Arx Obscura

Normale Version: Durch die Gosse zu den Sternen
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Feuer in der Nacht

„Heute Abend werden am großen Lagerfeuer im Armenviertel Geschichten erzählt! Sag’s weiter!“
Die Meute der Straßenkinder, die durch Löwensteins Gässchen eilten und Ihresgleichen zusammenriefen, wuchs immer mehr an, während sie sich ihren Weg ins Armenviertel bahnten. Bei der Lautstärke der Bälger war es auch kein Wunder, dass sich viele Freie und Bürger der Stadt nach dem Aufruhr umdrehten. Manche kratzten sich nur den Kopf, viele Frauen bekamen glänzende Augen und hielten ihre Männer oder Begleiter mit einer Idee vom Tagewerk zurück – einem Bäcker rannten die Straßenkinder den Wagen voll frischer Brote um, worauf dieser ein mächtiges Fluchen hinter ihnen drein schickte und zornig die dreckbesudelten Laibe aus der Gosse fischte.
Je näher der Sonnenuntergang rückte, desto mehr Leute aus allen Ecken der Stadt versammelten sich um das Lagerfeuer. Ein besonders schmutziges Mädchen mit vor Dreck vom Kopf abstehenden kurzen Zöpfen, das ständig ein recht zerknautschtes Tuch mit Knoten gegen eine Wange drückt, lief mit eiligen kleinen Tapsern aus dem Stadttor hinaus auf den Fluss zu. An dessen Ufer lehnte Kasimir an einer schlanken Buche, hatte den Federhut so tief ins Gesicht gezogen, dass man nur noch sein Kinn sah, und neben seiner ausgestreckten linken Hand lag quer eine Angelrute, von der eine Schnur in den Fluss hineinführte.
„Kasimir, Kasimir, biste etwa eingeschlafn?“ riss ihn das quietschende Stimmchen aus dem süßen Schlummer. Hektisch sah er sich um, ehe er begriff, dass die über seinen Augen liegende Dunkelheit durch die noch am Platz verweilende Kappe hervorgerufen wurde. Durch das folgende Kichern besänftigt, rückte Kasimir diese sorgfältig zurecht und hockte sich vor die kleine Schmutzige.
„Wie kann ich dir helfen, Süße?“ Er zupfte sie sanft an der Wange, ehe er ganz wach geworden.
„Kasimiiiir“, sie reibt sich die Wange, als hätte er ihr etwas daraufgeschmiert und als wäre sie nicht von vornherein schwarz vor Dreck, „du hast uns doch ne Geschichte versprochn?!“
Kasimir kneift seine Augen schmerzergeben zusammen, als ihre Stimme in eine schiefe hohe Lage rutscht.
„Na, und? Ihr Bälger könnt rrruhig noch ein bisschen drrrauf warten!“
„Nenenene! Ich meine… da sin’ noch gaaaaanz viele Leute gekommn. Die warten alle auf deine Geschichte! Komm schnell!“
Und damit rennt die kleine Schmutzige auch schon davon – wartet aber in einiger Entfernung, dass er einholt. Kasimir bleibt erst mit offenem Mund zurück – dann rollt er gemütlich schmunzelnd die Angelschnur ein und folgt der Kleinen pfeifend und betont langsam.

Tatsächlich waren die Sitzmöglichkeiten um das große Feuer bereits ausgereizt, als er dort ankam – und es wurde noch immer auf Nachzügler gewartet.
Wenn das so ist, muss ich die Herrschaften ordentlich erschrecken…
Kasimir fing die Geschichte an, als Galates aus seinem Schlummer erwachte, macht aber einen Fehler: er wies die Zuhörer auf diesen Umstand hin. Nur im Augenwinkel sah er, wie ein Mann erbost davon stürmte.
Die Geschichte begann recht harmlos. Doch im Verlauf, als der Erzähler in die Gesichter seiner Zuhörerschaft blickte, konnte er frohlocken, denn viele waren von den Geschehnissen um den Jäger mit dem dunklen Geheimnis gefangen. Ehe er zum Finale der Geschichte überging, erinnerte er sich, wie ihm die Idee zu dieser Geschichte über Nacht gekommen war – als hätte Galates tatsächlich den Traum aus Laskandor selbst zu Kasimir gebracht.
Keiner kann alle Geheimnisse verstehen…

