr als das, ein Vertrauter wie damals auf Svesur.

“Wann kann ich denn wieder meinen Dienst aufnehmen?”, fragte die junge Frau rasch, ehe Flint noch auf andere Gedanken kommen würde und setzte ein einnehmendes Lächeln auf. Aidan, der sich währenddessen der Betrachtung von Flints Medizinschrank gewidmet hatte, schnaubte unterdrückt auf. Und Flint zögerte, drehte eine Phiole in seinen groben Händen. Cahira merkte auf, straffte ihre Gestalt. “Falls es doch ernster ist, dann sagt es nur frei heraus.” Kein einfacher Husten, kein einfaches Fieber; vielleicht die Erkrankung, die ihre Mutter niedergerafft hatte - das musste die Erklärung für Flints verhaltenes Schweigen sein und Hitze stieg ihr in die Wangen, der Magen begann zu rebellieren.

Aidans amüsiertes Gesicht milderte die Angst vor dem sicheren Siechtum, doch steigerte ihre Verwirrung und sie blickte zwischen den beiden Männern hin und her, was wiederum Flint irritiert in Richtung seines Spindes blinzeln ließ und die Antwort weiter hinaus zögerte.

“Das da doch ein Herz in seiner Brust schlägt, hätte man ihm gar nicht zugetraut, hm?” Beinahe legte Aidan eine Hand in jovialer Geste auf Flints Schulter. “Und du, Liebes, du bist so wunderbar unbedarft was solche Dinge angeht, dass es entzückend und erschreckend zugleich ist.” Dabei lächelte er ihr entgegen und ließ den Worten die Zeit, langsam zu sacken, zu keimen, Früchte der Erkenntnis zu tragen, während er immer mehr Zähne zeigte und am Ende grinste wie ein Wolf, wenn Wölfe denn hätten lächeln können. Cahira wurde um einige Nuancen blasser.

Meal do naidheachd, Liebes!”
Normalerweise sorgte der Gang zwischen Rabenstein und dem Hof auf dem Rabenfeld  - oder andersherum - dafür, dass sich ihre Gedanken glätteten, ordneten und sie sich den anstehenden Aufgaben zu Hause oder in der Verwaltung mit frischer Tatkraft stellen konnte. Diesen Abend jedoch kam sie nicht wie erhofft zur Ruhe und sie verharrte an den Stallungen neben dem Haus, die Arme lose auf dem Gatter, der Mantel eng um ihre Gestalt gewickelt und beobachtete die Tiere, welche sich träge regten. Die Luft war bereits schneidend kalt und der Winter würde bald gänzlich über das Land hereinbrechen, vielleicht sogar schon ein paar frühe Schneeflocken bringen.

Sie widerstand ihrem inneren Drang, Aidan zu mahnen, dass er sich doch auch eine dickere Jacke oder dergleichen überwerfen solle; in seiner jetzigen Aufmachung, dem einfachen Wams mit Tuchhose, würde er sich bei diesen frostigen Temperaturen den sicheren Tod holen und er war die im Gegensatz zu Svesur harten Winter in Amhran sicher nicht gewöhnt … Stattdessen schnaubte sie nur auf und betrachtete das kurzbeinige Pony, welches gerade nach einer bereits braun gewordenen Apfelscheibe schnappte, um diese gemählich zu zermahlen.

Aidan durchbrach die Stille behutsam: “Du hättest dir mehr Begeisterung gewünscht, hm?” Als Cahira nicht zu reagieren schien, fügte er im heiteren Versuch an: “Als Eris mir sagte, dass sie unsere drittes Kind erwarten würde, habe ich ihrer Meinung auch nicht den notwendigen Grad der Verzückung an den Tag gelegt und sie hat zwei Wochen nicht mir gesprochen, mir verhasste Graupensuppe serviert und mich aus unseren gemeinsamen Fellen gejagt.”

Die junge Frau schnaubte nun abermals auf und schüttelte in unwilliger Geste den Kopf. “Ich weiß nicht. Ich weiß ja selber noch nicht, was ich davon halten soll. Ja, vielleicht … Ich hätte es auch anders … verpacken können. Aber ich … als ich ihn dort gesehen habe, hinter der Theke, mit der Schnapsflasche …” Ihre Stimme brach und sie presste die Lippen aufeinander. Ein Glas hin und wieder war leidlich zu ertragen, aber eine ganze Flasche wühlte sorgsam begrabene, unliebsame Erinnerungen an vergangene Alkohol- und Drogenexzesse ihres Ehemannes wieder auf und schnürten ihr die Kehle zu.

Der Mann an ihrer Seite schwieg, fuhr sich durch sein kurzes, rotblondes Haar und lauschte ihrer rauen Stimme, die erst nach einigen Momenten zögerlich wieder einsetzte: “Manchmal sind wir uns so nah und dann fühle ich mich, als ob nichts und niemand zwischen uns kommen könnte und manchmal da scheint er mir so entfernt wie der Mond oder die Sterne …” Ihre Hände umfassten hart die oberste Zaunlatte, der Blick war auf das kleine Pferd geheftet - Lionels Geburtstagsgeschenk.

Natürlich hatte der Junge bereits Wochen vorher geahnt, für wen das Tier bestimmt war und konnte seine Ungeduld kaum zügeln, fieberte seinem nunmehr siebten Geburtstag entgegen. Die Kekse, die Cahira gebacken hatte und der neue Wintermantel und Stiefel wurden vom Jungen zwar mit dem gebührenden Dank bedacht, aber gegen ein eigenes Pferd kamen noch so geliebtes Gebäck oder Kleidung kaum an. Auch die Auflage, nicht alleine ausreiten zu dürfen und sich voll und ganz um das Tier kümmern zu müssen, hemmte die Begeisterung des Burschen nicht und er war kaum mehr aus dem Stall zu bekommen. Selbst Madadh schien es langsam zu viel zu werden und ließ müde die Ohren hängen, wenn sein Herrchen mal wieder den Weg Richtung Stall einschlug.

“Ich weiß genau, auf was er mit der Bemerkung, dass Hunde irgendwann langweilig werden würden, angespielt hat. Dureth hat uns einmal mit Hund und Katze verglichen. Und wie eine Katze werfe ich jedes Jahr schön brav Jungen.” Aidans Mundwinkel zuckte kurz ob der bitteren Worte der jungen Frau. “Ich weiß nicht, ob .. vielleicht passt es gerade einfach nicht. Brynja ist noch so klein, Lionel benötigt besondere Zuwendung, deren Verantwortung ich nicht gänzlich auf Kyrons Schultern lasten darf, meine Pflichten werden nicht weniger und dann die Indharimer, die Klinge braucht ihre Soldaten ... Eventuell sollte ich zu Flint gehen oder Rielaye. Du hast es selber verachtet, wenn Frauen ein Kind ums andere bekommen. Mit der Gunst der Götter hat das nichts zu tun, hast du gesagt …”

Sie hatte lose vor sich her geredet, ihren Gedanken freien Lauf gelassen, wie so oft schon in seiner Gegenwart, doch die Reaktion kam hart und vollkommen überraschend. Aidan packte ihr Handgelenk und drehte ihren Arm brutal herum, so dass sie dieser Bewegung folgen musste, und presste ihren willenlosen Leib gegen seinen angespannten Körper. Er zwang sie, seinen Blick zu erwidern. Seine Augen sprühten eiskaltes Feuer der Verachtung und Cahira japste auf. Doch noch etwas anderes schimmerte aus seinen geschlitzten Lidern - Angst?

“Du dumme Gans. Sagst, du würdest Lionel nie und nimmer etwas antun und doch willst du den Traum wohl auf vollkommen verquere Weise zur Wirklichkeit machen, hm? Wage es nicht, weiterhin darüber nachzudenken, noch es laut auszusprechen!” Jede Silbe drückte mühsame Beherrschung aus und sie wollte sich nicht ausmalen, welche Taten hinter dieser Warnung lagen. “Du wirst deinem ungeborenen Kind nichts zu Leide tun. Hast Du mich verstanden, Liebes? Ob du mich verstanden hast?”

Cahira konnte den Mann nur anstarren. Für ein Gebilde ihrer Gedanken war er atemraubend real - die warme Stärke seiner Muskeln, der Geruch von Kräutern und Holzfeuer. Der Griff um ihr Gelenk festigte sich und fing schmerzend zu brennen an. Erst als sie aufjaulte und rasch nickte, ließ er sie los und sie taumelte ein paar Schritte zurück. “Über etwas nachzusinnen und es wirklich zu tun, sind zwei paar Schuhe, Aidan.”, murmelte sie betroffen. “Ich dachte, wir können uns alles anvertrauen.”

Mit hängenden Schultern blickte sie auf, doch er war bereits verschwunden und ließ sie mit einem verwirrten Klumpen Schuld in ihrer Magengegend und einem roten, äußerst schmerzhaften Brandzeichen auf ihrer Haut zurück.
Heute war ein guter Tag.

Die Sonne stand hoch am azurblauen Himmel und auch wenn ihre Strahlen keine Wärme schenkten, so tauchten sie die Schneelandschaft in eine glitzernde, weiße Pracht, in welche die von Mensch und Tier hinein getretenen Schneisen wie dunkle Lebensadern wirkten, die die einzelnen Höfe und Ortschaft miteinander verbanden. Hier und da lugte bereits ein aberwitziges Grün durch das Weiß oder übte ein Vogel sein Frühjahresträllern.

