Arx Obscura

Normale Version: Oktopus
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Gast

Das Glucksen des Wassers zwischen Kiel und Anleger war das erste, was ihn aus seinem Schlaf zurück in die Wirklichkeit holte. Ein weiterer Tag war angebrochen und es gab nichts was man dagegen hätte tun können. Das gute am eigenen Gestank war, dass man ihn nach einiger Zeit selber nicht mehr wahrnahm und der damit verbundene Dreck irgendwann auch wärmte.

Das durch den Nebel gedämpfte Tageslicht blendete als er das Laken des kleinen Bootes zurückschlug, in dessen Innenleben sich der Seemann nun schon seit mehreren Tagen das Nachtlager bereitet hatte. Irgendjemand hatte es offensichtlich vergessen – was angesichts seines miserablen Zustandes kein Wunder war. Im Grunde rechnete er jeden Tag damit, dass das morsche Holz seinen Lebenswillen verlor und die kleine Nussschale endlich den Rest ihres Daseins unterhalb der Wasserkannte verbrachte.

Er und das Boot, so schlussfolgerte der Seemann, hatten das wohl gemeinsam: Eigentlich nicht mehr als morsches Gebein, keinen Lebenswillen und trotzdem nicht den Anstand endlich zu sterben. Als er sich aufsetzte, schüttelte ein schleimiger Husten die letzten Reste der Nacht durch den Bart in die Außenwelt: Eine Mixtur aus mangelnder Zahnpflege und Rum als Hauptnahrungsmittel bahnten sich in ihren Weg aus dem Körper als wären sie stolze Pioniere in einem fremden Land. Was anfänglich nur Husten war, unterstrich diese Erkundungsmission seiner körpereigenen Gase mit einem Rülpsen, welches gleichzeitig für einen kurzen Moment der Wärme auf dem wettergegerbten Gesicht sorgte. Bestätigt, dass Dreck eben doch wärmt, taxierte das geübte Auge des Seemanns das Innenleben des Bootes und die darin verteilten Habseligkeiten des Mannes.

Nachdem er offensichtlich das einzige von Wert, ein kleines Büchlein, eingesteckt hat, hält ihn eine weitere Auffälligkeit zunächst noch im Boot. Mit einem erstaunlich flinken Handgriff hat der Seemann die im Boot liegende Flasche gegriffen und den Rest an Rum in seinen Körper überführt, der offensichtlich bereits seit dem Vorabend auf seinen Einsatz gewartet hat. Mit einem zufriedenen Blick, der nicht weniger als „Ich hab's noch drauf!“ aussagt, stieg der Alte – der aufgrund seines freizügigen Lebensstils nur so aussah als sei er alt – aus dem Boot. Nicht elegant und auch nicht schnell, aber darum ging es ihm auch nicht.

Worum es ihm ging, das hatte der Seemann auch schon längst vergessen und es wollte ihm auch nicht mehr einfallen. Zumindest begnügte er sich derzeit schon mit den kleinen Freuden des Lebens, die hauptsächlich aus dem Austausch von Münzen in Rum bestanden. An guten Tagen – das konnte er mit Fug und Recht behaupten – waren sogar einige Extramünzen übrig um die Nacht mit einer der eher verzweifelten Frauen des Armenviertels zu verbringen, wobei mittlerweile das warme Bett beinahe attraktiver wirkte als die nackte Frau darin – was vielleicht auch wieder mit dem Finanzrahmen zusammenhing in dem sich der Seemann bewegte. Genau genommen wollte er sich mit dieser Frage auch nicht allzu sehr beschäftigen, da er davon überzeugt war, dass seine Kopfschmerzen von derlei Gedankenspielen kamen. Auf keinen Fall kamen sie vom Alkohol, trotz dessen er es wieder nicht geschafft hatte, im Hafenbecken zu ertrinken, sondern zielsicher im Boot Lager zu beziehen.

Der Seemann drehte sich einmal um, salutierte locker vor dem seelenlos im Wasser schwankenden Gefährt, welches beinahe mitleidserregend wirken musste und begann anschließend in den Gassen des Armenviertels zu verschwinden. Das Boot indes, schwankte noch eine ganze Weile, die Nachwirkungen der diversen und schließlich erfolgreichen Versuche, den Seemann dem Land preiszugeben. Wer das Boot eine ganze Weile beobachtete, hätte in dem Schwanken und Ziehen und Zerren der Leine die stummen Hilferufe eines unbelebten Gegenstandes gesehen, der flehentlich hoffte, keine weitere Nacht mit diesem stinkenden, dreckigen Menschen verbringen zu müssen. Aus dem Schatten einer der Gassen hatte der Seemann den gleichen, tristen und ernüchternden Gedanken als seine Gedanken sich durch den kürzlich zugeführten Rum etwas aufklarten. Dies warf in ihm unweigerlich die Frage auf, ob die Damen – eine sehr höfliche Umschreibung – ähnlich empfanden und ob er künftig vielleicht sein Hochprozentiges teilen sollte. Er kannte immerhin Zeiten, in denen man ihn für einen höflichen und anständigen Menschen gehalten hatte.

Nachdem einige Zeit verging, ohne dass sein Kopf eine sinnvolle Antwort produzierte, wurde der Gedanke durch eine weitere Atemwolke aus Fäule und Rum weggeblasen. Der Blick fixierte sich auf eine der Bruchbuden im Viertel, die soeben verlassen wurde. Die marode Tür würde vermutlich nicht viel Widerstand bieten. Dahinter hingegen, würden vielleicht genug Münzen oder Nahrung sein um sich einen weiteren Tag mit der Frage zu beschäftigen, warum das Boot und er so hartnäckig darauf verzichteten, das Zeitliche zu segnen.

Kurze Zeit später trat aus der Gasse eine gänzlich andere Person heraus, die an besagter Tür so tat, als würde der Schlüssel sich dem rostigen Schloss verweigern, nur um die Tür gewaltsam zu öffnen und wenig später mit einigen Habseligkeiten die Bretterbude wieder zu verlassen und in einer anderen Gasse zu verschwinden.