Statt zu schlafen
#1
Rainbow 
Nachts


"Wüste werde ich jenes Schloss nennen, das Du warst.
Nacht jene Stimme und Abwesenheit Dein Gesicht."


Cleo lag wach und das würde sich auch bis zum Morgengrauen nicht mehr ändern. Der grelle, stechende Schmerz, die verbrühte Hand und die beharrliche Abwesenheit jeglicher Reize, die sie abgelenkt hätten, ließen sie nicht zur Ruhe kommen. In der ereignislosen Nacht, die dicht gewoben ein Netz aus Stille und Dunkelheit um sie spannte, schrumpfte ihre Existenz auf einen kleinen, bedeutungslosen Punkt im Nirgendwo und sie schämte sich der Gedanken, die sie auf ihrem Lager heimsuchten. Sie grübelte und irgendwann - Lew begann schon zu erwachen - wurde sie von einem Moment der Klarheit überrumpelt, in dem sich die Ungerechtigkeit ihres momentanen Zustandes ganz deutlich vor ihrem geistigen Auge zu erkennen gab und insgeheim fasste sie einen Beschluss und nahm sich das Versprechen ab, ihn unter allen Umständen umzusetzen.

Am Morgen des nächsten Tages half sie Lew in die Montur, bereitet ihm das spärliche Frühstück aus kaltem Kaffee und hartem Brot und verabschiedete ihn wortkarg. In ihrer Vorstellung saß sie schon am Schreibpult und brachte gedanklich vorgefertigte Worte zu Papier. Sie würde alles genauso sagen und selbst wenn er sie auslachen würde - womit nach sorgfältiger Abwägung aller denkbaren Optionen am ehesten zu rechnen war - würde sie dennoch auf ihrem Standpunkt beharren. Vielleicht wäre es am klügsten ihm diesen Standpunkt überhaupt in seiner schriftlichen Ausführung zu überlassen und dann könnte er gar nicht widersprechen. Sie begab sich also zum Schreibpult und versuchte unter der Korrespondenz von Lew ein leeres Pergament zu finden.

Was sie aber tatsächlich fand war ein unscheinbares Briefpapier auf dem das Wort 'Mietvertrag' aufgemalt war. Ein Mietvertrag? Ihr Blick huschte über die wenigen Zeilen, die ihr verrieten, dass Lew der Mieter eines Kellers unter der Bibliothek war. Ihr eigentliches Vorhaben war vergessen und nun drängten sich Gedanken ganz anderer Natur auf. Wieso, warum, weshalb wusste sie nichts davon und was verbarg der Raum?

Am darauffolgenden Tag kann Lew seine Schlüssel nicht finden ...
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#2



























Morgens


"Wüste werde ich jenes Schloss nennen, das Du warst.
Nacht jene Stimme und Abwesenheit Dein Gesicht."


Auf ihrem Weg durch den Dunst des allmorgentlichen Herbstnebels in den Straßen von Löwenstein spürte sie mit jedem Schritt das kalte Metall des Schlüsselbundes in ihrer Rocktasche. Sie beschleunigte den Gang im Versuch dem schlechten Gewissen zu entkommen, das ihr im Nacken saß und immer dann frech in ihr Gesicht glotzte, wenn sie einen kurzen Blick über die Schultern warf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie dann das Bild von Lew und beobachtete ihn bei seiner Suche nach dem Schlüssel. Sie war hin und hergerissen vom Mitleid, das der Anblick in ihr hervorrief und der Angst vor den Konsequenzen, die auf sie lauerten, sollte er herausfinden, dass sich der Schlüssel über Nacht nicht in Luft aufgelöst hatte. Bevor sie aufgebrochen war hatte sie noch einen Blick in den Spiegel geworfen und die Augen, die ihre Unschuld bezeugen sollten, ihrer Prüfung unterzogen. Nein, er würde sie nicht verdächtigen. Sie hatte noch nie etwas gestohlen und auch den Schlüssel würde sie wieder auf seinen Platz legen, sobald er ihr die Tür zu dem geheimnisvollen Raum unter der Bibliothek geöffnet hatte.