Cahira hatte sich mit den Kindern in der geräumigen Wohnküche des Hofes eingerichtet. Sie hatte von Isabelle einen kleinen Auftrag, Fleischspeisen für den “Tanzenden Troll”, der örtlichen Gastwirtschaft in Rabenstein, zu kochen angenommen. Normalerweise bereitete sie die Mahlzeiten für ihre Familie und ohne großes Murren wurden auch die aberwitzigsten Experimente verzehrt, aber sie genoss es ebenso, ihre Gedanken vollends auf das Zusammentragen passender Rezepte und Zutaten für eine breitere Masse zu richten und auch endlich wieder deftigere Speisen zu kochen.

Während es im Kessel ordentlich blubberte und die Fleischbrühe ihren saftigen Duft durch die Stube verströmte und Cahira zwischen Töpfen, Arbeitsfläche und Vorratsregalen hin und her flatterte, saßen die Kinder am Tisch hinter ihr, plauderten, lachten. Brynja hantierte dabei mit einem Stempel aus einer harten Rübe herum, in welche der Bruder einen Stern geschnitzt hatte und verzierte nicht nur das Hadern vor ihr sondern auch den Tisch oder ihre Kleidung mit bunter Farbe. Die Mutter nahm dies leise Seufzend zur Kenntnis und richtete sich gedanklich auf einen nächstgelegenen Waschtag ein.

Lionel versuchte derweil seiner kleinen Schwester ein paar galatische Wörter beizubringen und natürlich plapperte das Mädchen die manchesmal doch recht zungenakrobatischen Begriffe falsch nach; verdrehte einige Silben dermassen, dass keineswegs das angestrebte Wort zu vernehmen war sondern ein gänzlich anderes. Dies führte zumeist bei Lionel, der die ersten Lebensjahre auf Svesur verbracht hatte und Galatisch faktisch zu seiner Muttersprache zählte, zu regelrechten Lachanfällen. Sollte Kyron die Kinder später zu Bett bringen, würde der Junge sicher noch einen Versuch starten und auch den Vater in seine Lektionen miteinbeziehen. Doch auch diese späte Lehrstunden endeten meist mit vollständiger Kapitulation.

Cahira lauschte dieser Fröhlichkeit mit Wärme im Herzen. Den Kindern ging es gut, daran war kein Zweifel, und weder Kyrons Traum noch Dureths Prophezeiung hatten sich bewahrheitet. Dennoch konnte die Braungelockte nicht leugnen, dass sie dem Jahresende bang entgegengesehen hatte. Und auch wenn sie weder ihrem Sohn etwas angetan noch freiwillig den Weg zu ihrem Gegenspieler gesucht hatte, hatten die bloßen Gedanken daran eine Macht über sie gehabt, welche sie fest im Zaum hielt.

Jedes schärfere, rügende Wort zu ihrem Sohn wurde dreimal hinterfragt oder sie hatte sich auf die Lippen gebissen, um erst gar keine Mahnung oder Strafe auszusprechen. Jeder unzufriedene Schrei von Brynja ließ sie in Mark und Bein erschüttern und sofort alles stehen und liegen lassen, um zur Tochter zu eilen und den Missstand zu beseitigen. Zudem verließ sie den Hof nur, wenn es sein musste und auch dann wählte sie nur bekannte, kurze Pfade. Deftige Suppen, Eintöpfe oder Gulasch verursachten ihr Übelkeit, die nichts mit ihrer Schwangerschaft zu tun hatte, und sie verzichtete rigoros darauf, sehr zum Leidwesen von Tochter und Sohn, die sich vermehrt mit gekochten Karotten oder Linsensuppe zufrieden geben mussten. Mit dem Jahreswechsel war diese Last von ihr abgefallen und sie fühlte sie frei, befreit wie seit langem nicht mehr.

Ja, heute war ein guter Tag. Aber es gab auch andere. Sie hatte manchmal das Gefühl, das die fortschreitende Schwangerschaft, welche sie bislang unter etwas weiterer Garderobe kaschieren konnte, jegliche Kraft nahm. An diesen Tagen kam sie kaum aus dem Bett und wären die Kinder oder die Hoftiere nicht gewesen, hätte sie wohl schlichtweg die Decke über den Kopf gezogen und sich dem Schwächeanfall hingegeben. Dann ließ sie sich weder in der Verwaltung oder der Burg blicken, auch der Hofladen blieb geschlossen und Nora wurde bemüht, auf die Kinder ein Auge zu werfen.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie bei Lionel oder Brynja diese Art von hinfälligen Schüben gehabt hatte. Entgegen ihres besseren Wissens hatte sie Aidan gefragt, ob dies normal wäre, doch das Truggebilde schwieg sich dazu aus. Nachdem er ihr Handgelenk verbrannte hatte, ließ er sich nur selten blicken und Cahira war nicht traurig darum; die Unterhaltungen mit dem Mann haben sich auf ein Maß gesteigert, die in der Öffentlichkeit kaum zu erklären gewesen wären und sie wollte zudem vermeiden, ihrem Ehemann, der Aidans Anwesenheit als schlechtes Omen gedeutet hätte, Rede und Antwort zu stehen.

Manchmal sah sie diese Kraftlosigkeit auch als eine Strafe der Götter an. Immerhin hatten jene ihre Verbindung mit nunmehr drei Kindern gesegnet und sie hatte es gewagt, daran zu denken, nein, es gar laut auszusprechen, das Kind nicht bekommen zu wollen. Es war wie mit der Geburt selber: Am Ende verfluchte wohl jede werdende Mutter ihren geschwollenen Leib, die schmerzenden Knochen und wünschte sich nichts sehnlicheres, als das neue Leben endlich aus sich herauszupressen. Als Maßnahme, Demut zu zeigen und zum Zwecke der Züchtigung hatten die Götter den eigentlichen Akt der Geburt als blutiges, schmerzendes und gefährliches Unterfangen gestaltet. Doch obwohl Cahira kleine Opfergaben kredenzte und ihren Gedanken verbot, sich wieder auf dieses gefährliche Terrain zu wagen, besserte sich ihr wankelmütiger Zustand nicht.

Eventuell würde sie doch den Weg zum Rabenhügel oder Rielaye suchen müssen, doch heute war sie von Ermattung verschont geblieben, hatte gekocht, mit den Kindern gespielt, eine ausgiebige Runde um Koppeln und Felder des Hofes gezogen. Später, nachdem sie Lionel und Brynja zu Bett gebracht hatte, würde sie mit einem heißen Tee auf dem Schoß, eingemummelt in einen dicken Mantel auf der Veranda auf Kyrons Heimkehr warten.

Heute war ein guter Tag.
Wie die meisten Ereignisse, die man über lange Zeit vorweg plante und denen man mehr oder wenig freudig entgegen sah, rauschte auch das Winterfest in einem Kaleidoskop aus Farben, Gefühlen und Gerüchen an ihr vorüber. Noch Tage später wollte sie zum Mantel am Haken bei der Tür greifen, um nach erledigtem Tagwerk gen Burg zu ziehen und erinnerte sich dann, dass nach der viertägigen Festivität und dem Abzug der Gäste es wohl an den Kammerzofen und Mägden lag, innerhalb der Festungsmauern die übliche Ordnung wieder herzustellen. Einerseits hätte Cahira noch lange so weiterfeiern mögen, andererseits wollte sie in der nächsten Zeit nichts mit Festplanung oder Organisation zu tun haben.

Als ob die Indharimer gnädig darauf gewartet hatten, dass sich alle wie gehabt dem gängigen Einerlei des Alltags hingegeben hätten, griffen sie Hohenquell an und läuteten damit die Fortsetzung des Krieges an, welcher dankenswerterweise den bisherigen Winter in einem doch recht trügerischen Frieden brach gelegen hatte. In ihrem Zustand war sie den Truppen an der Front keine große Unterstützung, dennoch machte sie sich in Begleitung ihres Leibwächters Aygo auf nach Candaria, um einige Hilfsgüter zu transportieren. Glücklicherweise schlugen sie einen gemächlichen Trab an, um die Packpferde nicht zu überfordern, dennoch spürte die junge Frau nach der Reise jeden Knochen in ihrem Körper; nach der Einlagerung der mitbrachten Güter und dem anschließenden Rundgang durch die Ortschaft, bei dem sie durch den Beamten Adelwin und Fräulein Algrid auf den aktuellsten Stand der Dinge gebracht worden war, besserte sich ihre Befindlichkeit kaum.

Obwohl sie dem Aufhebens um ihre Person dank der Adelung noch immer nichts abgewinnen konnte - und erst recht nicht in Situationen wie dem Alarmzustand im Kriegsgebiet, in welcher andere Dinge wohl wichtiger waren als das Einhalten einer starren Etikette - war sie doch ganz froh, dass sie sich nicht um eine Unterkunft sorgen musste und sie dank ihrer Stellung umstandslos ein Zimmer in der örtlichen Taverne zugewiesen bekam. Sie hatte zwar eine Tasche mit Toilettenartikeln bei sich - das rastlosen Leben als Soldat der Klinge hatte sie gelehrt, wichtige Sachen innerhalb von Augenblicken zusammenzupacken - doch als sich erstmal von Aygo zur Nacht verabschiedet hatte und die Tür ihrer Kammer hinter sich zuzog, verließen sie die Kräfte, sich aus der engen Lederkluft zu pellen und sie ließ sich auf das leise unter ihrem Gewicht aufknarrende Bett fallen. Sie dämmerte eine Weile vor sich hin; die fremden Geräusche der unbekannten Dunkelheit hielten sie wach.

