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Normale Version: Friedhofschlurfen
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[Tote überall.
Der Friedhof zu Löwenstein erinnert in seiner Ruhe an alle Sünden, die jeder der Begrabenen einmal getan haben mag.
Erinnert an all die Schuld; erinnert an all das Leid; und auch an die Freude.

Auf den Grabsteinen sind die Inschriften nicht mehr zu lesen.
Kaum ein Besucher wagt sich hierher; die Toten scheinen vergessen.
Selten fliegt einmal ein Vogel her.
Nur in der Stille hört man Mithras' Worte.
Und wenn doch, dann ist es nur ein Rabe, der eher krächzt anstatt zu trillern.
Egal wie oft sie das Moos und das Unkraut heraus reißt, am nächsten Morgen ist es wieder da.
So voller Leben ist der Garten der Toten.
Schwarze Käfer nehmen die Überreste mit in die dunklen Tiefen.
Nahe der Mitternacht, mit der Hand auf dem Herzen,
sie spürt den Hauch des Todes,
sie bildet sich ein, die Stimmen zu hören.
Im Mondlicht, im Mondlicht, im Mondlicht.
Nirgends ist einem der Tod näher als hier.
Vergänglich, alles.
Die Welt vergisst. Alles stirbt.

Nur Mithras ist ewig.]

Müsste sie nicht Münzen verdienen und auch etwas essen, sie würde den Friedhof niemals verlassen. Viel zu wohl fühlte sie sich hier.
Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit,
dass die Lebenden den Friedhof aufsuchen.
Nicht um sich zu wundern, wo die Menschen hingehen,
wenn sie diese Welt verlassen.
Nicht um sich Zeit zu nehmen zu verstehen,
dass auch sie alsbald ohne Spuren von hier entschwinden.
Nicht um sich zu schwören,
gut zu sein.
Nicht um sich der Toten zu erinnern,
denn nichts ist so unzuverlässig wie die Erinnerung.
Die Lebenden müssen den Friedhof aufsuchen,
denn wenn sie es nicht tun,
beanspruchen die Toten nach gewisser Zeit
den nicht benutzten Raum.
[... und auch die Ratten.]

Vielleicht ist es indes doch nicht schlecht, ab und an zu schwören, ein guter Mensch zu sein... schließlich ist es genauso wichtig, über sich selbst lachen zu können.
Der Sonnenlegionär, der auch nur ein Mensch war I
Konzept einer Geistergeschichte für Rahel Goldblatt. Für das Niederschreiben dieser Geschichte müssen Fräulein Goldblatt und ich sicher mehr als einmal zur Beichte bei Seligkeit Winkel. Ich werde sie fragen müssen, ab wann die Geschichte von Unterhaltung zur Blasphemie wird.

Nach dem Aufgang von Mithras' heller Sonne und nach dem Morgengebet
beschloss ein Legionär, spazieren zu gehen.
Er kam an einen Fluss und sah einen leuchtenden Schemen.
Zuerst hielt er ihn für eines der Wunder des herrlichen Sonnengottes,
doch beim Nähertreten erkannte er, dass es nur eine Abscheulichkeit war.
Es hatte die Form einer Frau in zerrissenen, lumpigen Kleidern.
Sie schwebte über dem Wasser wie Dampf.
Die zerzausten Haare wehten wie wild,
obwohl es windstill war,
die Haut war fahl und grau, das Gesicht eingefallen,
doch das Schlimmste an ihr war der Blick aus den trüben Augen.
Sie hob ihre knochige Hand und öffnete ihren zahnlosen Mund:
"Waaaaaaaaasser...", stöhnte sie.
Den Legionären packte das Grauen, doch er blieb standhaft.
"Im Namen von Mithras befehle ich dir:
geh einen der drei Wege, doch bleibe nicht hier!"
Sprachs, und der Geist löste sich auf.
Mit zitternden Knien kehrte der Legionär zurück.
Doch er fragte sich, ob das, was er getan hatte, das Richtige gewesen war.
Der Sonnenlegionär, der auch nur ein Mensch war II
Konzept einer Geistergeschichte für Rahel Goldblatt. Für das Niederschreiben dieser Geschichte müssen Fräulein Goldblatt und ich sicher mehr als einmal zur Beichte bei Seligkeit Winkel. Ich werde sie fragen müssen, ab wann die Geschichte von Unterhaltung zur Blasphemie wird. Vermutlich beginnt es hier.