Nachdem er geendet hatte und gerade mit seinem Hut herumgehen wollte, hielten ihn eine Handvoll Rotröcke auf – und wollten ihn mit sich nehmen. Kasimir behielt den verspürten Drang wegzulaufen in Zaum und folgte den Bewaffneten, sollte sich die Sache rasch klären lassen.
Sie führten ihn weg vom wärmenden Feuer und von potenziellen Münzen, die er bekommen könnte – tiefer ins Viertel hinein an die Mauer. Wollten sie verhindern, dass er weglief? Einer, den die anderen ehrerbietig „Ordensmeister“ nannten, drohte in wenig eloquenter Art, dass Kasimir keine „Götzen“ mit seinen Geschichten anrufen, sondern den Herrn des Lichtes preisen sollte. Kasimirs Gesicht jedoch wurde zuerst leer, dann spannte es sich nervös an – ein halb verschmitztes, halb verachtendes Schmunzeln brachte er noch zusammen.
„Ich habe lediglich eine Geschichte erzählt, die keiner von Euren Legionären im Ganzen mitbekommen hat. Einer ist sogar schon davongelaufen, als sie noch nicht einmal begonnen hat.“
Doch der Ordensmeister ließ sich nicht beirren.
„Ihr habt zwei Möglichkeiten. Entweder die nächste Geschichte preist Mithras, oder…“
Weiter kam er nicht, weil ein Kasimir allzu bekannter Wirbelwind in die Mitte der Rotröcke fegte: Lhaki.
Wortlos bleibend sah Kasimir die folgenden Geschehnisse surreal an sich vorbeiziehen. Lhaki, die die Legionäre beschimpfte und ihnen Flüche an den Hals wünschte. Ihre Hand in seiner, als er sie versuchte zur Flucht zu bewegen. Ein Gerüsteter, wahrscheinlich Einar, der von der Mauer mitten in die Rotröcke sprang. Lhakis Hand, die aus Kasimirs verkrampften Fingern rutschte. Ihre zartbunten Schleier, die von feuerroten Wappenröcken verdeckt wurden.
Warum blieben seine Beine nicht stehen? Sie fühlten sich an, als würden sie gleich den Geist aufgeben. Warum ließ er Lhaki und Einar allein und versteckte sich?
Du alter Hasenfuß!

Erst als die Luft rein schien, wagte er sich aus den Schatten der Zelte.
Schwester, wo haben sie dich hingebracht?

[Bild: Lagerfeuer.jpg]
Hinter den Nebeln

Seine Brust schmerzte. Etwas saß auf ihm und schnürte seine Atmung ab.
Im Wagen war es stockdunkel… und doch sah er sich von Männern in wehenden roten Gewändern verfolgt. Rot wie Feuer… Er rannte weg, doch kam er schlecht vom Fleck. Hämische Fratzen, die anklagend den Finger auf ihn gerichtet hatten, umkreisten ihn und versperrten seinen Fluchtweg. Viele Hände packten ihn… er sah die Figuren mit Fackeln fuchteln. Plötzlich war er gefesselt und sie trugen ihn fort. Er versuchte zu schreien. Wasser plätscherte unter ihm und übertönte seine Stimme… Die Meute warf ihn ins Hafenbecken! Er konnte sich nicht wehren – und versank wie ein Stein im modrigen Nass…
Mit Entsetzen bemerkte er seine Schwester Lhaki neben sich leicht im Wasser schweben. Regungslos. Dann bildeten Ihre Züge vor seinen Augen ein fremdartiges Lächeln.
Ihr guten Götter, sie lebt noch!
Er packte sie am Handgelenk – seine Fesseln waren verschwunden – und zog sie in Richtung des gebrochen herab fallenden Lichtes. Als sie durch die Wasseroberfläche brachen, befanden sie sich nicht mehr im Hafen Löwensteins… Sie schwammen in einer milchigen See, vor ihnen baute sich eine kleine, weiße Sandinsel auf. Bis auf ein großes Kohlebecken voll mit einer öligen Flüssigkeit war die Insel leer.
Langsam wateten die beiden an Land und näherten sich dem Becken. Gerade wollte er neugierig die Finger in die Flüssigkeit tauchen, als Lhaki aufschrie. Ein Funke hatte sich auf dem Stoff vor ihrem Bauch festgesetzt… nein, er schein daraus zu entwachsen! Er wollte ihn eilig ersticken, zögerte aber zu lang. Der Funke sprang ab – und landete im Kohlebecken. Eine Flamme leckte stichartig aus dem Öl hervor. Beide starrten wie hypnotisiert in das Feuer und bemerkten nicht, wie eine groß gewachsene weibliche Gestalt, gehüllt in ein Falkenfederkleid, an das Becken herantrat. Sie strahlte eine überirdische Weisheit aus und schien mit dem Feuer zu kommunizieren, indem sie es einfach ansah und beiläufige Handbewegungen vollführte. Als sie die Stimme erhob, zuckten die Geschwister zusammen, wie bei einem Donnerschlag:
„Der Funke des Lebens, gestützt von fünf Pfeilern.“
Er sah unter das Becken und zählte fünf Steine, die ihn am Platz hielten.
„Fällt ein Pfeiler, muss die Flamme in Zerstörung vergehen. Doch durch Fünf kann die göttliche Gabe wachsen.“
In Lhakis Blick schillert es. Er will gerade ansetzen, etwas zu sagen… Da steigt aus der tanzenden Flamme eine kleine Gestalt, ein kleines Mädchen oder junge Frau.
Ah, nicht die Flamme tanzt, sondern sie! Wie in Extase hüpft sie aus dem Becken und wirbelt in einem Kleid aus Frühlingsfarben wild im Kreis herum.
Beim Zusehen befällt ihn ein Schwindel… nun dreht er sich selbst… Wirbel, Tanz, Extase…

Dann schlägt Kasimir die Augen auf und findet sich im dunklen Wagen wieder. Alles ist ruhig – und durch das kleine Loch im Vorhang blinzelt die neugeborene Sonne.

[Bild: ewf6.jpg]