“Er schläft doch nicht wieder vor der Tür, oder? Ah, doch. Ich höre ihn atmen!” Cahira konnte nicht so recht entscheiden, ob Aidan die vollkommene Pflichtversessenheit ihres Begleiters, der auf den Komfort eines Bettes zugunsten ihrer Sicherheit verzichtete, oder ihn die bloße Anwesenheit des Mannes verächtlich aufschnauben ließ. Immer hatte er sich von Adelwin eine Schlafmatte geben lassen. Sie fragte sich in der Tat, was Aygo, der mehr gab als sie zu fordern wagte, eigentlich bei ihr hielt. Bisher bestand sein Leben an ihrer Seite aus bloßen Enttäuschungen: kein Thalwälder, kein Eintritt in die Garde, kein Lohn .. und doch war er da, wenn sie ihn brauchte, ohne Fragen zu stellen, ohne Widerworte.

Sie hatte wenig Lust, ein Gespräch mit Aidan anzufangen. Vermutlich würde Aygo bei dem leisesten Anzeichen, irgendetwas stimme nicht in ihrem Zimmer, durch das dünne, hellhörige Holz brechen, in der Befürchtung, die Indharimer wären gekommen. Aber was würde der Feind schon von ihr wollen? “Ja, was würden sie wohl nur mit einer Baroness, Ministerial des Fürstenhauses, Diplomatin, Schultheiß und Zuchtmeisterin des fürstlichen Gestüts anfangen? Mir fällt da so gar nichts ein.” Sarkasmus troff wie dicker, zäher Honig über jede einzelne Silbe und ließ Cahira schlucken. “Was machst Du hier? Wenn ich Dein Ehemann wäre, hätte ich Dir verboten, hierher zu kommen. Noch dazu in Deiner Verfassung ...” Sie nagte sich für einen Moment schuldbewusst an der Unterlippe. “Er weiß gar nicht, dass Du hier bist? Soso.” Ein Teil der Garde würde in wenigen Tagen ebenfalls an die Front verlegen und da hatten der Hauptmann und der Leutnant wohl andere Dinge im Kopf außer ihren kurzen Ausflug, zudem in Begleitung. Sie hatte keinen ihrer üblichen Zettel auf dem Küchentisch gelassen in der Gewissheit, dass die Kinder bei Nora gut aufgehoben wären und sie morgen wieder zurückreisen würden.

“Willst Du mir zu Strafe und Mahnung wieder ein Brandmal verpassen?”, wisperte sie entgegen ihren Willen gen Zimmerdecke hinauf. Das Zeichen war mittlerweile zu einem hellen Ring umrund ihres Handgelenks verblasst und weder der Schmerz noch der Umstand, das ein Geist ihres eigenen Verstandes dazu in der Lage war, bargen Entsetzen. Dass die Verwundung keine ihrer Einbildungen war, hatte Valyras Frage nach dem Mal bestätigt. Aidan raufte sich in hilfloser Gest durch das kurze Haar. “Um Dich Sturkopf aufzuhalten, müsste ich Dich wohl gänzlich auf einen Scheiterhaufen werfen …” Kaum, dass er die Worte ausgesprochen hatte, zog der Mann etwas schärfer den Atem ein und sie konnte sich vorstellen, wie sich seine fein geschnittenen Gesichtszüge dabei zu einer reuigen Grimasse verzogen. Er hatte kein angenehmes Thema für einen Hexer angeschnitten, wobei “angenehmen” noch milde ausgedrückt war.

Cahira erschauderte. Sie hatte den Tod durch die “reinigenden Flammen”, wie es die Kirche nannte, ein paar Mal miterlebt, zuletzt bei Ghalens Gefährtin Morana. Für sie war es mit der schlimmste Tod, den man sich nur vorstellen konnte. Aidans Aussage erinnerte sie an ein kurzes Gespräch am Rande des Winterfestes, und sie drückte sich empor, um ihm durch das Dämmerlicht, welches der hell und klar am dunklen Firmament stehende Mond leidlich spendete,   ins Gesicht sehen zu können. “Stimmt es, dass die Kirche auch die Familien derjenigen, welche der Hexerei als schuldig befunden wurden, auszulöschen versucht?” “Keine Ahnung.” Unwohl rollte der Mann mit den Schultern. Nein, das war eindeutig kein Sachverhalt, den er gerne diskutieren wollte. “Stimmt es?”, drängte sie ihn irrwitzigerweise zu der Antwort, welche sie doch bereits kannte. “Ja, verdammt. Ja. Wie die Bluthunde sind sie hinter den Nachkommen, der Familie her und ruhen erst, wenn sie alles und jeden den Flammen überantwortet haben. Bist Du nun zufrieden?” Seine Stimme war tonlos, endgültig und doch meinte sie einen bekannten Unterton darin zu hören, wie schon einmal als er sie am Ende verletzt hatte.

“Du hast Angst.”, stellte sie nach einigen Augenblicken zögernd fest. Es passte so ganz und gar nicht zu dem Aidan, den sie auf Svesur gekannt hatte. “Natürlich habe ich Angst um uns. Es sind gefährliche Zeiten. Und Du bist nicht mehr die Kriegerin, nicht mehr die einfache Frau die Du vielleicht gewesen bist.” Die Worte berührten und erschütterten sie gleichermaßen. Vermutlich war sie leichtfertig, weil sie sich noch an die Vergangenheit klammerte, und brachte somit nicht nur sich selber in Gefahr. Das Kind unter ihrem Herzen schien schwerer als sonst zu wiegen. “Und wenn ich verspreche, vorsichtiger zu sein?” Ihre Finger griffen hart in die mit guter Zackelschafwolle gefüllten Matratze und sie beobachtete, wie er zwei gemächlichen Schritten auf sie zukam und sich hinunter beugte. Mit sanfter Resignation hauchte Aidan ihr einen Kuss auf die Stirn. “Ich fürchte, Du wirst dieses Versprechen kaum einhalten können, Kätzchen.”
Spoiler - eventuell kritischer Inhalt

Es war still im Haus. Die Vorhänge waren sorgsam vor die Fenster gezogen worden, um Licht und Geräusche nur gedämpft hereinzulassen. Wahrscheinlich war es auch Nora gewesen, die das Bettzeug notdürftig ausgewechselt, sie von Blut und Schweiß gesäubert und schließlich in ein neues Nachtgewand gesteckt hatte. Die gebürtige Rabensteinerin, die über zehn Ecken mit Flint, dem örtlichen Heiler verwandt war - in gewisser Hinsicht schienen Ravinsthaler Verwandtschaftsbande noch verworrener als die von Galatischen Sippen - und von jenem als zuverlässige Hilfe auch empfohlen worden war, hatte sich vom gelegentlichen Kindermädchen zur dauerhaften Haushälterin entwickelt und ging im Eichenhof wie selbstverständlich ein und aus.

Gerade in den letzten Wochen vor der Niederkunft wollte es Cahira ruhiger angehen - keine Ausflüge an die Front, Ausstellungseröffnungen oder Planungstreffen, vielleicht hin und wieder etwas Schreibarbeit und natürlich das übliche Tagewerk auf dem Hof. Ihr blieb schließlich auch nichts anderes übrig, als ihre Routine an ihre Schwangerschaft anzupassen. Alles ging langsamer, gemächlicher vonstatten, während Beine und Rücken unaufhörlich schmerzten, der gewaltig vorgewölbte Bauch eigentlich ständig im Weg war und ihr Atem bei jeder kleinsten Anstrengung von einem leisen Pfeifen, welches sie zur Pause gemahnte, begleitet wurde. Nora hatte sich als wahres Göttergeschenk erwiesen und nach anfänglichem Fremdeln hatten auch Lionel und Brynja die junge, beleibte Frau gleichfalls ins Herz geschlossen.

Cahira war schwindelig, schlecht und ihr Unterleib fühlte sich an, als ob er zweigeteilt und dilettantisch wieder zusammengenäht worden war und dieser körperliche Schmerz überlagerte jegliche Gefühlsregung wie ein Tier mit scharfen Zähnen und Klauen. Es hatte sie einiges an Mühe, vor allem Beharrlichkeit, gekostet, sich aus dem Bett Richtung Wiege zu kämpfen. Sie richtete den Blick verloren auf das Kind, welches darin lag. Ein Junge. Ein perfekter, kleiner Junge, mit zehn Fingern und Zehen, die Haut durchscheinend, ein feiner Flaum auf dem runden Kopf.

Die Leiter zur Schlafkammer knarrte und wenig später steckte Nora den Kopf durch die Luke, einen leisen Fluch auf den Lippen, gleichermaßen für den schmalen, steilen Aufgang als auch Cahiras Anblick, schob ihren runden Leib gänzlich empor und sparte nicht mit mütterlich anmutenden Vorwürfen. Wie zur Rechtfertigung murmelte die Braunhaarige: “Ich musste ihn sehen. Er ist wunderschön, nicht wahr?” Nora unterbrach ihre Schimpftirade über Starrsinn und Leichtsinnigkeit und nickte folgsam: “Ja, das ist er.” Für einige stille Momente standen die beiden Frauen an der Wiege und betrachteten den Säugling, doch ehe Nora die Wöchnerin mit sanfter Gewalt wieder ins Bett dirigieren konnte, meinte jene vollkommen gedankenverloren: “Eoghan. Es bedeutet mutiger junger Krieger in der Heimat meiner Sippe. Das ist ein passender Name.” Die Haushälterin brubbelte nur dezente Zustimmung und nahm stattdessen ihren Versuch wieder auf, Cahira von der Wiege wegzulotsen. “Lionel und Brynja?”, merkte Cahira plötzlich schreckhaft auf. “Sind noch bei meiner Schwester.”, kam die beruhigende Antwort.