Nacht und Tag war der Legionär sorgenvoll.
Nacht und Tag dachte er an die schwebende Frau,
an ihr Verschwinden,
an ihre Bitte nach Wasser.
Er konnte es einfach nicht gut sein lassen.
Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf,
er litt Kummer bei dem Gedanken daran,
das Falsche getan zu haben.
Spott erwartete ihn, als er seine Sorgen teilte.
"Der Legionär, der einen Geist gesehen hat!"
So sehr war er betrübt, dass er sich nicht einmal einem Priester anvertraute.
Der Sonnenlegionär war nur ein Mensch.
Als er sich hinab in den Kerker begab,
erkannte ihn eine garstige Hexe,
die am anderen Tage ihr gerechtes Schicksal erwarten sollte.
Nämlich den Tod durch das Feuer.
Sie erkannte den Legionären, der einen Geist gesehen hatte,
und griff durch die Stäbe nach ihm.
"Wenn du deinen Geist sprechen möchtest, helfe ich dir dabei,
auf dass es meine letzte Tat in dieser Welt sei!"
Doch der Sonnenlegionär wendete sich ab.
Niemals wollte er die Dienste einer Hexe in Anspruch nehmen.
Niemals wollte er nicht standhaft sein.
Und so ging er wieder hinauf.
Ließ die Hexe im gerechten Elend zurück.
Doch er fragte sich, ob das, was er getan hatte, das Richtige gewesen war.
Der Sonnenlegionär, der auch nur ein Mensch war III
Konzept einer Geistergeschichte für Rahel Goldblatt. Für das Niederschreiben dieser Geschichte müssen Fräulein Goldblatt und ich sicher mehr als einmal zur Beichte bei Seligkeit Winkel. Ich werde sie fragen müssen, ab wann die Geschichte von Unterhaltung zur Blasphemie wird. Vermutlich war es schon so weit.

Nacht und Tag war der Legionär sorgenvoll.
Nacht und Tag dachte er an die schwebende Frau,
an ihr Verschwinden,
an ihre Bitte nach Wasser,
an das Angebot der Hexe
und wie er es abgelehnt hat.
Er konnte es einfach nicht gut sein lassen.
Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf,
er litt Kummer bei dem Gedanken daran,
das Falsche getan zu haben.
Einer Hexe ist niemals zu vertrauen.
Aber ist es Vertrauen, wenn man sie mit ihren Dämonen sprechen lässt?
Oder mit Geistern?
Und warum wollte er mit dem Geist sprechen?
Um ihn zu fragen, ob er das Richtige getan hat.
So ging er hinab,
zu der Hexe.
Sie sollte am morgigen Tag ihren Atem aushauchen.
Und das war gut so.
Er ließ sie mit den Geistern sprechen,
mit Kerzen und Ziegenblut und seltsamen Kräutern.
Der Geist erschien im Kreis aus Kreide.
Und sprach: "Was soll das, du hattest mich doch schon erlöst?"
Da erschrak der Legionär doch sehr.
"Du wolltest doch Wasser haben, das ich dir nicht gab?",
fragte er voll Grauen.
"Stand ich nicht bereits über dem Wasser?", heulte der Geist.
"Dass ihr Männer", sagte der Geist weiter,
"eine Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen könnt!"
"Dass ihr Frauen nie sagt, was ihr wirklich meint", gab der Legionär verbittert zurück.
"Du hast mich nicht ausreden lassen!", sprach die Geisterfrau daraufhin vorwurfsvoll.
Und so stritten sie wie Eheleute, bis das Bildnis des Geistes verblasste.
Die Hexe starb darauf in dieser Stunde,
doch nicht durch des Legionären Hand.
Sondern weil sie durch ihn Weisheit gelernt hatte,
dass das Richtige viele Gesichter hat.
Nur nicht ihres.
Und leider kam auch der Legionär bald zu Tode,
weil er auf der Suche nach dem Richtigen
das einzig wirklich Falsche getan hat.
Grausam ist der Wind, wie er meine Worte verschluckt.
Spinnenweben auf den Gräbern werden in der Kälte zu Glas.
Kalt ist die Nacht auf so viele Arten.
Am liebsten würde ich jede Nacht bis zum Morgengrauen tanzen und verbotene Lieder singen.
Hoch ist der Preis, denn nichts kostet nichts.
Diejenigen, die wir geliebt haben, sind längst von uns gegangen,
sie schlafen 6 Fuß unter mir.
All die Blumen, die ich bekam, sind verwelkt.
Heilige Herrin, die Nacht gehört dir.
So wie der Tag Mithras allein gehört.