Gebeut von der Last ihres schlechten Gewissens erreichte sie schließlich die Bibliothek und die Treppe, die sie zu besagter Tür führte. Am Ring hing nur ein Schlüssel, den sie nicht kannte und ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken, als sie ihn im Schloss einrasten hörte. Sie betätigte die Klinke, die - wie jede Türklinke, die zu seinem geheimen Ort führte - quietschte und lauschte in die Dunkelheit. Sie hörte Wasser tropften und der kristallklare Klang verriet ihr, dass der Raum leer war. "Ich bins, Cleo!" flüsterte sie in einem Tonfall, der ihr Mut zusprechen wollte und einer etwaig drohenden Gefahr von den guten Absichten des ungebetenen Gastes berichten sollte.

Die Luft war abgestanden, kühl und feucht. Sie verkeilte die Tür und entzündete die Kerze, die sie für den Fall plötzlicher Dunkelheit immer bei sich trug. Die Mauer war vom Boden aufwärts mit Algen überwuchert und sie verscheuchte mit einem kurzen Kopfschütteln den Gedanken an das Frühstück, das ihr am heutigen Tag vorenthalten gewesen war. Am Rand des Lichtkegels zeichneten sich die Umrisse eines ungemachten Bettes ab. Sie trat näher und wie immer, wenn sie ein Bett traf, drückte sie die Handfläche dagegen, um den Grad seiner Weichheit zu ertasten. Wer schlief hier? Sie roch am Laken und die Löcher entpuppten sich als schwarze Flecken, die eingetrocknet waren und das Gewebe des Stoffes spröde gemacht hatten. Sie leckte daran und mit dem Geschmack von Tinte oder Blut auf dem Gaumen hob sie den Blick schließlich und was ihn verstellte beschleunigte ihren Herzschlag, der ihr die aufkeimende Angst bis in die Fingerspitzen pumpte und sie dazu zwang durch den Mund zu atmen. Im flackernden Licht der Kerze erkannte sie aufgehängte Blätter und gemalte Skizzen. Rann das Gehirn aus dem Kopf? Waren das Haare?

Cleo verließ den Raum erst als die Mittagssonne schon ihr blasses Licht über der Stadt ausgoss. Sie war beim Grübeln auf dem Bett eingeschlafen und als sie erwachte, hatten sich ihre Träume und ihr Nachsinnen zu einem Entschluss gebündelt. Bevor sie den Schlüssel auf den Tisch im Keller unter dem Theater zurücklegte, ließ sie ein Duplikat anfertigen. Vielleicht konnte sie etwas über den Raum herausfinden ...




























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#3















Tags darauf


"Ein Stein fällt, weil er schwer ist"


Als sie dann am Morgen des nächsten Tages erwachte, musste sie zu ihrer Überraschung feststellen, dass sie entgegen ihrer ursprünglichen Absicht sofort eingedöst war und anstatt Lew in die Nacht zu folgen, war sie in ihrem Traumland einem weißen Hasen nachgelaufen und konnte nicht verhindern in eine Höhle zu stürzen. Jetzt war sie wieder zurück und Lew schlief friedlich im Bett nebenan. Am Abend zuvor hatte sie den ominösen Mietvertrag erwähnt (und zwar auf eine Weise, die ihr ein gewisses Maß an Respekt gegenüber ihrer eigenen Scharfsinnigkeit abrang) und obwohl sie sicher gewesen war, dass er ihn absichtlich vor ihr verborgen hatte, stellte sich heraus, dass es sich nur um eine - wie er es nannte - unaktuelle Nebensächlichkeit handelte. Sie glaubte ihm. Sie hatte keinen Anlass es nicht zu tun und es wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass er etwas vergaß. Womöglich hatte er den Keller gemietet um ihn als Lager zu verwenden, aber weil das Geschäft in letzter Zeit nicht gut lief, war er leer geblieben. Ja, mit dieser Erklärung fügte sich die Welt wieder in ihre vertraute Ordnung. Sie hatte nun den Schlüssel zu einem vergessenen und von niemandem beachteten Raum und in Anbetracht der allseits grassierenden Platznot wäre es unverantwortlich und geradewegs beschämend gewesen einen Ort wie diesen verwahrlosen zu lassen. Sie würde sich seiner annehmen. Erst als sie schon am Weg zur Bibliothek war drängte sich die Erinnerung an das Bett und die Skizzen auf. Cleo verbrachte den ganzen Vormittag in dem keinen Keller unter der Bibliothek, schlief, spielte und als sie ihn um die Mittagszeit verließ, fühlte sie sich erholt und war guter Dinge.
















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