Nora hatte die Kinder zur Ausstellung begleitet  - Lionel lag der Mutter schon seit Tagen in den Ohren damit und wurde immer quengeliger - und bei ihrer Schwester zum Geburtstag des Neffen abgesetzt. Cahira hatte ohne Kinder und ohne Mann, der noch immer an der Front weilte um sich für den Heimritt auszukurieren, einen ereignislosen Tag verbracht und war nach einem einfachen Abendessen und einer Kanne Tee aus Noras Vorrat früh zu Bett gegangen. Die Haushälterin, die doch nochmal zum einsamen Hof zurückgekehrt war, um nach der Schwangeren zu sehen, fand Cahira in heftigen Wehen liegend. Es war eine recht schnelle, dafür umso schwerere Geburt. Das Kind hatte sich nicht richtig gedreht und kam in Steißlage zur Welt. Nora blieb die ganze Zeit an Cahiras Seite, die vor allem aufgrund des Blutverlustes kurz nach Noras freudigen Ausruf “Es ist ein Junge!” in Bewusstlosigkeit versackte.

“Wusstet ihr, dass Kyron einmal geträumt hatte, ich würde ihm seinen Sohn nehmen?”, wisperte Cahira, die blanken Augen auf den jüngst Eoghan benannten Sohn gerichtet. “Er wird mir das nie verzeihen. Ich werde mir das nie verzeihen. Wie soll ich ihm .. das sagen … wie ...” Nora blinzelte und wusste daraufhin nichts zu erwidern. Es schien ohnehin gleichgültig, kein vernünftig gesprochenes Wort würde den momentan verwirrten, von Pein gemarterten Geist erreichen. Stattdessen besann sich die rundliche Haushälterin auf das Wesentliche: “Das wird sich alles fügen. Ihr solltet nun ruhen. Sonst bekommt ihr noch das Fieber. Oder habt es bereits schon ...”, fügte sie leiser hinzu, als sie Cahias glühenden Arm griff, um sie nun endlich langsam, aber bestimmt Richtung Bett zu führen.

Sie beobachtete die mitgenommene junge Frau noch einen Moment um sicherzustellen, dass jene auch wirklich liegen blieb und wandte sich zurück zur Wiege. Mit einem leisen Seufzer zog sie den dünnen, unordentlich geratenen Stoff über das Gesicht des Neugeborenen.

Und bleiernes Schweigen legte sich wieder über Haus und Hof.
Jedem gebürtigen Ravinsthaler war die Abneigung gegen den Thalwald wohl mit der Muttermilch eingeflößt worden. Jede Mutter, die etwas auf sich hielt, fügte ihren Drohungen gegen aberwitzige Zöglinge noch ein “ .. sonst setze ich Dich im Thalwald aus.” hinzu, um die Ernsthaftigkeit ihrer Worte zu unterstreichen. Aus diesem urwüchsigen Waldgebiet kam einfach nichts Gutes und die jüngsten Ereignisse von wilden, fleischfressenden Pflanzen oder Riesen bestätigten diesen Aberglauben noch.

Nora stellte da keine Ausnahme dar. Dennoch trugen sie ihre im Vergleich zum restlichen fülligen Körper eher zierlichen Füßen genau Richtung Waldrand, vorbei an den Koppeln und Feldern des Mühlen- und Jägerhofes. Ihre raschen Schritte wirbelten den Nebel auf, der wie zartes Wattegespinst den Boden bedeckte, bis die Wärme der Sonne des anbrechenden Tages ihn vertreiben würde. Zum Schutz vor der morgendlichen Kälte und dem Zittern, welches sich dank einer schlaflosen anstrengenden Nacht in ihre Glieder gefressen hatte, hatte die Frau eine wollene Stola um ihre runden Schultern gezogen, ein Weidenkorb schaukelte an ihrer Armbeuge.

Sie folgte einem schmalen Pfad, der von Holzfällern oder Jägern ins Unterholz getreten worden war, dann bog sie unvermittelt ab und tauchte unter tief herabhängenden Ästen hindurch, schlängelte sich um eine moosbewachsene Baumgruppe, sprang über einen kleinen Bachlauf und bewegte sich so in einer wohl nur in ihrem Kopf existierender Spirale tiefer und tiefer in den Wald hinein.

Ab und zu strauchelte sie - der Boden war uneben, voll mit Pilzen, bewachsenen Steinen und knorrigen Wurzeln - oder lief geradewegs in eine Dornenhecke, aus der sie sich mit emsigen Reißen und Flüchen befreite. Doch achtete sie penibel darauf, dass dem Korb nichts geschah und schützte ihn mit ihrem anderen Arm oder der Körperseite. Nach einer gefühlten Ewigkeit des stolprigen Wanderns lichtete sich der Wald zu einem kleinen Hain. Ein von einem Blitz gefällter Baumstamm lag quer im weichen Gras; die andere Hälfte ragte wie ein verbrannter mahnender Finger in den Himmel. Noras Wangen waren vom schnellen Lauf gerötet, ihr Herz schlug Kapriolen, als sie sich umblickte und den Korb enger an ihren Körper drückte. “Ihr Götter, was mache ich hier nur?”, murmelte sie halblaut in die vermeintliche Einsamkeit der Lichtung.

“Die Götter haben damit wenig zu tun, Liebes!”

Nora hatte schon immer eine romantische Ader. Als älteste von sieben Kindern wohnte sie noch immer in Rabenstein unverheiratet bei ihren Eltern und sorgte für deren Haushalt. Ihre Geschwister hatten mittlerweile alle selber eine Familie gegründet, doch kein Mann konnte Noras schwärmerischer Vorstellung einer alles verzehrenden, vor allem aufregenden Liebe erfüllen. Bis er in ihr Leben getreten war.

Hochgewachsen, schlank, mit einer weichen Stimme in der Klangfarbe der galatischen Inseln. Das rotblonde Haar unterstrich seine edlen, feingeschnittenen Züge und seine hellblauen Augen schienen geradewegs in ihre Seele zu blicken. Er hatte hervorragende Manieren, wusste sich mit Worten, die Nora gar nicht kannte, auszudrücken. Ein schöner Mann … wenn da nicht die Brandnarben gewesen wären, die eine Hälfte seines Gesichts zerstörten und sich teilweise blau geädert über seine Unterarme zogen. Jede andere hätte ihn wohl gemieden, doch gerade diese Mischung aus Perfektion und eindeutiger Verletzbarkeit hüllte ihn für Nora in ein anziehendes Mysterium. Es war eine aufregende Zeit der heimliche Treffen - er mied aus offensichtlichen Gründen die Öffentlichkeit und wollte natürlich auch ihren Ruf nicht gefährden -  und zarten Tändeleien. Zuvor hatte sie auch eine Stelle als Kindermädchen bei Familie Mendoza angenommen - kurzum, die Götter schienen endlich ein Einsehen zu haben und das Leben wandte sich scheinbar glücklicheren Pfaden zu.

Umso tiefer war die Enttäuschung, als der Mann ihres Herzens auf verquere Weise nicht an ihr, sondern an ihrer Dienstherrin interessiert war und Nora selber nur Mittel zum Zweck. Die Ministerial hatte in ihren Augen alles - eine Familie, ein Anwesen, eine ausgezeichnete Stellung - warum nun auch noch den einen Mann, der sich für sie interessierte? Nora wusste es nicht, aber gerade diese endgültige Desillusion, gepaart mit neidischer Eifersucht, hatten es ihm leicht gemacht, in ihren Geist einzudringen und sie zu kontrollieren. Sie trafen sich an Stellen, zu denen sein Wille sie hinführte, sie berichtete ihm alles, was auf dem Eichenhof vor sich ging. Und nun standen sie dort auf dieser Lichtung mitten im Thalwald und Aidan streckte seine Hand aus.

“Gib mir den Korb, Nora.” Sie gehorchte, wenn auch widerwillig. “Hat Dich jemand gesehen? Der Leutnant, Leibwächter, Ritter, irgendwer …?” Sie schüttelte den Kopf. Zugegebenermaßen hatte sie auch nicht sonderlich darauf geachtet. Zum einen war es weit vor Tagesanbruch, zum anderen ging sie bereits seit einer geraumen Weile auf dem Eichenhof ein und aus, so dass ihre Anwesenheit keinen Verdacht hervorrufen sollte.

Nicht nur Nora sah übernächtigt aus, auch um seine Augen breiteten sich Schatten aus, Falten hatte sich tief umrund seiner Mundwinkel gegraben und vermutlich war diese Erschöpfung auch der Grund, dass sich seine eiserne Kandare, die sich um ihren Verstand spannte, etwas lockerte. Vorsichtig griff er mit weichen Fingern in den Korb. Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass er einen Säugling in seinen Armen hielt. Das Kind war keine zwei Stunden alt, die Haut noch rot und runzelig, die kleinen Augen zusammengekniffen und für Momente betrachtete der Mann wie verzückt das Kind, schien die unwirtliche Umgebung sowie ihre Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Je länger dieser Augenblick dauerte, umso unwohler wurde Nora zumute, bis sie ihm den Jungen am liebsten hätte entreißen mögen. Es war nicht richtig, es war falsch, ganz und gar falsch …

“Du hast es mit dem Tee übertrieben. Wir hätten sie beinahe beide verloren.”, gurrte Aidan schließlich dem Kind entgegen, doch ein eisig, markerschütternder Blick glitt zu Nora hinüber. “Ich habe nicht, ich kann nicht … sie hat ihn sich selber aufgebrüht.”, schluckte die rundliche Frau nervös und knetete ihr Taschentuch, welches sie aus ihrer Rocktasche gezogen hatte, nachdem ihre Hände leer, dem Korb beraubt worden waren. “Und was hätte es Dich interessiert, wenn Cahira gestorben wäre? Du wolltest das Kind, Du hast das Kind!” Sie trat dabei ein paar Schritte rückwärts und wäre beinahe über eine Wurzel gestolpert.

