Arx Obscura

Normale Version: Ein Ratsherr auf Wanderschaft
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Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln ihn an der Nase während sich die frische sternenklare Nacht Atemzug für Atemzug in einen wunderschönen warmen Morgen wandelt - zumindest warm für die Jahreszeit. Sporadisches Vogelgezwitscher durchbricht die ersten leisen Geräusche der erwachenden Grenzanlage, als ihm der zarte Duft von frischem Gras in die gerade noch sanft wach gekitzelte Nase steigt.
Ein tiefer, langer Atemzug zaubert ihm ein fahles Lächeln auf die Lippen und lässt ihn für einen Herzschlag in behagliche Entspannung abdriften.

Doch dann kommt der dumpfe, pochende Schmerz, als würde ihm ein stämmiger Kobold mit einem mindestens zweihändigen Hammer von innen abwechselnd gegen die Schläfen schlagen, während gleichzeitig auf der weichen Masse zwischen den dröhnenden Schläfen ein eleganter Tanz aufgeführt wird.
Schlagartig reißt er die Augen auf, wähnt sich für den Bruchteil eines Gedankens in einem tiefen Urwald, und hebt den brummenden Schädel aus der Grasnarbe.
Als wäre es nicht genug, dass er vor seinem eigenen Atem erschrickt, verschwimmt erneut die ohnehin verzerrte Sicht beim Versuch sich aufzusetzen nach altbekanntem Muster mehr und mehr.

Die Konzentration lässt nach, die Gestalt sinkt unsanft zurück in sein taufeuchtes Nachtlager, und die Gedanken verwirbeln sich wiedereinmal mit einem Traumbild.

Nur ein weiterer Schatten.





Ein Dorf im Schnee. Winter. Später Nachmittag.

Ein runder Platz umgeben von rustikalen schneebedeckten Holzhütten an deren Dächern Eiszapfen so groß wie Unterarme zu wachsen scheinen. In seiner Mitte ein zugeschneiter, gemauerter Brunnen im nahezu knietiefen Schnee. Noch immer fallen die eleganten Flocken, wie wiegende Federn, in Richtung des Bodens und lassen, als trüber Vorhang, von der weiteren Umgebung nur eine Ahnung zu.

  • Niemals!

Ein paar Schritte vor ihm sieht er ein blondes Mädchen rennen, das schreiend versucht ihm zu entkommen. Unter ihm Beine, die nicht seine sind, und ihn doch tragen.
In vollem Lauf greift er nach unten, formt geschickt und geschwind, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes getan, einen Schneeball und schmeißt ihn laut lachend nur knapp am linken Ohr der davonhuschenden Gestalt vorbei.

  • Hah! Nichtmal treffen kannst du!
    Du kriegst mich nieeeeee!

Das Mädchen vor ihm hat etwa 16, vielleicht 17 Jahresläufe erlebt. Das blonde, lockige Haar, von vorhergehenden Treffern bereits mit unzähligen Schneeflocken durchsetzt, flattert aufgeregt im Gegenwind und schimmert, vielleicht auch gerade wegen der Schneekristalle darin, in den letzten Strahlen der tief stehenden Sonne in allen möglichen Farben.

Eisblaue Augen schauen zurück, grinsen ihn an, aber irgendetwas ist falsch an dem Gesicht. - Er kann nur nicht zuordnen was es ist.

Er spürt, wie er schnauft, nur um dann laut schreiend all seine Kraft zusammen zu nehmen und dem Mädchen schnell wie der Wind hinterher zu stürmen.
Ein letzter Sprung. Er greift von hinten um das junge Ding und schmeißt sich mit ihr unter lautem Kreischen in das weiche, weiße Bett aus winterlichen Regentropfen, wo sich die beiden noch einige Minuten übereinander, untereinander und durcheinander hin- und herrollen, bis oben unten ist und aus zwei Körpern nur noch ein weißer eisiger Klumpen übrig bleibt.

Schnee unter ihnen. Kichern. Schnee über ihnen. Lachen. Schnee im Gesicht. Schreien.