Kannst du das Licht in weiter Ferne sehen?

So schön glänzt Mithras' Herrlichkeit im Nebel.
... für immer fern
Der Friedhof war am Morgen immer besonders schön.
Kannst du die Trommeln schlagen hören?
Diese Ruhe war so gut, so gut, so gut!
... niemals fern
Es war auch die beste Zeit, um sich um die Blumen zu kümmern.
Kannst du der Dämonen treues Rufen hören?
Denn die Blüten und Blätter waren klamm und feucht.
... niemals fern
Und dies tat den Blumen gut, anders als sie bei glühender Mittagshitze zu gießen.
Kannst du deine Totenglocke hören?
Dass die Sonne so ungebremst auf sie herabschien, daran musste sich die Hohenmarscherin noch gewöhnen.
... für immer fern
Vor allem vermisste sie das grüne Licht des Sumpfes.
Niemand hier liegt betrunken auf seiner Liebsten Grab.
Die Winterluft füllte ihre Lungen mit süßer Kälte.
Wir sind für immer, im Leben und im Tod.
So wurde der Friedhof nach und nach für den Frühling vorbereitet.
Eine schlechte Geschichte erkennt man daran, dass sie mit "Damals..." beginnt.
Damals im Sumpf, als die Menschen weniger waren als die geistlosen, stumpfen Wesen, die sie heute sind,
erfüllten die wunderschönen Wesen vergangener Zeiten die Sümpfe mit Leben und Kultur,
ehe sie von den Männern mit den Stöcken vertrieben wurden.
Einzig in den tiefen, unentdeckten Weiten der Sümpfe
spürt man noch die Anwesenheit der glorreichen Vergangenen,
die sich selbst mit dem Gedanken trösten,
dass Mithras eines hellen Tages
die Nachfahren der Vertreiber blendet und vernichtet.
Und so ist dies auch auf dem Friedhof.
Mögen die Mondwächter ihre Wahrheiten als Lüge erkennen!
Die Mondwächter glauben,
sie hätten einen gewissen Anspruch auf Akzeptanz.
Ich aber frage: wieso?
Wenn Tradition ein Grund hierfür sein soll,
so gibt es zwei Möglichkeiten:
Tradition hat nicht den Wert, den die Mondwächter ihr gerne einräumen würden.
Oder aber es gibt sie nicht, die Tradition,
und die grausigen Zeiten der Verwirrten
wechseln sich mit den Zeiten der Sehenden und der Ordnung ab.
Was im Umkehrschluss heißt,
dass Mithras' Ordnung schon länger währt als wir glaubten
und somit älter ist als dies,
was die Mondwächter für ihre Tradition halten.
Wäre dies in Lilienbruch
nur nicht auf taube Ohren gestoßen.
Denn dort sind die Zeichen vergangener Kulturen
längst im Sumpf versunken.
Es ist ein wundervolles Geschenk,
in Mithras' Feuer brennen zu dürfen.
Die Asche rieselt herab
wie Schneeflocken in der Nacht.
Morana war ein wenig jünger als nun, als sie ihre erste - und letzte - Hexe hatte brennen sehen.
Nicht brennen im Feuer des gerechten Zorns, sondern wörtlich brennen. Im Feuer.
Der kohlschwarze König kam auf die Verbrennende zugetanzt.
Morana musste lächeln bei diesem Anblick.
Sie stieß ihren Vater an, doch er schien nicht zu sehen was sie sah.
Und höre nicht, was sie hörte.
Denn die Schreie der Hexe galten nicht dem Schmerz, viel eher der Freude,
denn der kohlschwarze König hob ihre Seele auf und trug sie davon,
in den Himmel hinauf, der Asche folgend.
Und es gab keinen Zweifel: Der kohlschwarze König war ein Abgesandter von Mithras selbst.

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