Aidan hob den Kopf nun gänzlich an. Das klare Morgenlicht fraß sich in seine Narben und ließen sein Gesicht wie eine gräßliche Maske aussehen, bei der man nicht genau wusste, welche Seite die Verkleidung darstellen sollte. “Sie hat mir mein Leben genommen. Ihr habe ich mein gutes Aussehen zu verdanken … “ Dabei grinste er hämisch auf. “Und weißt Du, wie es ist, sich aus einer Sucht heraus selber aus der Scheiße zu ziehen? Und nun nehme ich ihr ein Teil ihres Lebens. Ich will, dass sie leidet, so wie ich gelitten haben. Wenn sie gestorben wäre, hätte es mir nichts genützt.” Die Stimme war kühl und berechnend, so wie Nora sie noch nie vernommen hatte. “Und dieser Junge … er ist etwas besonderes. So wie alle Männer dieser Familie.” Er wandte sich wieder dem Säugling zu, der über diesen Monolog begonnen hatte, unleidlich zu greinen. “Du hast Hunger, mein Kleiner, nicht wahr? Jaaa, ruhig.“ Leise stimmte Aidan eine tragende Melodie an, die Nora schon von Cahira gehört hatte, ein galatisches Schlaflied.

“Sie werden Dich finden, da bin ich mir sicher. Und dann .. “, begehrte das Kindermädchen hilflos auf und drehte einen Knoten in das zerschundene Taschentuch. “Der Leutnant, er wird Dich jagen wie ein Tier … Er ist ein gnadenloser Mann und zwischen Mutter und Kind … da besteht eine Verbindung … ” Aidan lauschte milde amüsiert und unterbrach das Gestammel mit einer herrischen Geste. “Nach all’ dem Leid, welches sie bis dahin durchlitten haben, wäre das nicht das größte Geschenk, den Sohn lebend und wohlbehalten in die Arme schließen zu können? Sollen sie nur kommen, aber bis dahin bekomme ich meine Genugtuung. Geh’ nun, Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.”

Nora schluckte hart und wusste nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu tun. Sie kam gegen ihn nicht an, weder körperlich noch geistig, auch wenn er nicht auf dem Höhepunkt seiner Kräfte war, hatte er sie vollkommen in der Hand. Langsam wandte sie sich ab, doch seine Stimme hielt sie noch einmal zurück. “Hast Du nicht noch etwas vergessen, Liebes?” Er nickte deutend zu einem zweiten Korb, den er mitgebracht hatte. Nora erstarrte, der Blick schwirrte vom Korb zu Aidan und wieder zurück. “Ist es ... woher …”, hauchte sie ergriffen und nahm das Behältnis an sich, warf einen kurzen Blick hinein und erbleichte. “Ja, ist es. Das willst Du nicht wissen.” Er hatte immerhin so viel Anstand, bedrückt auszusehen und einmal schwer zu seufzen. “Deine Erinnerung an mich wird mit jedem Schritt, den Du Dich von diesem Ort entfernst, verblassen, und dann wird auch für Dich die traurige Wahrheit darin bestehen, dass das Kind, der jüngste Mendoza Spross, eine frühe Totgeburt war.”

Nora leckte sich die trockenen Lippen. “Hatten wir jeh eine Aussicht, also Du und ich …?” “In einem anderen Leben, vielleicht. In diesem hier, nein. Slàn leibh, Nora!” Aidan war mit dem Säugling im nächsten Atemzug verschwunden und ließ eine verwirrte rundliche Frau und einen Korb mit einem toten Kind zurück.
Alles ist nur Übergang.
Merke wohl die ernsten Worte:
Von der Stunde, von dem Orte
Treibt dich eingepflanzter Drang.
Tod ist Leben, Sterben Pforte.
Alles ist nur Übergang.


~ Brückeninschrift in Wien

Die schwarze Stute war ein Schemen zwischen mondschattigen Bäumen, ihr selbstzufriedenes Schnauben und das Mahlen ihrer Zähne kaum mehr als ein weiterer Klang im Lied des nächtlichen Waldes. Fischäugig und kopfscheu wie sie war, ebenso schnell und sanft waren ihre Schritte, Balsam für die gepeinigten Rippen die Kyrons Heimreise ins schier Unendliche verzögert hatten. Die Rappstute war eben wie ihr Reiter; ein Desaster, das unter bestimmten Umständen und zu bestimmten Konditionen Unmögliches zu leisten vermochte, und doch nie von dem ihr angedachten Pfad durch dieses Jammertal abkommen konnte.
Seit dem Moment an dem die Wehen eingesetzt hatten, war Kyron mehr von Nora als seiner Frau vor die Türen verbannt worden, und nachdem die ersten zehn Stunden des vereinzelten Schreiens und Ächzens und der motivierenden Zurufe Gesellschaft von widerlichem Sprühregen bekommen hatten, hatte Kyron sein Heil in der Flucht zu Pferd gesucht und die Stadt patroulliert. Ohne Rüstung und kaum fähig sich ordentlich im Sattel zu halten, aber umso entschlossener.
Es war nicht seine beste Idee gewesen, soviel wagte er sich einzugestehen. Ein weiteres Desaster. Ein kataklysmischer Fehlentschluss gar.

Es war die Stille gewesen, die ihn gewarnt hatte. Das sonst so lebendige, Frohsinn atmende Haus saß in seiner kleinen Lichtung wie ein Fels, tot und reglos, still und verschlossen. Keine Kinderschreie, kein Säuglingsweinen, kein Licht in der Küche, nur sanftes, bedecktes Kerzenflackern im oberen Stockwerk. Kyron hatte seine Rappstute bereits am sonst so einladenden Torbogen gezügelt, zähnebleckend ob der leeren, schwarzen Wolke die über dem Gehöft hing, und er hatte der Feigheit nachgegeben.
Das Ross gewendet, davon galoppiert, trotz der stechenden Schmerzen in seiner Seite. Direkt in den Wald, verrufen wie er war, ohne Gedanken an die Wölfe und Eber, die Geister und Flüche, bis er eine kleine Lichtung erreicht hatte. Alles war besser als nach Hause zu gehen.
Das Wispern der schwarzen Thalwaldstimmen plätscherte unerschütterlich wie stets an ihm vorbei, stieß auf taube Ohren mit den Verlockungen, Versprechungen, verräterischen Gedanken, Erzählungen, Lügengeschichten. Der Wald war stets eine gute Übung gewesen, sowohl für ihn als auch zunehmend für seinen Sohn, aber an diesem Abend kostete es keine zusätzliche Kraft, sich den Stimmen zu verschließen. Nein, in dieser Nacht war nichts in Kyron bereit, sich mit der Anderswelt auch nur einen Atemzug lang zu beschäftigen.

Was soll ich tun?

Die alles entscheidende Frage blieb unbeantwortet. Schlimmer noch, selbst nach zwei Stunden des Nachdenkens wollte Kyron niemand einfallen, den er zu dieser Angelegenheit befragen konnte. Niemand, der statt Mitleidsbekundungen mit kaltem Kalkül herangehen und ihm in praktischen Worten sagen würde, wie er sich verhalten sollte und was er tun oder nicht tun sollte. Keine Mutter, die ihm weise Ratschläge geben konnte, kein Vater der es ihm vorgelebt hatte, keine Anvertrauten, die weit genug von ihm und Cahira entfernt gewesen wären um nicht selbst im Elend zu versinken. Sein Buchwissen gab ihm nur wenig Aufschluss, rieten doch die meisten Bücher zu Etikette dazu, dass der Ehemann der Fels in der Brandung für seine Frau sein sollte, ohne allerdings ins Detail dazu zu gehen, wie ein solcher Fels sich denn schlussendlich gab. Kalt, hart und unerschütterlich? Das klang doch recht grausam und erschien selbst Kyron wie ein inadäquates Mittel. Jovial und optimistisch im Angesicht der Tragödie? Nein, das wäre zu nahe an einer Lüge gewesen, denn weder befand Kyron sich als Optimist, noch war er jemals sonderlich fröhlich. Sachlich und produktiv? Das war Cahiras Bereich, nicht der seine, und es fühlte sich schlicht zu distanziert an.

Mein Kind ist tot.
Den Toten ist nicht mehr zu helfen, denk an die Lebenden.


Mit einem Schaudern schüttelte Kyron die alte Frauenstimme ab, knirschte die Zähne gegen die letzten Nachwehen des Schmerzes und drückte sich hoch. Was zu tun war erschien ihm immer noch wie ein Rätsel, aber die Kälte würde ihn früher oder später hinein treiben. Und wenn man keine Antwort hatte, so war es stets der vernünftigste Weg, mehr Informationen zu besorgen. Wie zum Beispiel herauszufinden was passiert war, wie es Cahira ging, wo der Säugling war, ein Grab für die seelenlosen Überreste auszuheben, ein Brett zu schnitzen um das Grab zu kennzeichnen,... praktische Dinge. Dinge, die mit Gefühlen nichts zutun hatten. Kalte Dinge, die Cahira die Pflicht abnahmen.
Die Stute hob den Kopf und setzte sich in Gang, ihm wie selbstverständlich folgend als er sich gedankenverloren auf den Rückweg machte. An Reiten war nun nicht zu denken, es würde ihm viel zu viel Denkzeit abnehmen, und dank der Frühnebel würde er einen Beinbruch am Ross riskieren den er an diesem Tag ganz sicherlich nicht auf sich lasten wollte.
Erst als er auf dem Karrenweg zum Hof ankam, bemerkte er die rundliche, ungelenke Gestalt Noras, die mit einem Weidenkorb zielstrebig auf sein Heim zuhielt, die Schritte zögerlich und unkonzentriert, mal schneller, mal langsamer, begleitet von einem Murmeln als würde sie unter dem Atem zu sich selbst sprechen, während sie den Korb mal an sich drückte, mal wie einen verkrätzten Welpen von sich hielt.