Metall auf Metall. Sonderbare Geräusche.



Er zwingt sich die Augenlider einen Spalt breit zu öffnen. Zwei gerüstete Grenzsoldaten patrouillieren direkt vor seiner Nase vorbei, doch scheinen sie weder Mitleid noch Interesse an der Gestalt im Straßengraben zu zeigen.
Die Geräusche verblassen, genau wie seine Sicht.





Ein Holzhaus. Winter. Früher Abend.

Ein laut knisternder Kamin strahlt wohlige Wärme aus und sorgt dafür, dass die Luft im Raum auf der eiskalten Haut brennt wie abertausende Nadelstiche. Das ganze Haus scheint aus einem einzigen Raum zu bestehen, das Dach gehalten von mächtigen Stämmen, die 3 eher 4 Schritte in die Höhe ragen. An den Wänden Geweihe und Felle als Trophäen aufgehängt und auch der knarzende Holzboden unter den Füßen ist an einigen Stellen mit weichen Fellen ausgelegt.
Draußen hat sich die Sonne für diesen Abend scheinbar erst einige Momente verabschiedet und die Kälte der Nacht zieht getragen vom leichten Wind um die kleinen und spärlich verteilten Fensterchen des Hauses.

Er ist - vielleicht abgesehen von den hohlen Schädeln an den Wänden, die scheinbar jede noch so kleine Bewegung, jedes Zucken, beobachten - mit dem blonden Mädchen ganz offensichtlich allein in dem Haus.
Dieses mal hat sie gar kein Gesicht mehr. Ein hautfarbener Fleck.

  • Guck weg! Los!

Und schon wird ihm eine eiskalte Hand ins Gesicht gedrückt.
Die Beiden sind pitschnass. Bis auf die Unterwäsche von Schweiß und angeschmolzenem Schnee durchtränkt. Er versucht durch die Finger des Mädchens zu blinzeln.

  • Heh!

    Ich hab' die Augen zu!

    Garnicht! Deine Wimpern kitzeln!

    Hmpf!

    Vaaaarius!

    Sind zu! Versprochen.

Hört er sich in einer sonderbar jungen Stimme selbst sprechen, wobei er sich ein Grinsen nicht verkneifen kann. Trotz allem dreht er sich langsam zur Seite weg und beginnt sich ebenfalls aus den vor Feuchtigkeit auf der Haut klebenden Klamotten aus Leder und Fell zu schälen. Ein klein wenig von sich selbst geschockt blickt er auf einen jugendlichen Körper hinab, als wäre er nur Zuschauer in diesem Spiel - und doch mittendrin gefangen.

Das Mädchen wickelt sich hinter ihm in ein Fell ein. Er hört es. Er spürt es. Er weiß es einfach.
Und auch er bekommt von hinten etwas weiches, flauschiges an den Rücken geschmissen. Kaum hat er sich umgedreht, hört er auch schon wieder kichernde Schreie.
Das Mädchen hält sich blitzschnell die Hände vor die Augen, woraufhin sich ihre provisorische Tunika aus Fell als ungenügend stabiles Gebilde offenbart und das Kichern und Kreischen nur noch zunimmt. Scheinbar ewig währende Momente ist nicht nur er damit beschäftigt sich das Fell um die Hüften zu binden, sondern auch das Gezuppel des Mädchens an ihrer eigenen Fellhülle nimmt scheinbar kein Ende, als wäre das in diesem Moment das Wichtigste auf der ganzen weiten Welt.

Von einem auf den anderen Moment beginnen sich die Bilder zu verzerren. Alles flackert vor seinen Augen, als würde sich der Film mit ihm selbst in der Hauptrolle zu einem gesichtslosen Schwall an Gefühlen, Gedanken und Geräuschen wandeln.