Die verplapperte Frau war allerdings die letzte Person, die er gerade sehen wollte, und so folgte er ihr mit einigem Abstand, ließ sie das Haus zuerst betreten, ließ sie Lichter entzünden, und lauschte mit hüpfendem Herzen und brennendem Magen dem kurze Zeit später einsetzenden Klageweinen aus dem ersten Stock.
Niemals waren Schritte so schwer gewesen, wie an diesem Abend und durch diese Tür.
Cahira hatte es nie gesehen, oder zumindest nie gestört, dass ihr Geburtshaus im Grunde genommen nur eine abbruchreife Hütte gewesen war, die selbst die Bezeichnung “Bauernhof” zu Unrecht getragen hatte. Neben dem Haupthaus mit seinen zwei Räumen - der Wohnküche und der Schlafkammer - gab es noch einen Verschlag für die wenigen Tiere und einen Schuppen für die alten, rostigen Arbeitsgerätschaften für Feld und Koppel. Das Dach war zum großen Teil mit Stroh bedeckt, welches Vater und Brüder jeweils zum Winter hin auswechselten. In lauen Sommernächten konnte Cahira den Sternenhimmel durch dieses grobe Flechtwerk sehen; während der kalten Jahreszeit musste die Familie so manch’ eisige Nacht bei den Tieren verbringen, um sich an deren Leibern zu wärmen.

Doch trotz aller widrigen Umstände, die Armut nun einmal mit sich brachte, würde Cahira aus dem vollen Brustton der Überzeugung auf die Frage, ob sie eine schöne Kindheit dort in Silendirs Weizenfeldern unter dem azurblauen Himmel verbracht hatte, antworten: “Ja, ich hatte die beste Kindheit, die man sich nur denken konnte!” Denn ein wichtiger Faktor hatte zu dieser Sicht beigetragen: die Liebe Idas, die ihre Familie mit Herzenswärme, Zuversicht und Freundlichkeit zusammengehalten hatte, so misslich die Lage auch gewesen sein mochte.

Ida hatte über die Scherze ihrer Söhne gelacht, ihnen über erste Liebesnöte hinweg geholfen, hatte ihre Tochter zu Eigenständigkeit erzogen, ihr nahe gebracht, wie wichtig es war, dem Herzen zu folgen und hatte die beständigen Sorgen des Ehemannes, wie er seine Familie mit dem mageren Auskommen des Hofes ernähren sollte, unzählige Abenden bei einem unstet flackernden Talglicht mit guter Zurede gemildert. Sie hatte bei den Nachbarn dank ihrer Kenntnisse in Kräuterkunde als Hebamme und Heilerin ausgeholfen und wirklich jeder beschrieb die kleine, runde Frau, die einem zahmen Rebhuhn glich, als einen wahren Segen der Götter.

Als Ida starb, änderte sich alles. Der Hof wirkte nach ihrem Tod so schäbig, wie er tatsächlich war, Vater schlich mit gekrümmten Buckel umher, die Brüder, immer zu Scherz und Schabernack aufgelegt, war sämtlicher Humor abhanden gekommen, Nachbarn und Freunde blieben fern und Cahira fühlte sich so verlassen wie nie zuvor ihrem Leben. Es war, als ob jegliches Licht verschwunden war und sich eine dunkle Wolke über Hof und Gemüter der Teahans geschoben hatte.

Viel später, auf Svesur, als Cahira selber daran geglaubt hatte, Familie und Kameraden verloren zu haben, da hatte sie ihren Vater gefragt, wie er diese Zeit damals nach Mutters Tod überstehen konnte. “Ich hatte doch euch, mein Kätzchen. Dich und deine Brüder.” Und diese Antwort beschämte sie, denn Jonathan und Jovane waren nach Svesur abgewandert, und sie selber hatte in Guldenach eine Anstellung als Nachtwächter und Rattenjäger angenommen. Sie und ihre Brüder waren im Grunde genommen vor dieser unsäglichen Traurigkeit geflohen und Cahira hätte kaum sagen können, womit sie ihm genau geholfen haben sollte. Sie hatte ihn besucht, in der Tat, und später hatte sie ihn bei sich aufgenommen - eine stürmische Zeit, denn Schwiegervater und Ehemann verstanden sich nicht recht unter einem Dach  - ehe auch er entschieden hatte, zu seiner Sippe auf die Inseln zurückzukehren, aber ansonsten ....

Zugegebenermaßen, sie zählte keine sechzehn Jahre mehr und hatte ein totes Kind zu beklagen, doch der Effekt schien derselbe zu sein. Es war etwas, worauf Cahira immer viel Wert gelegt hatte, ein Heim zu erschaffen, in dem man sich wohl fühlen konnte, aber dieser Tage bestand auch dieses Heim nur aus zusammengezimmerten, wurmstichigen Brettern und diente lediglich als Ort für unruhigen Schlaf, schnelle Mahlzeiten und Schutz vor den Unbillen des Wetters, denn der Tod des Sohnes hatte ein schwarzes, Optimismus und Frohsinn verschlingendes Loch in ihr Inneres gerissen. Und dieses Loch zog Bewohner und Atmosphäre des Hofes in deprimierende Mitleidenschaft.

Sobald Nora keinen Herzanfall mehr bekam, wenn sie auch nur einen Fuß vor das Bett setzte, hatte Cahira sich fliehend vor den trüben Gedanken in die Arbeit gestürzt. Ihr wenn auch kurzes Wochenbett hatte das Tagwerk auf dem Hof zum Erliegen gebracht, und sie musste dieses Versäumnis aufholen, wenn sie zum Herbst hin eine gute Ernte haben wollte. Zudem fingen einige Akten in der Verwaltung bereits an, Staub anzusetzen und sie wusste auch gar nicht mehr so recht, wann sie sich das letzte Mal auf Burg Rabenstein gezeigt hatte, obwohl sie mutmaßte, dass in den Wirrungen des Krieges, der seine Finger auch nach Ravinsthal ausgestreckt hielt, ihr Fernbleiben gar nicht groß ins Gewicht gefallen war.

Nora schien auch noch vollkommen mitgenommen von den Ereignissen der Niederkunft. Die Haushälterin wirkte zerstreut, nicht gänzlich sie selbst und oftmals wollte sie etwas sagen, doch kaum, dass sie den Mund öffnete, war ihr der Gedanke wohl entfallen. Beim haltlosen Herumwühlen in ihren Rocktaschen war ein verknotetes Taschentuch auf den Boden gefallen, und als Cahira es aufhob mit den Worten “An was wolltet ihr euch erinnern? Deswegen macht man doch Knoten in ein Taschentuch, oder?”, war die rundliche Frau vollkommen erbleicht, hatte das Tuch regelrecht an sich gerissen und war davon gestürmt. Dennoch blieb Nora in ihren Diensten, kümmerte sich um die Kinder, putze, wusch und kochte und brachte Cahira mit den neuesten Klatschgeschichten aus Rabenstein auf andere Gedanken.

Bei einem der gemeinsamen Abendessen musterte sie ihren Ehemann, der ihr gegenüber saß und schweigend mit den vorsichtigen Bewegungen noch nicht gänzlich verheilter Verletzungen Linsensuppe löffelte, und fragte sich unwillkürlich, ob seine verfrühte Wiederaufnahme des Dienstes in der Garde auch eine Art Flucht sein mochte. Kyron war ohnehin recht umtriebig, aber die Rüstung schmerzte ihn noch und er hätte durchaus ein paar Tage länger Erholung nötig. Sie redeten wenig über den Tod des Sohnes und Cahira machte ihrem Ehemann keinesfalls Vorwürfe, denn sie wusste auch ohne großartige Beteuerungen, das er da sein würde, wenn sie ihn brauchte - auf seine Art und Weise. Er hatte dies bereits gezeigt, als er mit den schwersten Part vollbracht und den Sohn beerdigt hatte.

Lionel, der sonst immer munter vom Tag erzählte, seinem Pony oder den neuesten Kunststücken von Madadh, rührte mit dem Löffel in der Suppe. Natürlich wollte er Fragen zu seinem Bruder stellen, er war immerhin ein siebenjähriger, wissbegieriger Junge, aber das verbot ihm das blasse, eingefallene Gesicht Cahiras, so dass er seine Neugier und jungenhafte Wildheit unterdrückte. Er hatte die drei Holzsoldaten, die Kordian ihm geschnitzt hatte, Kyron am Tag der Beerdigung gegeben: “Für Eoghan. Er hätte die bestimmt gemocht.” Und Brynja, ansonsten munter und rotwangig, die ihrem Bruder alles nachäffte, ließ sich auch jetzt von seiner Bedachtheit zugunsten der leidenden Mutter anstecken und schlich wie ein kleiner, leiser Schatten im Haus und hinter dem Jungen her. Natürlich war Lionel dies manchmal recht lästig, aber in Anbetracht der Umstände ließ er sie gewähren.