  • Das kuschelige Fell. Herzliches Lachen.
    Wärme. Nackte Haut.
    Unsicherheit. Zögerliche Berührungen.
    Die Hitze des Kamins. Knistern. Wo auch immer?
    Ein bekannter Geruch. Viel zu nah.
    Herzklopfen. Ein sanfter Kuss.
    Eine Kissenschlacht. Lautes Gekicher. Leises Gekicher.
    Unbändigbare Spannung. Vorsichtiges Ertasten.
    Auf einen Kuss folgen viele. In Locken verfangene Finger. Mundwinkel, die nicht mehr zu bändigen sind.
    Vorsicht. Angst. Verzweiflung. Endlich erlösendes Kichern.
    Mut.
    Schweiß.
    Entspannung.
    Perfekte Stille.

Als wäre es alles in Zeitraffer von statten gegangen findet er sich einen Moment später Arm in Arm mit dem Mädchen unter eine Decke gekuschelt in dem großen rustikalen Holzbett im Raum wieder. Draußen wäre es mittlerweile wohl stockfinster, wenn nicht der helle Schnee das Mondlicht reflektieren würde und der Welt zwar die Farbe raubt, aber die Formen dafür umso klarer wirken lässt.
Drinnen ist es warm, kuschelig, schön. Er fühlt sich geborgen. Es ist alles richtig. Doch die Gedanken rasen.

  • War das wirklich alles?
    Und deswegen der ganze Aufstand? Deswegen hat er sich solche Sorgen und Gedanken gemacht? Haben ihn seine Freunde belogen? Hat er irgendetwas falsch gemacht?
    Sie lächelt.
    War das wirklich alles?
    Er konnte das unmöglich zugeben. Was würden sie blos von ihm denken?
    Er musste seinen Freunden etwas erzählen. Musste er überhaupt etwas erzählen?
    Es war etwas besonderes! War es das?
    Ein Kuss.

Das Mädchen hat das Haar mittlerweile zum Zopf zusammengebunden. Ein warmes nacktes und mageres Bein schiebt sich zwischen die seinen, vergräbt sich dort, er spürt einen Kopf an seine Brust.

  • Du, Varius?

Die Stimme spendet Geborgenheit in der Verwirrung.
Graugrüne Augen blicken ihn von unten an. Zögerliche Finger berühren ihn sanft am Kinn.

  • Mhm?

Die Stimme klingt falsch und fremd. So alt und tief so erfahren und weise. Und das alles in nur einer einzigen Silbe.
Der Gedanke schmerzt.

  • War das wirklich alles?

Als hätten diese Frage viele Stimmen gleichzeitig gestellt, lässt ihn die Verwirrung des Chors aufschrecken.



Hustend rappelt er sich wieder auf. Schüttelt sich, bereut es, und übergibt sich direkt neben seine alte heruntergekommene Umhängetasche aus ehemals feinstem Rindsleder.
Sporadisch werden die Mundwinkel abgewischt und die Gestalt hebt sich, mithilfe eines stabilen Baumstamms in Reichweite seines Arms, auf die wackeligen Knie.
Er blinzelt mehrmals, versucht sich mit der nicht ganz so verschmierten Hand über die Augen zu wischen, und hebt den Kopf in Richtung Stadt zurück.

Ein Stiefel kommt in sein Blickfeld. Dann ein passender zweiter.

  • Verpiss' dich! Lang genug geschlafen!
    Wenn du mir hier verreckst muss ich 'nen Bericht schreiben.
    Hau' ab!

Die Gedanken drehen sich um die Frage, ob Stiefel wirklich sprechen können.
Er scheint die Optionen für einige Momente abwägen zu wollen.
Seine Rippen machen Bekanntschaft mit dem sprechenden Stiefel.
Er übergibt sich noch einmal.

Er drückt sich wankend in den Stand hinauf, torkelt die Straße entlang.
Ein Fuß vor den anderen.
Ein Fuß vor den anderen.
Ein Blick zu den schier unendlich weit entfernten Stadtmauern.

Zumindest genügend Zeit um sich zu sammeln und eine passende Ausrede zurechtzulegen.

Rote Kirschen am Wegesrand lassen alle Gedanken verblassen und vollkommen unwichtig erscheinen.
Der leere Magen rebelliert.
Immerhin hatte Kaslyn ihr Versprechen gehalten.