Cahira wusste nicht, was an jenem Abend so besonders war, denn eigentlich war es ein Abend wie andere zuvor auch, doch als sie ihren Blick über Kinder, Ehemann und Haushälterin schweifen ließ, Kyron sie fragend über den Tisch hinweg an blickte, Lionel unterdrückt aufstieß, da er zu rasch einige Schlucken Wasser getrunken hatte, Brynja fröhlich kicherte, Nora gespielt tadelnd den Kopf schüttelte, hoben sich die Mundwinkel ganz von selbst zu einem zaghaften Lächeln, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. Es war ein gutes Gefühl; ein Gefühl welches die dunkle Leere in ihrem Herzen ein klein wenig mit Helligkeit füllte.

Und in diesem Moment wusste sie, welche Antwort sie ihren Kindern geben würde, sollten jene einmal fragen, wie sie trostlose Zeiten überstanden hätte: “Ich hatte doch euch und euren Vater.”
Sonnenstrahlen zogen ihre frühlingsschwangeren Klauen durch die Nachtkälte, krochen über taufeuchte Wände und Schindeln. Momente später erbrachen sie sich in die Schlafkammern des Mendoza’schen Anwesens, allem Anschein nach mit der Absicht, jedermanns Schlaf zu stören. Nicht dass sie jemand anders als ein Kleinkind vorfanden, denn der Rest der Familie hatte die Federn bereits verlassen. Oder - wie im Falle des oftmals absenten Familienoberhauptes - niemals aufgesucht. Eine Wöchnerin hatte zu ruhen, zumindest wenn es nach dem lokalen Heilweib und dem Kindermädchen Nora ging. Natürlich musste ein Mann da den Platz räumen und mit einer Matte vor dem Kamin vorlieb nehmen, gar keine Frage! Selbst dann noch, wenn die Frau halbherzigen Protest einlegte und darauf verwies, dass die Wöchnerwoche schon lange vorbei war. Um sicher zu gehen, wie Lionels Vater betonte, nur um sicher zu gehen! Aber selbst Lionel hatte inzwischen seinen Verdacht bezüglich seines Vaters und dessen plötzlicher Bettflucht: Geister. Natürlich böse, natürlich unter seinem Bett.
Das beste Mittel gegen Geister war Salz und Asche, das wusste jedes Kind, außer die Dummen. Zumindest behauptete Hannes das, und Hannes hatte als Müllersohn Erfahrung mit finsteren Kräften. Alle Müller waren bekanntlicherweise Geisterjäger und Dämonenbändiger und alle Mühlen von Geistern und Elfen geplagt. Auch diese Behauptung vertrat Hannes mit dem Brustton vollkommener Überzeugung, und seine Fäuste waren groß genug um Lionel auf genauere Nachfragen verzichten zu lassen. Ab davon dass Lionel bewiesenermaßen nicht dumm war, Vater und Mutter bestätigten das oft genug!
Salz und Asche waren in einem landwirtschaftlichen Betrieb einfach genug zu besorgen, ihr Fehlen fiel auch niemandem auf. Schwieriger war es da schon, die staubige Mischung unter dem Bett der Eltern zu verteilen ohne dabei erwischt zu werden; Mutter würde ihm die Ohren langziehen wenn sie feststellte, dass mitnichten Vater oder sie selbst all den Dreck in die Schlafkammer geschleppt hatten, sondern ihr Sohn, und das mit voller Absicht. Hausarrest würde es dafür setzen, und gerade an diesem Tag konnte Lionel sich so etwas nicht leisten, Poltergeistbekämpfung hin oder her.
Der “Angelausflug” mit Vater war lange genug geplant gewesen um beinahe in Vergessenheit zu geraten, aber Lionel hatte am Vorabend lange und laut genug daran erinnert. Am Ende hatte Vater nachsichtig geseufzt, seine Angel aus dem Werkzeuglager geholt, und etwas altbackenes Brot mit einem scharfen Messer in Würfel geschnitten, eindeutige Zeichen dafür, dass der Ausflug wieder auf den familiären Plan gerutscht war und stattfinden würde. Insgeheim wusste Lionel natürlich, dass Angeln zwar ein Teil ihrer Aktivitäten sein würde, nicht jedoch der Hauptgrund; Vater hatte ihn eindringlich gewarnt, dass Lionel niemandem - ganz besonders nicht Hannes, egal was er behauptete! - jemals von ihren Ausflügen erzählen durfte, und dass die Sicherheit der gesamten Familie, nein, ganz Ravinsthals, von Lionels Verschwiegenheit abhing. Und Vater sprach stets was er mit ganzem Herzen glaubte, selbst wenn es unangenehm war.
“Angeln” also, Lionel und Vater gemeinsam, und sonst niemand.

Mutter war mit der Zubereitung des morgendlichen Kornbreis für Brynja beschäftigt und bot Lionel den Rücken, sodass er blitzschnell und ungesehen die Aschereste von den Fingern waschen konnte. Vater saß im Schaukelstuhl jenseits der offenstehenden Haustüre auf der Terasse, die Füße auf dem Geländer und umhüllt von der morgendlichen Pfeifenqualmwolke, die Augen starr auf den Hof gerichtet. Seine und Madadhs Miene, der neben seinem Hocker lag, glichen einander derart, dass Lionel für einen Moment überlegte, ob sein Vater vielleicht tatsächlich von Hunden aufgezogen worden war, wie einige Kinder in Rabensteins Gossen behaupteten.
Die Gossenkinder behaupteten auch noch andere Dinge über seinen Vater, aber sie waren einfach dumm. Sicher, Vaters Gesicht lächelte selten und meist nur wenn er Mutter sah oder jemanden verdreschen konnte, aber das machte ihn noch nicht zu einem bösen Mann. Lionel hatte noch nie etwas Böses - zumindest nicht laut Hannes' Definition - an Vater entdecken können, und er verstand auch nicht so recht, warum die anderen Kinder sich so vor ihm fürchteten. Er war sicherlich kein Werwolf, das hätte Lionel gemerkt! Und ein Bleicher war er auch nicht, immerhin tropfte er keinen schwarzen Schleim. 
Die Kinder waren dumm und hatten keine Ahnung, und das war die Wahrheit. Vater war einfach Vater, und Vater würde für ihn töten.
"Mutter, wir gehen angeln!" verkündete Lionel also, aus dem Augenwinkel ein Auge auf die rythmisch erscheinenden Rauchwolken vor der Türe werfend. Von dort kamen allerdings keine Widerworte, also war der Plan immer noch fest und Lionel würde endlich "angeln" lernen. Wie aufregend es doch war!
Mutter lächelte ihr neues Lächeln, jenes das ihre Augen traurig machte, und wandte sich vom Brei ab um ihm einen Korb anzureichen. "Falls ihr hungrig werdet, mein Schatz. Pass gut auf deinen Vater auf, ja?"
Das war ein wichtiger Auftrag und Lionel wusste es. Entsprechend ernst fiel auch sein Nicken aus, das den Griff nach dem Korb begleitete. Auf Vater aufpassen, auf Mutter aufpassen, diese Worte fielen in den letzten Tagen oft. Lionel fühlte sich immer erwachsener, umso öfter er sie hörte. Immerhin befanden seine Eltern ihn für würdig und fähig, Verantwortung für jemanden zu übernehmen! Bald schon würde er alt genug sein, um ein Handwerk zu lernen, und dann...
Lionel raffte eilig den Beutel mit den Brotstücken und die zwei Angeln - eine groß, eine klein - zusammen und lief auf die Terasse. Vater sah seltsam aus, so ohne Rüstung, aber wann immer er das schwarze Metall nicht anzog, passierten die spannendsten Dinge. Vater roch sogar anders, nicht mehr nach Metall und Waffenöl, sondern nach Kernseifenschaum, Pfeifenrauch und Schnee. Der Anblick ließ Lionels Herz rascher klopfen.
"Bereit?" fragte Vater und schwang die Beine vom Geländer als hätte er dort keine halbe Stunde gelümmelt, federnd und munter.
"Bereit!" bestätigte Lionel, breit aufgrinsend. Normalerweise versuchte er seinen Vater in dessen Gesellschaft zu imitieren und ein ernstes Gesicht zu wahren, aber die freien Tage mit Vater waren die Besten, wie konnte er da nicht grinsen?
Vater nahm ihm die Angeln ab, dann den Korb, und beauftragte ihn damit, den Beutel mit Ködern zu behüten, dann schulterte er seine Last und trat die drei Stiegen hinab in den erdigen Innenhof. Lionel folgte auf seinen Fersen, hielt aber einen Moment inne um Nora zuzuwinken. "Wir gehen angeln!" verkündete er, einfach weil die Freude irgendwohin musste.
"Großartig!" bestätigte Nora mit ihrem eigenen, verwaschenen Lächeln und hielt einen Moment inne, als hätte sie plötzlich vergessen was sie geplant hatte.
Auch Vater hielt inne, erstarrend und plötzlich angespannt während nur sein Kopf in Regung verfiel, sich Nora zuwandte, starrend als habe sie sich schlagartig in einen Bären verwandelt. Der Blick auf Vaters Gesicht war... Lionel schüttelte sich und trat hinter den Mann der da aus seinem Vater gebrochen war, einfach um dem Ausdruck auf seinem Gesicht zu entkommen. Nora hingegen schien die Veränderung gar nicht so recht zu bemerken.
"Gibt es etwas was ihr wollt, Herr Mendoza?" fragte sie mit einer gewissen freundlichen Ratlosigkeit in der Stimme und wechselte die Hand an ihrem eigenen Korb.
Vater indes schwieg, starrte mit eiskalten Augen, und schauderte. Und dann passierte etwas, das Lionel noch nie zuvor gesehen hatte: Mit einem Ruck lockerte sich jeder Muskel an seinem Vater und ein scharfes, künstliches Lächeln kroch auf seine Züge. "Nein, verzeih mir Nora. Ich dachte ich hätte etwas zu sagen, aber ich habe mich geirrt."
Plötzlich war der Angelausflug nicht mehr ganz so verlockend wie zuvor, aber wenn sein Vater so aussah, wollte Lionel nicht schwierig sein. Es war besser ihm einfach zu folgen und zu warten bis er sich beruhigt hatte. Nicht dass Lionel sich davor fürchtete, seinen Vater zu verärgern, aber manchmal, da löste sein Temperament Dinge aus die Lionel verängstigten und Mutter zum Weinen brachten, und gerade heute wollte Lionel nicht riskieren, dass all die frische Milch sauer wurde.
"Nun, dann einen schönen Ausflug, ihr Beiden!" sagte Nora, lächelte noch einmal breiter, und marschierte dann in die Stube.
Vaters Blick folgte ihr, wie er normalerweise vorbeiziehenden Giftschlangen nachstarrte. Kaum war sie aber im Hausinneren verschwunden, da setzte er sich in Bewegung, leise vor sich hin grollend. Lionel folgte hastig, den Köderbeutel eng an die Brust gedrückt. Nein, gerade war kein guter Moment zu fragen was Nora angestellt hatte. Später aber, später würde er Vater ausquetschen. Immerhin war Lionel alt genug um Verantwortung zu übernehmen, da hatte er ein Recht darauf zu wissen was vor sich ging!
Prolog: Das Leben nach dem Tod auf Svesur

Die Erde hier war lose, denn sie war vor nicht einmal vier Monaten frisch umgegraben worden, als ein Vater seinen Sohn beerdigt hatte. Ihre Hände waren feucht, als sie ihre Finger in das Erdreich grub und sie wusste, dass sie nur noch ein paar Mal schaufeln musste, dann würde sie an den hölzernen Sarg stoßen. In ihrem Hinterkopf schrillte die warnende Stimme der Vernunft, dass sie die Lade nicht öffnen sollte, denn keine Mutter sollte ihr Kind in diesem Zustand erblicken. Aber der Gedanke, dass die Münze, welche sie als Anhänger um ihren Hals getragen hatte, eventuell zwischen die Falten des Totenhemdes geraten und mit dem Sohn beerdigt worden war, wurde in den letzten Tagen zu einer regelrechten Besessenheit.

Anfangs hatte sie im Umkreis des Bauerngutes gesucht; mal hier eine Schublade etwas intensiver durchstöbert, mal dort längst in Unordnung geratene Fässerinhalte geleert und neu geordnet. Dass Stube und Schlafkammer des öfteren neu ausgeschmückt wurden weil Cahira immer wieder dekorative Fundsachen von Märkten oder kleinen Läden heran schleppte, war den Bewohner des Hofes wahrscheinlich nicht fremd und wurde stets mit einem milden Schmunzeln quittiert. Doch die Suche hatte sich je länger sie währte weit über den Eichenhof ausgebreitet und die junge Frau hatte zunehmend Feldarbeit, Familie und Inneneinrichtung vernachlässigt, um beispielsweise bis nach Hohenquell zu reiten und dem dortigen Bankangestellten - mehrfach - ihr Leid des verlorenen Schmuckstückes zu klagen. Selbst Aygo hatte sie in Mitleidenschaft gezogen; doch die gute Seele vermutete einen schändlichen Raub und begleitete Cahira zumindest teilweise bei den Ermittlungen. Doch allerorts das selbe enttäuschende Ergebnis: Die Münze war nicht aufzufinden.

Und mit jedem Tag, der verging, wurde der Ausschlag, welcher sich dort ausgebreitet hatte, wo sonst Lederband und Silberstück auf ihrer Haut ruhten, unangenehmer. Sie trug gewohnheitsgemäß ein Tuch um den Hals, von daher fiel die verätzte Stelle gar nicht so auf. Nur, dass sie sich ein paar Mal zu oft kratzen musste … Natürlich machte sie sich Sorgen, vor allem als alle Heilsalben nichts halfen und sie selbst Nachts, wenn Kyron denn einmal zu Hause schlief, die Bettdecke bis zur Nasenspitze ziehen musste um keinen sorgenvollen Verdacht zu erregen, doch sie wusste aus einer irrsinnigen Eingebung heraus, dass wenn sie die Münze wieder beschafft hatte, auch dieses Ekzem heilen würde.

“Du weißt doch, wer die Münze hat!”, erklang eine süße Stimme in ihrem Rücken und sie fuhr herum, hektische Schweißperlen auf der gefurchten Stirn, Dreck unter ihren Fingernägeln und der Lederkluft, welche sie schon seit Tagen nicht mehr gewechselt hatte.
“Was habt ihr gesagt?”, schnappte Cahira dem Mann entgegen, der da recht zurückhaltend mit einem Fuß die Erde aufscharrte. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen und wich ein paar Schritte zurück.
“Ich habe nur … ich habe nur gefragt, was ihr da tut!”, kam es dann in trotziger Erwiderung und Cahira entspannte sich ein klein wenig, sah von der ausgehobenen Erde zu dem Mann hin. Für einen Moment hatte sie in der Tat gedacht, Aidans Stimme zu hören … Doch er war fort - genau genommen seit der Nacht von Eoghans Geburt. Obwohl sie erleichtert gewesen war, dass jenes Phantom ihres Geistes verschwunden war, trauerte sie in schwachen Momente dennoch um den erneuten Verlust ihres Freundes. Und schwache Momente hatte sie in der letzten Zeit gewisse zu Genüge gehabt.

Doch jener Mann, der sie nun mit leiser Beunruhigung musterte, dabei aber vorsichtshalber auf Abstand blieb, hatte so gar nichts mit der eleganten Raffinesse ihres ehemaligen Vertrauten gemein. Er war ein Landstreicher in abgerissener Kleidung, Löcher in den den Schuhen, zerzausten Haaren, Zahnlücken und alkoholgeschwängerten Atem. Ab und an schlief er in der maroden Hütte, die sich in die Talsohle dieses heiligen Ortes schmiegte, und die wohl einst von einem Druiden bewohnt worden war, der sich um diese Stätte und deren Pilger kümmerte. Die Monolithen, die steil in den Himmel aufragten und teilweise noch nicht einmal das dichte, alles überwuchernde Blätterwerk der Bäume zu durchstoßen mochten, waren stille Zeugen von längst vergangenen und auch jüngeren Opferriten. Blut war teilweise dunkel auf den in kunstvollen Schriftzeichen eingemeißelten Segenssprüchen getrocknet und Obst rottete an deren Füßen. Hier einen Ort der Trauer zu haben, an dem Cahira ihren Tränen ungehindert Lauf lassen oder mit ihrem Sohn stille Zwiesprache halten zu können, war ungemein tröstlich.

Als ihre Kräfte es zugelassen hatte, hatte Cahira den Weg ins Tal jeden Tag angetreten. Dort hatte sie den Streuner auch das erste Mal getroffen, als sie vor einem plötzlichen Regenschauer floh und Schutz in dem baufälligen Verschlag gesucht hatte. Zunächst hatte sie geglaubt, in der Ecke läge nur ein Haufen dreckiger Lumpen. Doch der Kleiderhaufen begann sich zu regen und bewegen und wuchs zu einem krummbeinigen Mann heran. Cahira konnte gar nicht so schnell denken, wir ihr der kleine Dolch in die Hand gesprungen kam. Nach anfänglichem Schrecken - auf beiden Seiten - entpuppte sich der obdachlose Bursche als recht angenehme Gesellschaft. Natürlich bot sie ihm an, auf dem Hof gegen Münzen oder Kost und Unterbringung auszuhelfen. Allerdings hatte er bis auf den Tag, an dem Kyron und Lionel so eifrig zu ihrem Angelausflug aufgebrochen waren, diese Offerte nie angenommen - und war nach zwei mageren Bissen vom Eintopf auch recht schnell wieder um die nächste Häuserecke verschwunden, als sich die Rückkehr von Ehemann und Sohn angekündigt hatte.

Der Landstreicher hatte derweil weiter seine Sorge ob ihres Tuns geäußert und belauerte sie mit großen Augen. Cahira hatte gar nicht recht zugehört, denn ihre Gedanken drehten sich noch immer um den möglichen Fundort der Münze, doch die anfänglichen Worte - von wem auch immer sie gekommen sein mochten - hatten ihr etwas in Erinnerung gerufen, was sie über den Wahn der Suche vollkommen verdrängt hatte: Kyron hatte die Münze gefordert und sie hatte sie ihm bereitwillig übergeben. Cahira lachte einmal höhnisch über ihre vergangene Dummheit auf und stemmte sich empor, klopfte Erde von ihrem Hosenboden und scharrte das gegrabene Loch mit ihren Stiefeln wieder zu.
“Eh?”, war der verwirrte Kommentar des Mannes, der vorsichtshalber noch zwei Schritte Abstand zwischen sich und Cahira gebracht hatte.
“Ich danke Euch. Ich gehe nach Hause.”, lächelte ihm die junge Frau entgegen. Irgendwie fühlte sie sich seltsam erleichtert, beflügelt gar - vielleicht auch aus dem Grund, nicht in die Totenkiste schauen zu müssen. Doch sie wusste nun, wer die Münze hatte und sie würde ihr geliebtes Schmuckstück zurückfordern und keine Ausflüchte gelten lassen ...
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